Tag Archives: Deutscher Buchpreis 2023

Terézia Mora – Muna oder Die Hälfte des Lebens

Was kannst du anderes sein, wenn es doch nichts gibt, wohin du zurückkehren kannst?

Terézia Mora – Muna

In ihrem neuen Roman seziert Terézia Mora die eine Hälfte einer toxischen Liebe – und die Hälfte des Lebens ihrer Heldin. Beeindruckende Lektüre, die ganz tief hineingeht in ein Beziehungsgefüge und einer Anziehung nachspürt, für die es keine rationale Erklärung gibt.


M. Otto, so ist ein Foto signiert, das der Schülerin Muna bei ihrer ersten Redaktionssitzung eines kleinen Untergrundmagazins ins Auge fällt. Sie, die sie eigentlich Redakteurin werden möchte, findet nach einem absolvierten Praktikum bei der Zeitung ihres Heimatstädtchens Jüris Aufnahme beim Dreimannbetrieb des Magazins, wo sie Texte beisteuern soll und zum ersten Mal der Fotografien des mysteriösen M.Otto ansichtig wird. Hinter dem Pseudonym des Fotografen verbirgt sich Magnus Otto, der als Lehrer am Französischen Gymnasiums arbeitet.

Eine Faszination namens Magnus

Schon diese ersten Fotos lösen in Muna eine große Neugier und Faszination aus. Die Statuen, die auf den Fotos zu sehen sind, befinden sich an versteckten Plätze ihrer ostdeutschen Heimatstadt Jüris – und Muna beschließt, die Orte aufzusuchen, um dem Fotografen so näherzukommen. Doch nicht nur die Kunst Magnus Ottos fasziniert sie – auch die Person selbst ist es, die vom ersten Moment an im Fokus ihrer Aufmerksamkeit steht.

Terézia Mora - Muna oder Die Hälfte des Lebens (Cover)

Muna, die als Tochter einer stark dem Alkohol zuneigenden Schauspielerin mit Engagement am Theater Jüris ohne Vater aufwächst, sucht in Magnus einen Seelenverwandten, dem sie in der Folge immer wieder begegnen wird. Nach einem Suizidversuch ihrer Mutter so gut wie alleine auf der Welt, projiziert sie ihren Wunsch nach Bindung auf Magnus.

Während sie der Schule entwächst und später zum Studium nach Berlin aufbricht, nach dem Mauerfall dort und in vielen weiteren Städten, darunter London, Wien und später auch in Basel leben wird, ist Magnus stets präsent, ob anwesend oder abwesend.

So beginnen die beiden eine Beziehung – oder vielleicht sollte man besser von einer Affäre sprechen. Magnus verschwindet aus ihrem Leben, um Muna dann wieder bei einer anstrengenden Theateraufführung in Berlin zufällig zu begegnen, wo er ebenfalls im Publikum sitzt. Sie probieren, an ihre Beziehung/Affäre anzuknüpfen, doch die Zeichen stehen dafür nicht gut. So antwortet Magnus auf das Begehren Munas mit Rückzug und Flucht – entzieht sich ihr immer wieder – und begegnet ihrem Wunsch nach Nähe auch mit Gewalt, was Muna in ihrem Wunsch aber nicht abschreckt.

Liebe, Gewalt, Anziehung und Abstoßung

Um ihrem akademischen Freund auf Augenhöhe zu begegnen, strebt Muna derweil ebenfalls eine akademische Karriere an, studiert, arbeitet in einem Verlag in Wien für die Wiederentdeckung vergessener Autorinnen, versucht eine Dissertation voranzutreiben – und doch ist die Beziehung von Magnus und Muna eine, die nie auf Augenhöhe stattfinden wird.

Das seziert Terézia Mora in ihrem Roman ganz deutlich. Eng ist man dran an der Erzählerin Muna, die sich nach Magnus verzehrt, ihn an sich binden möchte und so auch nie wirklich von ihm loskommt – er ist eine Hälfte ihres Lebens, dem sie auch eine ganze Hälfte ihres ganzen Lebens schenken wird.

Immer wieder beherrschen Gedanken an ihn ihre Überlegungen, lenken sie von ihrem eigenen Vorankommen ab und verheißen ihr die Illusion einer Zukunft, die es so nicht geben wird.

Schläge, Aggression, schließlich sogar körperlicher Abbau und ein gefährlich naher Schritt an den Abgrund des Wahnsinns – all das löst dieser Magnus in Muna aus, womit man eigentlich alle Anzeichen einer toxischen Beziehung beisammen hat. Es ist eine gefährliche Beziehung, die Muna zwar nicht guttut, von Terézia Mora aber absolut nachvollziehbar und plausibel geschildert wird.

Eine toxische Beziehung

Wie kommt es zu einer solchen Beziehung, in der man selber nicht mehr für sein Glück entscheidend ist, sondern der Gegenüber? Was bleibt, wenn man sein Leben auf ein Gegenüber ausgerichtet hat, das den eigenen Erwartungen und Hoffnungen immer wieder zuwiderläuft? Das sind Überlegungen, die hinter Terézia Moras Muna oder Die Hälfte des Lebens aufscheinen.

Die Welt Munas mitsamt dem Aufwachsen im kleinbürgerlichen Jüris hinter dem Eisernen Vorhang, der Aufbruch nach Berlin und das gemeinschaftliche Leben in einer Villa, der akademische und literarische Betrieb, all das ist treffend und sehr genau gezeichnet. Der zentrale Punkt des Romans aber – also die Motivation der Anziehung Munas hin zu Magnus – bleibt dabei leer.

Das ist die große Stärke dieses Romans, der auf einfache Antworten und Charakterisierungen verzichtet. Der sich entziehende Magnus, der Gewaltexzess in der Beziehung der beiden, Muna, deren Verehrung von Magnus‘ und deren Hinterherlaufen geradezu an eine hündische Verehrung grenzt, das alles wird durch Munas Erzählperspektive ungefiltert erzählt und lässt manchmal einen möglichen korrigierenden Eingriff durch die Leser*innen notwendig erscheinen, der freilich ausbleiben muss. Es ist ein Roman, der all der weiblichen Selbstermächtigung, die in letzter Zeit verstärkt auf dem Buchmarkt präsent war, entgegenläuft und so einen ganz eigenen Ton entwickelt.

All das macht aus Muna oder Die Hälfte des Lebens eine wirklich eindrückliche Angelegenheit, was auch die Nominierung für die Shortlist des Deutschen Buchpreises folgerichtig erscheinen lässt.


  • Terézia Mora – Muna oder Die Hälfte des Lebens
  • ISBN 978-3-630-87496-8 (Luchterhand)
  • 448 Seiten. Preis: 25,00 €
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Luca Kieser – Weil da war etwas im Wasser

Dass sich Oktopusse faszinierende Wesen sind, das bewies zuletzt Sy Montgomery in ihrem Buch Rendezvous mit einem Oktopus, in dem sie literarisch ihrer Faszination für die Tiere nachspürte und das zu einem Bestseller avancierte. Im Debüt des Tübingers Luca Kieser ist es nun ein Oktopus selbst, der erzählt – beziehungsweise seine Arme. So entsteht ein vielstimmiges, postmodernes Werk, das inhaltlich wie auch stilistisch so vielfältig ist, wie es die erzählenden Arme des Kraken selbst auch sind. Weil da war etwas im Wasser.


Es gibt da eine Szene in der Mitte des Romans, da liegt der Oktopus im Widerstreit mit sich. Unter Wasser ringen seine Arme, die auf Namen wie „Süßer Arm“ oder „Schüchterner Arm“ hören, um die weitere Richtung, in die man sich unter Wasser bewegen soll. Während einige Arme die eine Richtung bevorzugen, sind es die anderen seiner insgesamt acht Arme, die die entgegengesetzte Richtung einschlagen. Ebenso wie die Gliedmaßen mit sich um die richtige Richtung ringen, sind es auch die Erzählungen im Buch selbst, die sich teilweise überlagern und miteinander im Wettstreit liegen. So entsteht ein postmodernes Werk, das ebenso eine Familiensaga wie Naturewriting, ökologisches Sachbuch wie Autofiktion in sich vereint.

Auslöser des Erzählstroms ist der Kalmar, der unter Wasser ein Tiefseekabel ertastet. Die verschiedenen Arme, beginnen nun zu reagieren und erzählen die Geschichte ihrer Arme, was in ihrer unbändigen Erzähllust zu einem Ansinnen wird, das die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Lesers benötigt.

Erzählende Arme

Luca Kieser - Weil da war etwas im Wasser (Cover)

Denn die Arme wechseln sich in ihren erzählerischen Strängen immer wieder ab und führen die einzelnen Episoden abwechselnd fort. Genauso fallen sie sich aber auch ins Wort, schreien geradezu nach Aufmerksamkeit, wenn sie sich mithilfe von Fußnoten zu Wort melden und die Leser*innen auf ihre eigene Geschichte verweisen, die an anderen Stellen im Buch einsetzen. Mal führt das Erzählen des einen Arms in letzter Konsequenz zu einer Globuliverarbeitung, mal berichtet ein Arm vom Krill und den Abhängigkeiten der ökologischen und insbesondere maritimen Systeme, was auch Alexander von Humboldt mit Stolz erfüllt hätte.

Von Jules Verne über die Schwäbische Alb bis zum Weißen Hai führen die Erzählungen der mitteilungsfreudigen Arme, die mit ihrem Erzählern an manchen Stellen geradezu im Wettlauf miteinander zu liegen scheinen.

Was sich nun auf dem Papier nach einem wilden Durcheinander anhören mag, weist aber doch immer wieder verbindende Elemente auf. Die meisten der Fäden münden in der Figur von Sanja, einer jungen Frau, die auf einem großen Fischtrawler ein Praktikum ableistet und Tagebuch führt. Dabei spielt ihr familiäres Erbe genauso eine entscheidende Rolle wie die Krillsammeltätigkeit des Trawlers, der der Schriffscrew den von Sanja „Ariel“ getauften Riesenkalmar ins Netz spült.

Alles ist miteinander verbunden, die Begegnung eines Matrosen vor hunderten von Jahren führt letztendlich bis zum Schiffspraktikum, das Sanja dann aufs Meer bringt. Nur ein Beispiel der großen Zusammenhänge, die Luca Kieser auf persönlicher Ebene neben die der ökologischen Pfadabhängigkeiten setzt (und die auch eine abermalige Lektüre interessant erscheinen lassen)

Erzählerische und ökologische Netze

Hätte ich persönlich auch manche postmoderne Finte wie die reichlich urologisch geprägte Autofiktion des „Spanischen Kragens“ nicht unbedingt gebraucht, entschädigt dann doch das wirklich gelungen jugendlich daherkommende Tagebuch Sanja wieder für die ein oder andere Finte zu viel, die Kieser in seinem Debüt schlägt.

Es ist ein vielstimmiger und inhaltlich wie stilistisch genresprengender Roman, mit dem es Kieser aus dem Stand auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis 2023 geschafft hat. Schon zuvor hatte er mit einem Auszug aus dem Buch den FM4-Wortlaut-Wettbewerb gewonnen, ehe nun gleich der ganz große Aufmerksamkeitsschub für sein außergewöhnliches Erzählwerk folgte.

Vom Erfinder des Weißen Hais bis zu Sindbad, von einer Phimose bis zum Blick in die Erzählwerkstatt des Autors reicht das erzählerische Netz, das Kieser über uns wirft, das wiederum von ökologischen Netzen, unserer Verstrickung in Gegenwart und Vergangenheit und vom großen Ganzen erzählt, das sich erst einmal hinter einem Erzähldurcheinander verbergen mag, dann aber klarer zutage tritt. Eben so wie der Sand, den Wasserströmungen am Boden aufwirbeln mögen, der sich aber dann auch wieder setzt und klare Sicht ermöglicht, Weil da war etwas im Wasser!


  • Luca Kieser – Weil da war etwas im Wasser
  • ISBN 978-3-7117-2137-2 (Picus)
  • 320 Seiten. Preis: 26,00 €
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Das Deutscher Buchpreis-Lotto 2023

Zu den Traditionen auf diesem Blog zählt schon seit einigen Jahren das Tippen möglicher Titel, die es auf die Nominierungsliste des Deutschen Buchpreises geschafft haben. So auch dieses Jahr, in dem wieder das Deutscher Buchpreis-Lotto wage. So sind es folgende Bücher, denen ich Chancen ausrechne, dass sie die Jury des Deutschen Buchpreises 2023 vielleicht berücksichtigt.

Dabei ist es nicht unbedingt eine Liste mit Lieblingsbüchern, einige der Titel würde ich in meine persönliche Auswahl zum Buch des Jahres nicht unbedingt aufnehmen. Aber wie das bei einem Lotto so ist – eine abgewogene Mischung aus Intuition und Vermutung ergibt diese Liste, die eine ziemliche ziemliche Österreich-Lastigkeit aufweist und auf der sich viele Titel rund um die boomenden Themen der Mutter- und Vaterschaft drehen. Auch Climate Fiction, migrantische Erfahrung und historische Rückschau dürfen hier natürlich nicht fehlen. Alles spekulativ wie immer, aber das ist ja seit jeher integraler Bestanddteil dieses Buchpreis-Lottos. Nun Vorhang auf für meinen literarischen Tippschein:

Und hier noch einmal die Bücher in einer Titelliste. Bereits auf dem Blog vorhandene Besprechungen sind hervorgehoben, unverlinkte Titel erscheinen in den nächsten Tagen noch ausführlicher hier auf dem Blog.

Gibt es Bücher, die für euch gesetzt sind oder die ihr euch auf der Longlist wünscht? Schreibt es gerne in die Kommentare – ich bin gespannt!

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