Mondschein liegt um Meer und Land
dämmerig gebreitet,
in den weißen Dünensand
Well‘ auf Welle gleitet.Unaufhörlich bläst das Meer
Hauptmann, Gerhart: Mondscheinlerche
eherne Posaunen;
Roggenfelder, segenschwer,
leise wogend raunen.
Manchmal braucht es etwas länger, bis ich ein Buch aus meinem Regal in die Hand nehme und lese. Ich will es unbedingt zu einer bestimmten Zeit lesen, komme dann nicht dazu, sortiere es erst in den Bücherstapel, irgendwann ins Regal – und die mögliche Lektüre verschiebt sich immer wieder. Auch Lutz Seilers Debütroman Kruso fiel bislang in diese Kategorie. 2014 einmal zur Besprechung erhalten, verharrte es doch bis jetzt ungelesen in meinem Regal. Und das, obwohl Seiler 2014 sogar den Deutschen Buchpreis für seinen Erstling erhielt.
Doch nun war die Zeit gekommen. Vor kurzem las ich das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse gekrönte Stern 111. Nachdem mir die Lektüre gekonnt ein Zeifenster ins Ostberlin des Jahres 1990 auftat, entsann ich mich des Seiler’schen Debüts, das so lange geduldig auf mich gewartet hatte. Würde es dem Buch gelingen, meine hohen Ansprüche, die Stern 111 bei mir geweckt hatte, einzulösen? Ja! Denn Seiler schafft hier schon einmal etwas, was er im zweiten Roman seines Lebens noch vergrößern sollte: ein sprachmächtiges, genau beobachtetes und mit Worten gebanntes Bild einer Welt im Umbruch. Eine starke Milieugeschichte, eine Hiddensee-Hommage und eine Vermessung der DDR in ihren letzten Tagen.
Willkommen auf Hiddensee
Hiddensee. Das birgt schon das Verborgene, Versteckte, das der Welt Enthobene im Namen. Hidden. Das scheint auch für Ed Bendler genau das Richtige zu sein. Denn er will weg. Seine Freundin hat er auf tragische Art und Weise verloren, der Halt in seiner bisherigen Welt ist ebenfalls nicht mehr gegeben. Und so sehnt er sich nach Entgrenzung und dem Ausbrechen aus der bisherigen Welt. Als geeignete Destination für sein Unterfangen erscheint ihm die Insel Hiddensee.
Diese im Westen von Rügen gelegene Insel faszinierte schon einst Gerhart Hauptmann, der auf ihr ein Domizil bezog. Auch schrieb er bei seinem ersten Aufenthalt auf der Insel jenes eingangs zitierte Gedicht Mondscheinlerchen als Hommage an die Insel. An ihrer dünnsten Stelle nicht einmal 250 Meter messend, liegt sie in der Ostsee wie ein dünner Strich, der sich zum Süden hin verjüngt. Carl Zuckmayr, Asta Nielsen, Hans Fallada, Gottfried Benn – sie alle zog es nach Hiddensee. Doch nicht nur sie.
Auch für Aussteiger – und den Tourismus der DDR war Hiddensee gelobtes Land oder vielmehr gelobte Insel. Beide Gruppen finden im legendären Ausflugslokal Zum Klausner zusammen, auf dessen Terrasse sich im Sommer die Arbeiter*innen der DDR tummeln. Während sie auf der Terrasse die Aussicht genießen und es sich gut gehen lassen, wird drinnen im Klausner unter Hochdruck geschuftet. Zwischen Blauer Würger, Jägerschnitzel und Exlepäng-Duft hasten die Kellner hinter her, brutzelt der Koch und fließt der Schweiß.
Kruso trifft seinen Freitag
Ed wird bald ein Teil der Arbeiterbrigade und verdingt sich als Spüler. Zusammengehalten wird die Mannschaft von ihrem Fixstern Alexander Krusowitsch, genannt Kruso. Ein Hiddenseer Urgestein, das die Inseleinsamkeit schon im Namen trägt. Doch dieser Kruso ist so einsam gar nicht, vielmehr sorgt er für den Zusammenhalt der Saisonarbeitskräfte, Esskaas getauft. Er organisiert das alljährliche Fußballturniert und kümmert sich um die Unterbringung der gestrandeten Aussteiger und Gäste, für die Hiddensee nur eine Station ihrer Reise weit weg ist.
Mit Ed trifft Kruso seinen ganz eigenen Freitag. Dieser Mann, der mit Geschick und Präzision den Klausner am Laufen hält, verstopfte Ausflüsse geschickt zu reinigen weiß und immer vom Nimbus des Geheimnisvollen umgeben ist, er fasziniert Ed. Und auch umgekehrt scheint zwischen beiden Figuren die Chemie zu stimmen. Wie bei einer der dutzendfach im Buch verspeisten Zwiebeln öffnen sich allmählich die Schichten der beiden Charaktere. Kruso und Ed fassen Zutrauen zueinander und erzählen sich die Geschichten des Lebens.
Wobei die deutlich interessantere Figur die des Kruso ist, nicht nur aufgrund der Mehrzahl an gelebten Jahren. Die Brüche in seiner Biographie, die untergründigen Geheimnisse, sein Wirken auf der Insel. Mit diesem Kruso hat Seiler eine faszinierende Figur geschaffen, die aufgrund ihrer Undurchsichtigkeit auch nach der Lektüre bei mir als Leser blieb.
Drei Komponenten guter Literatur
Die Figur Kruso ist eine der Komponenten, die aus diesem Buch ein starkes Stück Literatur machen. Die zweite Komponente ist die Insel Hiddensee selbst und die Sprachmacht, mit der Seiler diese schildert. Ihre Vergangenheit, ihr soziales Gefüge, ihre Schönheit. Kruso ist auch eine Verneigung vor diesem flächenmäßig nicht großen, dafür aber umso geschichtsträchtigeren Eiland
Und die dritte Komponente, die aus Kruso ein so starkes Stück macht, ist die Doppelbödigkeit der Erzählung. Denn natürlich ist die Insel und der Klausner nur ein Symbol für die Deutsche Demokratische Republik. Während am Beginn des Romans noch alles verlockend und idyllisch erscheint, bröckelt die Steilküste, der Zusammenhalt und das System Klausner immer mehr. Bis hin zum reichlich enervierend und gestreckten Ende, bei dem dann nur noch Ed als letzter Inselbewohner im Klausner verharrt, ist der Roman immer eine Blaupause des Niedergangs der DDR. Auch wenn mich dieses gestreckte Ende und die immer stärker werdende Einöde und Monotonie gegen Ende zusehends anstrengten, ist das natürlich auch literarisch gut gefügt.
Eine Ende mit Twist
Mir gefällt auch die Idee, im Epilog noch eine ganz andere (oder eher einen anderen Aspekt der) Geschichte mitzuerzählen. So bekommt das Buch nochmals ein Mehr an Tiefe und lässt Vorwürfe, hier würde nur eine vergangene Geschichte erzählt, ins Leere laufen.
Auf eine schöne Ergänzung der Lektüre sei an dieser Stelle noch hingewiesen. Der Suhrkamp-Verlag hat zusammen mit Lutz Seiler dieses Video produziert, das an die Schauplätze des Romans nach Hiddensee entführt und in dem Seiler Einblick in seine Poetologie gewährt:
Bildquellen. Cover By BK1950 – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=81813975
Video: Suhrkamp-Verlag