Category Archives: Biographie

Karl-Ove Knausgård – Leben

Die Arbeiten im Bergwerk der Erinnerungen gehen weiter. Karl-Ove Knausgård steigt abermals tief hinein in seine Biografie und fördert Erinnerungen zutage, die er zu einem dichten Porträt seiner Adoleszenz verwebt.

Leben von Karl Ove Knausgard

Leben von Karl Ove Knausgard

Die Mühen der Kindheit und der Pubertät liegen größtenteils hinter Knausgård (vgl. den Vorgängertitel Spielen), nun gilt es zu leben. Doch dieses Leben startet zunächst gänzlich unspektakulär. Als Lehrer einer kleinen Schule in Nordnorwegen verdingt er sich als 18-Jähriger. Dort erlebt er erste Schritte als Pädagoge, versucht in die Dorfgemeinschaft hineinzufinden und ist von den Frauen in seiner Nähe überfordert.

Während er versucht, in einer Art Zwergenschule seinen Schülern Astronomie oder norwegische Literatur nahezubringen, verdrehen ihm die Frauen den Kopf. Zwar würde er bei diesen gerne einmal zum Zug kommen, doch Knausgårds eigene Unbeholfenheit steht dem im Wege. Während sich die Eltern nach der Scheidung in ihren neuen Leben einrichten, sucht er derweil halt bei Freunden oder exzessiven Feiern. Als Plattenkritiker für eine kleine Zeitung mach er erste Schritte als Schreiber und versucht sich an Kurzgeschichten, um seinem Traum als Schriftsteller näher zu kommen.

Traeumen von Karl Ove Knausgard

Traeumen von Karl Ove Knausgard

Auch Leben ist wieder die schon aus den drei Vorgängerbänden wohlbekannte Melange aus Reflektionen und (fiktionalisierten) Erinnerungen. Die meisten dieser Erinnerungen sind eigentlich das Gegenteil von spektakulär oder überlieferungswürdig, doch gelungen schafft es der Autor, einen Erzählteppich mit großen und kleinen Episoden aus seinem Leben zu weben. Stets nimmt auch das Scheitern und die vergeblichen Mühen des Autors einen großen Raum in seinem Werk ein. Man könnte Knausgårds Schilderungen natürlich als banal oder als Selfie-Prosa schmähen, doch das wird dem Mammutwerk nicht ganz gerecht. Der norwegische Schriftsteller schafft es auch hier wieder mit seinen Erinnerungen diese auch beim Leser loszutreten und ihn ins eigene Erwachsenwerden zurückzukatapultieren. Man erinnert sich an Episoden seiner eigenen Biografie und reist so mit Karl-Ove Knausgård auch ins eigene Bergwerk der Erinnerung hinab. Bislang auf Deutsch übersetzt liegt noch vor: Bd. 5 Träumen

 

 

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Hanns-Josef Ortheil – Die Moselreise

Noch vor seiner Berlinreise unternahm Hanns-Josef Ortheil als Junge bereits schon einmal eine Reise mit seinem Vater. Diese Moselreise führte ihn von Koblenz das Moseltal entlang bis nach Trier, völlig entschleunigt im Juli 1963. Die Adenauer-Jahre beherrschten Deutschland und eine heute gar nicht mehr vorstellbare Langsamkeit hüllte die BRD ein. Hanns-Josefs Vater nimmt sich Zeit für sein Kind und wandert mit ihm in kleinen Etappen die Strecke gen Trier, während die Mutter daheim in Köln weilt.

Die Moselreise von Hanns-Josef Ortheil

Die Moselreise von Hanns-Josef Ortheil

Auch wenn die Mutter nicht aktiv an der Reise teilnimmt, so begleitet sie Vater und Sohn doch beständig, die vielen Postkarten und Gedanken, die Ortheil an seine Mutter schickt, sind im Buch durch Einschübe eingefügt. Das Buch ist genau wie die Berlinreise auch wieder eine Collage aus Postkarten, Texten, Betrachtungen und Exkursen, die der junge Hanns-Josef Ortheil im Nachgang der Reise arrangierte und seinen Eltern schenkte, um sie an seinen Erlebnissen teilhaben zu lassen.

Die jetzige Ausgabe dieser Moselreise ist umgeben von einem Vor- und Nachwort, das das kindliche Reisetagebuch in Ortheils Werdegang als Schriftsteller einordnet. Beeindruckend hierbei ist die Klarsichtigkeit des Autors, der reflektiert das mit seinem Vater Erlebte in seiner Biografie einordnet. Auch rührt die Schilderung der zum zweiten Mal erlebten Moselreise an, die Ortheil noch im Nachwort anfügt. Als sein Vater gestorben war, unternahm der Schriftsteller die identische Reise einmal mehr, auch um sich seines Vaters zu erinnern. Der geschilderte Übergang von Erleben zu Erlebtem und Erinnern ist eindrücklich gelungen. Man liest und staunt über die Präzision und Ortheils und sein schriftstellerisches Geschick, das schon als Kind in ihm angelegt ist.

Ein kindlich, unschuldiges Buch, das die Lust nach einer ebensolch entschleunigten Reise zu wecken vermag!

 

 

 

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Hanns-Josef Ortheil – Die Berlinreise

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Nach der Moselreise veröffentlicht der Schriftsteller und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus hier das zweite Buch aus seiner Kindheit. Nachdem er im Alter von 11 Jahren mit seinem Vater die Moselregion bereiste und in der Folge eine Collage aus Erlebnisbericht, Postkarten und Beschreibungen für seine Eltern anfertigte, tat er dies auch ein Jahr später in Berlin. Analog zur Moselreise collagiert der 12-jährige Hanns-Josef in der Berlinreise auch wieder Eindrücke, die er im Jahr 1964 aus der geteilten Stadt Berlin mitnahm. Über mehrere Tage hinweg durchstreift der Bub zusammen mit seinem Vater die Stadt, bereist Orte aus der Vergangenheit des Vaters und seiner Mutter und unternimmt auch einen Ausflug in den Ostsektor der Stadt.

Langsam fühlt sich Hanns-Josef in die Geschichte der Stadt und die Geschichte seiner Eltern ein. Einfühlsam von seinem Vater betreut erkundet er das Leben seiner Eltern während des zweiten Weltkriegs und erfährt traurige Geschichten seiner Familie, die sein Weltbild gehörig durcheinander wirbeln.

Der Text ist chronologisch in die Tage des Aufenthalts aufgeteilt, eingeleitet werden die Kapitel stets mit Bildern oder Postkarten aus jenen Tagen, die Ortheil während seiner Reise sammelte. Neben den Nacherzählungen seiner Erlebnisse, die er im Nachhinein der Reise arrangierte, wird der Text von Postkarten an seine Mutter unterbrochen, die aufgrund einer Erkrankung in Köln bleiben musste. Zudem ist der Text mit kurzen Einschüben und Betrachtungen des jungen Ortheils angereichert, in denen er seine kindliche Sicht auf bestimmte Dinge schildert, z. B. den Unterschied beim Frühstücken oder Bummeln in Köln und Berlin.

Auch in der Berlinreise lässt sich wieder der hellsichtige junge Beobachter Ortheil erkennen, dessen Talent zum Schreiben und Beobachten auf jeder Seite zu Tage tritt. Gewählt und stilsicher verfasst der 12-Jährige seine Beobachtungen und Collagen und ruft damit Erinnerungen an ein Berlin vergangener Tage wach, in dem die Mauer verlief, die Ausläufer des Wirtschaftswunders zu spüren waren und die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland Bonn hieß.

Der kindliche naive Ton verliert sich hier ein wenig, man merkt die Reifung des Kindes im Vergleich zur Moselreise. Das Volumen dieses Buchs ist mit 288 Seiten schon gewichtiger als Ortheils erster Reisebericht, schafft es aber, genauso anzurühren und den Leser in die vergangene Welt der Kindheit abtauchen zu lassen. Ein literarisches Dokument und der Erlebnisbericht aus einer vergangenen Epoche, der mich in seinen Bann zog und sicher nicht mein letzter Kontakt mit Hanns-Josef Ortheil bleiben wird.

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William Boyd – Die Fotografin

Bilder eines Lebens

Amory Clay ist Die Fotografin. Erneut legt der britische Romancier William Boyd eine Biographie über eine fiktive Persönlichkeit vor, die in ihrem Leben Geschichte erlebte und die Wege von bekannten Persönlichkeiten kreuzte. Ähnlich wie in seinen Romanen Eines Menschen Herz oder Nat Tate setzt er aus den Schlaglichtern des turbulenten und polyphonen 20. Jahrhunderts eine Geschichte zusammen, in der der Fotografie und bestimmten Bildern eine tragende Rolle zukommt.

War die Kunst im Opus William Boyds schon immer ein zentrales Motiv, so findet auch hier die Kunst den Weg ins Buch – in der Form von zahlreichen Fotos, deren Urheberin Amory Clay sein soll. Diese geht als junge Frau in England ihren Weg, indem sie trotz Bedenken ihren Wunsch, Fotografin zu werden, in die Tat umsetzt. Unzufrieden mit ihrem Dasein als Gesellschaftsfotografin beschließt Amory, ins Berlin der 30er Jahre aufzubrechen.

In der brodelnden Stadt entdeckt sich die Fotografin selbst, konzipiert eine Ausstellung mit skandalösen Fotos aus Berliner Clubs und wird prompt polizeilich dafür belangt. In der Folge werden Amerika, London und der Vietnamkrieg zu Wegmarken in ihrem Leben, immer mit der Hand am Auslöser ihrer Kamera.

Doch nicht nur das Weltgeschehen erlebt Amory am eigenen Leib, auch bekannte Menschen werden immer wieder ihre Bahnen kreuzen und ihrem Leben immer wieder neue Impulse geben, während sich Amory als Frau behaupten muss und ihren Kampf um Selbstbestimmung führt.

Ein klassischer Schöker aus der Feder Boyds

William Boyds Fotografin ist wieder ein klassischer Schmöker, der die Brandherde des 20. Jahrhunderts beleuchtet und den Leser mitten ins Getümmel von Vietnam oder dem Zweiten Weltkrieg mitnimmt. Nebenbei ist der Roman auch eine Geschichte der Emanzipation und hat mit Amory eine komplexe Persönlichkeit zur Heldin, die sich gängigen Konventionen verweigerte.

Was diesem Roman etwas fehlt ist der Wille zu einer eigenen Inszenierung oder Ästhetik. Zwar montiert Boyd in seine chronologisch erzählte Handlung ab dem Jahr 1908 noch das Barrandale-Journal, das im Jahr 1977 spielt und eine Art Retrospektive auf Amory Clays Leben darstellt, doch dies funktioniert nur bedingt. Boyds Erzählweise ist reichlich brav und konventionell. Eine aufregendere literarische Behandlung für das aufregende Leben der Amory Clay hätte dem Buch gut getan. Wie man eine fiktive Biografie ungewöhnlich und fordernd erzählt, dies hat zuletzt beispielsweise Jane Gardam in ihrem Roman Ein untadeliger Mann literarisch bravouröser gelöst.

Davon abgesehen ein typischer Schmöker aus der Feder von William Boyd, der abseits der bekannten historischen Leuchtfeuer auch unbekanntere Aspekte wie etwa die Aufstände von britischen Faschisten vor dem Zweiten Weltkrieg behandelt. Ein Buch, ein Leben, viele Fotos – William Boyd hat wieder zugeschlagen!

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Joachim Meyerhoff – Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke

Lücken des Lebens

Meyerhoff No. 3

Meyerhoff No. 3

Mit Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke stellt Joachim Meyerhoff sein Faible für ungewöhnliche und sperrige Buchtitel nun bereits zum dritten Mal unter Beweis. Dieser dritte Teil seines autobiographischen Romanzyklus‘ Alle Toten fliegen hoch verhandelt nun nach dem seinem Schüleraustausch in Amerika und seiner Kindheit auf dem Gelände einer Psychiatrie in Norddeutschland (Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war) seinen Werdegang als Schauspieler.

Im Alter von 19 Jahren beschließt Meyerhoff aus seiner norddeutschen Existenz auszubrechen und sein Glück am anderen Ende der Bundesrepublik zu suchen. Nachdem er an der Otto-Falckenberg-Schauspielschule seine Aufnahmeprüfung besteht, zieht er bei seinen Großeltern in deren Villa in Nymphenburg ein. Fortan ist sein Leben bestimmt vom Drill der Schauspielerausbildung und den präzisen alkoholischen Ritualen bei seinen Großeltern – oder wie Meyerhoff es formuliert:

„Alkohol spielte im Leben meiner mondänen Großeltern eine wichtige, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle.“ (S. 98)

Genau getaktet sprechen seine Großeltern dem Hochprozentigen zu, während der junge Joachim derweil versucht, in die Fußstapfen seiner schauspielerisch begabten Großmutter zu steigen.

Lücken, wohin man blickt

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