Tag Archives: Flüchtlingskrise

Adam LeBor – District VIII

Ein ungarischer Ministerpräsident, der nach Gutsherrenart regiert und für seinen eigenen Machterhalt über Leichen geht? Der langjährige Ungarn-Korrespondent Adam LeBor zeichnet in seinem Krimi District VIII ein ungeschöntes Bild der Zustände in Ungarn, erinnert an die Anfänge der „Flüchtlingskrise“ 2015 und schickt einen neuen Ermittler auf die Straßen Budapests.


Balthazar Kovács heißt dieser Ermittler, der als Kriminalbeamter bei der Budapester Mordkommission seinen Dienst versieht. Eine anonyme SMS lockt ihn am Morgen des 4. September 2015 zur Grenze des VIII. Bezirks in der Nähe des Platzes der Republik. Dort auf einem verlassenen Grundstück sollte sich eigentlich eine Leiche befinden. Doch als Kovács den Tatort betritt, ist die Leiche verschwunden. Lediglich eine SIM-Karte kann er an dem potentiellen Ort eines Verbrechens ausmachen, das ist alles.

Ein kleiner Roma-Junge aus dem VIII. Bezirk gibt Kovács einen Hinweis, doch dann tauchen schon Mitglieder der Gendarmerie auf, die den Tatort als den ihrigen reklamieren. Anführer der Gruppe ist Kocács´ ehemaliger Kollege Attila Ungar, der den Budapester Mordermittler bedroht und einschüchtern möchte. Doch das lässt sich der sture Kriminalbeamte nicht sagen, sein Instinkt in Sachen Verschleierung von größeren Ungereimtheiten ist geweckt. Und so beschließt er gegen die Order der omnipräsententen Gendarmen nach Rücksprache mit seinem Chef eine geheime Ermittlung durchzuführen.

Schnell stellt sich heraus, dass der Ermittler mit Romnja-Wurzeln hier in ein Wespennest gestochen hat. Denn Spuren zum Verbrechen führen zu seiner eigenen Familie, die den VIII. Bezirk in Budapest kontrolliert. Spuren führen aber auch zum Keleti-Bahnhof, in dem tausende Geflüchtete ausharren, darunter auch die Familie des Ermodeten, der aus Syrien geflohen war. Und auch die Politik mischt kräftig in der Sache mit, allen voran die Justizministerin Réka Bardossy und der skrupellose ungarische Ministerpräsident Pal Pálkovic, der seine Finger im Spiel zu haben scheint.

Ein Krimi mit einigen Themenkomplexen

District VIII ist ein Krimi, der einige Themenkomplexe beackert. Da ist zum einen die Thematik der Flüchtlingskrise, die sich im September 2015 durch das Agieren des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban zusehends verschärfte, bis sich Deutschland zur Aufnahme der Geflüchteten entschied. Mit seinem Krimi ruft Adam LeBor die Erinnerungen an die Geschehnisse und Bilder aus dem Keleti-Bahnhof in Budapest noch einmal wach.

Adam LeBor - District VIII (Cover)

Zudem möchte der britische Auslandskorrespondent auch über die rechtspopulistische (nepotistische, autokratische und in Teilen antisemitische) Regierung Viktor Orbans erzählen, die er hier mithilfe eines fiktiven Doppelgängers des ungarischen Ministerpräsidenten bis hinein ins tiefkriminelle Milieu überdehnt. Denn sein Präsident Pal Pálkovic zieht hier die Strippen, hat mithilfe seiner Prätorianergarde, den ermächtigten und Sonderbefugnissen ausgestatteten Gendarmen, ein kraftvolles Instrument zur Umgehung des Rechts und der Gewaltenteilung bei der Hand und fungiert als Dealer für illegale Pässe und EU-Mitgliedschaften. All das muss Balthazar Kovács erkennen, wobei Adam LeBor einen multipersonalen Erzählansatz wählt, um die ganze Verkommenheit des politischen Machtapparats zu zeigen, der mit Schleusern und Kriminellen gemeinsame Sache macht.

Neben diesen beiden großen Themenkomplexen ist es auch noch die Herkunft Balthazar Kovács aus dem Romnja-Milieu, das in District VIII eine große Rolle spielt. Denn der titelgebende Bezirk ist der mit den meisten Romnja in ganz Budapest – und auch Balthazar selbst ist Teil dieser ethnischen Minderheit, wenngleich ihn sein Job zu einem Paria seiner Familie gemacht hat.

Ein Ermittler mit Romnja-Hintergrund

Das Leben der Romnja, ihr sozialer Codex und das Miteinander dort im achten Bezirk schildert LeBor in einigen Erklärpassagen, wie es überhaupt einige solcher Erklärexkurse im ganzen Buch gibt. Denn District VIII zeigt klar die Herkunft des Autors als Journalist, der mithilfe der fiktiven Politik-Doppelgänger seine Erfahrung über die aktuelle ungarische Politik unter Viktor Orban in seinen Roman einfließen lässt.

Das klappt manchmal prima, bisweilen holpert der Erzählfluss aber auch etwas und könnte ab und an eine etwas ordnende Hand gebrauchen könnte. So sind die Themenkomplexe und vielen Figuren nicht immer ganz organisch miteinander verbunden beziehungsweise bleiben auch etwas erwartbar, etwa wenn eine der Hauptfiguren, die Investigativjournalistin Eniko Szalay früher einmal mit Balthazar liiert war ehe sie für kurze Zeit nach London ging. Nun arbeitet sie aber im Zuge der verschwundenen Leiche des Flüchtlings aus Syrien wieder mit diesem zusammen und das Ergebnis dieser Zusammenarbeit sollte eine*n nicht wirklich überraschen.

Auch ist die Titelgebung des 2017 im Original erschienen Krimis etwas inkonsistent, wenn doch die Übersetzung im Buch beharrlich (und im Deutschen deutlich idiomatischer) vom VIII. Bezirk spricht, der Titel dann aber vom District VIII kündet.

All das sind so kleine Ecken und Kanten bei einem gesellschaftspolitisch spannenden Krimi, die sich mit der Routine kommender Titel in meinen Augen durchaus abschleifen könnten. Zu den gelungensten Aspekten des Buchs zählt in meinen Augen die Schilderung der Vorgänge am Keleti-Bahnhof – und auch Balthazar Kovács hat als Charakter durchaus Potenzial für die kommenden Bände.

Fazit

So liefert Adam LeBor in District VIII Einblicke in ein Ungarn zur Zeit der „Flüchtlingskrise“ 2015 und zeigt ein politisches Budapest voller krimineller Energie, von Kopf bis Fuß im Morast des Unrechts steckt und das auch vor Gewalt nicht zurückschreckt und bei dem aufrechte Polizisten und Investigativjournalistinnen mit viel Kraft ihre Kämpfe fechten müssen.


  • Adam LeBor – District VIII
  • Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
  • ISBN 978-3-948392-66-6 (Polar)
  • 400 Seiten. Preis: 26,00 €
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Emmanuel Carrère – Yoga

Sorgt Yoga für Ausgeglichenheit, Unbeschwertheit und einen ruhigen Geist? Wenn man Emmanuel Carrères Schilderungen in Yoga nachverfolgt, dann könnte man an dieser Hypothese deutlich zweifeln. Denn in seinem ebenso radikalen wie erschütternden Bericht offenbart sich Carrère als Suchender, den Yoga nicht vor dem Fall in psychische Abgründe beschützen konnte.


Gerade einmal zwanzig Prozent unserer Gedanken sind es, die wir auf die unmittelbare Gegenwart richten. Die übrigen 80 Prozent sind Abschweifungen, die uns in die Vergangenheit und Zukunft blicken lassen, aber sicher einer Verhaftung im Hier und Jetzt entziehen. So zitiert Emmanuel Carrère den Buddhisten Chögyam Trungpa, dessen Worte Carrère während einer Meditation in den Sinn kommen und damit gleich eindrücklich den Beweis liefern, dass an der These etwas dran sein könnte.

Yoga und Terror

Emmanuel Carrère - Yoga (Cover)

Denn obwohl Carrère im Yogaretreat Vipassana zu Ruhe und Harmonie finden will, ist es mit der Ruhe im Geist und der reinen Konzentration auf das Sein in der Gegenwart nicht weit her. Schon an seinem zweiten Tag im Yogaretreat wird Carrère durch eine schlechte Nachricht aus der selbstgewählten Isolation gerissen – und schon sind sie wieder da, die 80 Prozent der dauerkreisenden Gedanken, die er eigentlich abstreifen wollte. Und nicht nur der Aufenthalt dort im Retreat endet, auch das meditative Yogabuch, das er eigentlich verfassen wollte, bricht ab. Das ist trotz der Ankündigung zu Beginn des Buchs in seiner Heftigkeit ein Schock. Denn es kommt noch schlimmer.

Nach dem Terroranschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo, der sich während Carrères Aufenthalt in Paris ereignet hat, kommt auch ein Freund des Schriftstellers ums Leben. Eine manische Phase des Schriftstellers endet mit einem viermonatigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, Elektroschocktherapie inklusive. Und schließlich landet Carrère auf der griechischen Insel Leros, wo er mit dem Elend der europäischen Flüchtlingspolitik konfrontiert wird.

Ein Buch über Yoga und kein Buch über Yoga

Yoga ist ein Buch über Yoga und zugleich überhaupt kein Buch über Yoga. Wer würde schon einen intimen Bericht aus dem Inneren einer psychiatrischen Anstalt oder die Schilderung von Flüchtlingsschicksalen in einem Buch namens Yoga erwarten? Trauer, Tod und Sehnsucht sind starke Elemente in diesem Buch. Elemente, die man gemeinhin wenig mit Yoga assoziiert, steht es doch eigentlich zumindest im breiten Bewusstsein für Ausgeglichenheit und Harmonie.

Und doch ist die verbindende Klammer auch in den scheinbar völlig disparaten Momenten des Buchs, die nur durch Carréres radikale Subjektivität zusammengehalten werden, Yoga. Beziehungsweise die Philosophie dessen, etwa wenn er immer wieder vritti ausmacht, die Ströme des Bewusstseins, die sein Leben beeinflussen und auf ihn einwirken. Oder wenn er am Strand von Leros mit jungen Geflüchteten Tai-Chi praktiziert und nach Erfüllung und Sinn sucht. Stets findet er Rückhalt in der Theorie des Yoga, auch wenn hier Dinge wie Trainingsmatten oder Entspannungsgong kaum vorkommen. Zum Glück, wie ich finde.

Denn auch, wenn man mit Yoga nichts anfangen kann, einem auch der Gedanke von Spiritualität denkbar fern liegt, so gelingt es Carrère doch, seine Faszination, die ihm Yoga und dessen Theorie verheißt, glaubhaft zu vermitteln. Darüber hinaus ist das Buch auch das Dokument – oder besser die Meditation – eines Kreisens um die Frage nach Ruhe und Erfüllung im eigenen Leben.

Eindringliche Autofiktion

Carrère, der schon immer ein Suchender war, etwa nach den Wurzeln seines Glaubens in Das Reich Gottes, zeigt hier mit den Mitteln der Autofiktion, was diese in ihren besten Momenten ermöglicht. Einblicke in das Seelenleben und ein Gefühl von Ehrlichkeit, wenn er seine Niederlagen und sein stetes Ringen um Ausgeglichenheit schildert.

Außer George Langelaans Kurzgeschichte hatte ich seit Monaten nichts mehr gelesen, doch eines Tages öffnete ich im Café Puschkin noch einmal den Pappordner, auf den ich in Großbuchstaben Ausatmen geschrieben hatte, und begann, die etwa 200 000 Zeichen Notizen über Yoga, Tai-Chi, Meditation und all diese Marotten, die mich mein halbes Leben lang beschäftigt haben, nicht wirklich zu lesen, aber zu überfliegen – und mit welchem Ergebnis? Die Antwort könnte einen zur Verzweiflung bringen. Dreißig Jahre, um innere Ruhe und strategische Tiefe zu finden, dreißig Jahre, um sich das Leben als Ausweg aus dem Chaos und als geduldige Arbeit an einem Zustand der Gelassenheit und des Staunens vorzustellen, dreißig Jahre, um trotz aller Abstürze und Depressionen daran zu glauben, um am Ende, wenn das Alter kommt und obwohl man ein Haus und eine Familie und alles hatte, um weise und glücklich zu sein, findet man sich in Embryohaltung allein in einem Bett für kaum eine Person im verlassenen Haus einer einsamen, verlorenen Frau wieder, die ebenfalls auf die Südhalbkugel verschwunden ist, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Als Lebensbilanz macht das nicht viel her. Und ist auch keine besonders gute Werbung für Yoga. Aber da liege ich falsch: Yoga hat damit nichts zu tun, das Problem bin ich. Yoga tendiert zur Einheit, aber ich bin zu gespalten.

Emmanuel Carrère – Yoga, S. 302

Fazit

Und auch wenn man anführen möchte, dass das Buch doch eine reichlich wilde und ungelenke Mischung sei, die Yoga-Betrachtungen von psychiatrischen Selbstbeobachtungen abgelöst werden, Fragen des Schreibens mit denen vom Zehn-Finger-Tippsystem, Lyrik oder Interpretationen von Chopins Polonaise héroique zusammengeworfen werden, so hat dieses Buch doch eine Klammer. Und diese Klammer ist Emmanuel Carrères eigene Präsenz, seine Gedanken, seine Faszination für die Welt des Yoga und seine autofiktionale Radikalität im Denken und Schreiben, die hier eine ungemein eindringlich Wirkung entfaltet. Yoga überrascht immer wieder und berührt durch die Offenheit und das stete Streben nach Ruhe und ja – Glück. Und insofern ist dieses Buch selbst auch ein wirklicher Glücksfall und das beste Werk im Schaffen des französischen Schriftstellers bislang und der Beweis, wie Autofiktion in ihren besten Momenten funktionieren kann.


  • Emmanuel Carrère – Yoga
  • Aus dem Französischen von Claudia Hamm
  • ISBN 978-3-7518-0058-7 (Matthes & Seitz)
  • 341 Seiten. Preis: 25,00 €
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Johannes Schweikle – Grobe Nähte

Wenn der Buchtitel zum erzählerischen Konzept wird: Johannes Schweikle über München im Sommer 2015. Und über die Risse, die Gesellschaftsschichten und Milieus durchziehen.

Es ist ein warmer Tag im Sommer 2015, an dem ein Mann durch die Innenstadt Münchens radelt. Auf seinem Rücken ein Sousaphon, sein Ziel ein Auftritt mit seiner HipHop-Band am Flaucher. Derweil machen sich auch Eva Moser, ihre Kinder und ihr Mann auf den Weg zur Isar. Jugendstilwohnung und Cargobike, es fehlt sich an nichts. Eine Familie wie aus dem Manufactum-Katalog. Und dann ist da noch Victor Akbunike, auf dem im Fußballstadion alle Hoffnungen ruhen. Sein Transfer wurde zum Glücksfall für den FC Bavaria München, auf seine Tore zählen Trainer und Fans – und Victor liefert.

Menschen in München im Sommer 2015

So führt Johannes Schweikle seine Figuren in Grobe Nähte ein. Ein Musiker, der die Richtigkeit des Allgemeinplatzes der Musik als recht brotlose Kunst unter Beweis stellt. Eine Mutter, die die richtige Auswahl des Kindergartens und der dort offerierten Speisen vor Grundsatzentscheidungen stellt. Ihr Ehemann, der als leitender Kopf aus seinem Büro über den Dächern Münchens heraus für analytische Schärfe bei der einflussreichsten Zeitung sorgt Bayerns. Und ein Stürmer aus Afrika, aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, der im Trikot des FC Bavaria München zur deutschen Antwort auf Cristiano Ronaldo avanciert. Sie sind die Figuren, die im Mittelpunkt von Schweikles Roman stehen. Verbindendes Element sind die Ereignisse, die im Sommer 2015 ihren Anfang nahmen und bis heute die Gesellschaft beschäftigen.

Johannes Schweikle - Grobe Nähte (Cover)

Die Rede ist von jenem Sommer, in dem Flüchtlingsströme per Bahn von Ungarn aus nach Deutschland einsetzten. Jener Sommer, in dem durch das Verhalten der Münchner*innen und anderswo der Begriff der „Willkommenskultur“ entstand. Klatschende Menschen in der Bahnhofshalle von München, Offenheit und Hilfsbereitschaft prägten jene Stimmung, die dann spätestens nach den Ereignissen der Silversternacht von Köln kippte. Besonders Korbinian Moser und der Musiker Benedikt erleben die Veränderung am eigenen Leib. Korbinias intellektuell-liberale Haltung stellen die Entwicklungen genauso auf eine Probe wie die von Benedikt. Dieser merkt, dass seine Ansichten plötzlich alles andere als kompatibel zu denen seiner Freundin geworden sind.

Die Ankunft der Geflüchteten, sie veränderte München und sie veränderte die Menschen. Das zeichnet Johannes Schweikle auf interessante Art und Weise nach. Brüche und Grobe Nähte lassen sich überall in diesem Buch entdecken. Das beginnt bei den Straßenzüge, die reiche Stadtviertel ganz unvermindert von armen Quartieren trennen, setzt sich in der Patchworkfamilie von Eva und Korbinian Moser fort und endet bei auseinanderdriftenden Weltanschauungen, die Freundschaften erschweren.

Etwas disparat und unverbunden

Dieses Gefühl des Nebeneinanderstehens und Nicht-Mehr-Zusammenpassens setzt sich für mich leider auch in der Struktur und Erzählweise des Romans fort. Man kann das als gelungenen Kniff feiern, das Motiv bis in den Plot hineinzuziehen, mich hat es leider nicht wirklich überzeugt. Zu unverbunden und disparat sind für mich viele Teile und Erzählelemente des Buchs. So wechselt Schweikle beispielsweise die Erzählperspektive Benedikts, den er am Anfang und Ende des Buchs in der 3. Person beschreibt, um dann im Binnenteil des Buchs in die Ich-Perspektve zu schlüpfen. Schlüssig motiviert und gelöst hat sich dieser Kniff für mich nicht wirklich. Weiter geht es mit dem Gefühl, eine ganze Materialsammlung von Ideen oder essayistischen Ansatzpunkten zu lesen.

Von der ausführlichen Blattkritik eines Autors im Hause der Zeitung, die sich zur Grundbetrachtung der Rolle der Medien in der Krise auswächst, über den Berufswechsel einer jungen Frau von der Altenpflegerin zur SM-Sexarbeiterin bis zur Beschreibung eines Blechbläser-Adventskonzerts in der Kirche reicht die Fülle an Themen, die Schweikle verhandelt. All diese Ansätze sind nicht schlecht und lesen sich für sich alleine spannend – in ihrer Gesamtheit blitzen dann aber doch das ein ums andere Mal etwas zu deutlich die groben Nähte im Plot hervor. Bis auf einige wenige Berührungspunkte stehen die drei Geschichten um den Fußballstürmer, Sousaphonisten und den Zeitungsmacher recht unverbunden nebeneinander und haben für mich auch nicht alle eine gleichwertige Qualität.

Vielleicht wäre ich etwas gnädiger, wenn Schweikle nicht auch ein ums andere Mal etwas zu stark überzeichnet oder sich mit Allgemeinplätzen begnügte. Das Luxusleben eines Fußballers, der sich in einem Formtief mit Doping behilft oder die karikatureske Übermutter, die um die Frage von Gummibärchen ärger streitet als manche Partei bei Koalitionsverhandlungen. All das wirkte auf mich etwas too much.

Auch blieb für mich rätselhaft, warum Schweikle manches verfremdete, anderes wieder klar benannte. So spricht er von der CDU, allerdings von den Echten Patrioten anstelle der AfD. taz und Welt werden benannt, Korbinian Mosers Zeitung (für die auch Schweikle selbst einst schrieb) dabei nicht. Der FC Bayern, Uli Hoeness oder der insolvenzgeplagte Alfons Schuhbeck sind klar erkennbar, trotzdem bekommen sie Fantasienamen. Andere Figuren hingegen werden wieder mit Klarnamen bedacht. Benedikts Band gleicht der HipHop-Brassband Moop Mama bis ins letzte Details und gibt Liedtexte von dieser zum besten, dennoch heißt die Kapelle im Buch BrassXpress. Das mag zwar marginal sein, aber auch hier setzte sich für mich der Eindruck fort, dass hier nicht alles zusammenpasst.

Feinere Nähte wären wünschenswert

Auch läuft das Ende für mich etwas ins Leere, sodass ich von keinem wirklich runden und vollumfänglich überzeugenden Leseerlebnis sprechen kann. Das ist schade, denn Schweikles Buch hat wirklich Potenzial. Sozialanalytischer Schärfe blitzt auf, die große Bögen sind angedeutet und Schweikle verfügt über profunde Kenntnisse Münchens. Darüber hinaus hat der Autor hat ein wirkliches Talent zum Erzählen und könnte mit ein bisschen mehr Überarbeitung und klareren Ideen in die Sphären von Gesellschaftsanalyst*innen wie Juli Zeh, Francesca Melandri oder Karine Tuil vorstoßen. Es wäre ein wirklich großer München-Roman geworden, hätte dieses Buch doch nur etwas feinere Nähte.


  • Johannes Schweikle – Grobe Nähte
  • ISBN 978-3-520-75401-1 (Edition Klöpfer)
  • 240 Seiten. Preis: 22,00 €

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