Tag Archives: Herkunft

Yuko Kuhn – Onigiri

Familie, Migration und die Frage nach Identität sind Themen, die die deutschsprachige Gegenwartsliteratur scheinbar schon bis zur Erschöpfung verhandelt hat. Yuko Kuhn bearbeitet den Themenkomplex in ihrem Debüt Onigiri nun ein weiteres Mal – und findet einen unverbrauchten Zugang zum Thema. Denn in ihrem kurzweiligen Buch steht eine Familie zwischen Gestern und Heute, Erinnerungen und Vergessen, Aufbruch und Tradition, vor allem aber zwischen Japan und Deutschland im Mittelpunkt.


Neun Tage, so lange will die Erzählerin Aki noch einmal mit ihrer Mutter Keiko von Deutschland aus zurück nach Japan fliegen, das Land ihrer Vorfahren. Einst kam Keikos Mutter nach Deutschland, um sich vor Ort zur verlieben, Japan den Rücken zu kehren und fortan nur noch sporadisch mit ihren Verwandten in Kontakt zu stehen. Doch dann kommt die Nachricht, die alles durcheinanderwirbelt und Aki die Flüge buchen lässt.

Yasuko lebt nicht mehr. Sie ist einfach gestorben und wir haben es gar nicht gemerkt. Meine Mutter hat irgendwann aufgehört, ihre Familie in Japan anzurufen, erst war sie zu müde, dann wurde sie über die Jahre zu vergesslich dafür. Es kommen auch schon lange keine Pakete mit getrockneten Algen mehr. Yasuko lebt sicher noch, sagte meine Mutter immer, sonst hätte ihr Bruder sich auf jeden Fall bei ihr gemeldet.

Yuko Kuhn – Onigiri, S. 9

Sie lebt aber eben doch nicht mehr, nur hat es die Nachricht von Japan lange Zeit nicht nach Deutschland geschafft, sodass die Nachricht jetzt umso überraschend und emotional unmittelbarer bei Keiko eintrifft. Zusammen mit ihrer mittlerweile in einem Wohnstift lebenden, stark dementen Mutter bricht sie per Flugzeug in Richtung Osaka auf, um Abschied von ihrer Mutter und Großmutter zu nehmen – und sich zu erinnern.

Wieder einmal zeigt sich dabei, dass eine Reise zwar weit weg führen kann, sie doch auch immer eine Reise zu sich selbst ist. In Akis Fall lernt sie durch den Trip nach Japan ihre Wurzeln und die Verbindung ihrer Mutter zu diesem Land kennen, aus dem sie vor vielen Jahren aufgebrochen ist, um in Deutschland eine Familie zu gründen.

Ein Roman als Erinnerungs-Kintsugi

Yuko Kuhn - Onigiri (Cover)

Onigiri ist ein Buch, das das Erinnern als eine Art literarisches Kintsugi betreibt. Jene japanische Kunst veredelt zuvor zerbrochene Keramik- und Porzellangefäße mit einer speziellen meist goldhaltigen Mischung, sodass Scherben wieder zu einem ganzen Kunstwerk mit einem neuen, unverwechselbaren Aussehen werden.

Ein ganzes Stück weit betreibt auch Yuko Kuhn mit ihrem Text ebenfalls diese Kunst. Denn durch Akis Reise und die dadurch freigelegten Erinnerungen taucht sie tief in jene Welt ein, die für ihre demente Mutter nur noch in Teilen und Splittern besteht. Nicht nur, dass die gemeinsame Reise langsam ein zuvor nur in Bruchteilen bestehendes Bild ihres eigenen Mutter und deren Leben zwischen Japan und Deutschland zusammenfügt – und arbeitet Aki damit für die eigene Familie den schwindenden Erinnerungen entgegen, die die Erzählung ihrer Familie und damit auch das Wissen um die eigenen Wurzeln bedroht.

Darüber hinaus finden weitere familiäre Splitter in Onigiri zusammen. Da ist Keikos Mann und Vater von Aki und ihrem Bruder Kenta, von dem sich ihre Mutter schon vor Jahren getrennt hat. Da ist die Kluft zwischen ihrer eigenen Mutter und den nobel-distanzierten Schwiegereltern, die zur Oberschicht gehören, alle typischen Ingredienzien von Villa bis zu Montblanc-Füllern als Geschenk inklusive – oder auch die Frage, warum ihr Bruder so ganz anders als Aki selbst ist und einen anderen Lebensentwurf gewählt hat.

Brüche, Unterschiede und Differenzen

Das Unverständnis jener Schwiegereltern für die Beziehung, die selbstgewählte Distanz zu ihrer eigenen Heimat, die Schwierigkeiten einer Anpassung im fremden Land und eine Elternschaft in Trennung, all das ruft das Erzählen in diesem Text wach, während sich Aki und Keiko durch das Land ihrer Familie und Vorfahren bewegen und ihre japanische Familie noch einmal neu kennenlernen.

Voller Brüche, Unterschiede und Differenzen sind die Leben und Biografien, die die Erzählerin betrachtet und mit ihrem Erinnern und den Schriftzeichen ein Stück weit überwindet, heilt und veredelt, ganz wie die japanische Kunst der Porzellanreparatur.

So wird diese Suche nach Identität und Herkunft, Erinnerung und Bewahrung dieser Erinnerung zu einer gelungenen Reise und einem gelungenen Roman, mit dem Yuko Kuhn debütiert. Viele Themen klingen in dem mit japanischen Begriffen gegliederten Roman an, dem es gelingt, den eingangs erwähnten und vielfach bearbeiteten Themen von Familie, Herkunft und Identität doch auch neue Facetten abzuringen und so zu überzeugen.


  • Yuko Kuhn – Onigiri
  • ISBN 978-3-446-28311-4 (Hanser Berlin)
  • 207 Seiten. Preis: 23,00 €

Diesen Beitrag teilen

Víctor Català – Ein Film (3000 Meter)

Was ist in einem Menschen als Charakter angelegt? Wie entwickelt man sich, wenn man von seiner Familie, seinen Eltern und seiner Geschichte nichts weiß? Diesen Fragen geht die katalonische Autorin Caterina Albert i Paradís alias Víctor Català in ihrem Roman Ein Film (3000 Meter) aus dem Jahr 1926 nach. Im Rahmen des Iberischen Panoramas ist diese Wiederentdeckung in der Übersetzung von Petra Zickmann soeben im Kupido Literaturverlag erschienen. Es handelt sich hierbei um einen wirklichen Schatz, der hier gehoben wurde!


Etwa von 1880 bis 1911 dauert die Phase des Modernisme, mit dem Architektur, Kunsthandwerk und Kunst in Katalonien sowohl an eigene, als auch europäische Entwicklungen anknüpfen wollten. Zur bekanntesten Vertreterin dieser Epoche auf dem Feld der Literatur zählt die 1869 im katalanischen L’escala geborene Caterina Albert i Paradís, die zur Vorreiterin der weiblichen katalanischen Literatur werden sollte.

Erfolg unter dem Pseudonym Víctor Català

Gemäß dem männlichen Geniekult war es einer Frau zu der Zeit nur schwerlich möglich, sich mit eigenen Publikationen einen Namen zu machen. In Einklang mit Geschlechtsgenossinen wie Amantine-Aurore-Lucile Dupin de Francueil oder Mary Ann Evans, die sich im 19. Jahrhundert die Pseudonyme George Sand beziehungsweise George Eliot zulegten, um auf dem Buchmarkt eine Chance zu haben, wurde aus Caterina Albert i Paradís Víctor Català.

Víctor Catalàs - Solitud (Cover)
Nicht mehr lieferbar: der bekannteste Roman Victor Catalàs Solitud

Ihr Roman Solitud machte sie zur bedeutendsten Vertreten des katalanischen Ruralisme, einer Unterströmung des Modernisme, wie Bernecker, Eßer und Kraus in ihrer kleinen Geschichte Kataloniens schreiben. Trotzdem ist die Autorin bei uns alles andere als bekannt. Die letzte ins Deutsche übersetzte Ausgabe dieses Romans, der die Geschichte einer weiblichen Befreiung aus einer unglücklichen Ehe erzählt, datiert aus dem Jahr 2009 und ist längst vergriffen.

Besser als mit Catalàs bekanntestem Werk sieht es mit den zuletzt erschienenen zweisprachigen Erzählungen Catalàs aus. Diese im Lehmweg-Verlag erschienenen Texte sind trotz der neun Jahre, die seit der Veröffentlichung vergangenen sind, noch immer lieferbar.

Nun hat sich der Kupido-Verlag drangemacht im Rahmen der Reihe Klassiker der katalanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, die in der Sektion Iberisches Panorama des Verlag erscheint, eine erstmalige Übersetzung des im Jahr 1926 erschienenen Romans Ein Film (3000 Meter) zu veranlassen. Ein Vorhaben, das mit einem ebenso düsteren wie genauen Entwicklungsroman in bester realistischer Tradition belohnt wird, der sich nun auch hierzulande erstmals entdecken lässt und der eine Autorin zeigt, die ihr genaues Auge und das Talent zu filmischen Erzählen auszeichnet.

Ein Junge will seine Herkunft ergründen

Alles beginnt in Catalàs Erzählung mit einem Jungen, der an der Tür des Ehepaars Maria und Jepet Gallinaire klopft. Er offenbart sich den beiden als jenes Waisenkind, das Maria vor vielen Jahren im Auftrag einer Bekannten im Waisenhaus abgab. Schon in dieser Eröffnungsszene zeigt sich das inszenatorische Talent der Schriftstellerin, die einen eindrucksvollen Auftritt des jungen Nonat ersinnt, der in der sturmumtosten Nacht an die Tür des Paares klopft – oder besser donnert.

Und ohne den Satz zu beenden, zog sie den Querbalken zurück. Doch noch ehe sie nach der Tür greifen konnte, flog ihr diese mit Wucht entgegen, und etwas Eisiges, Dunkles warf sich auf Maria wie ein böser Geist, ihr wurde schwarz vor Augen, sie taumelte und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren. Denn die Tramuntana, der steife Nordwest, der mit Macht hereingefegt kam, war ihr frech unter die Röcke gefahren und hatte ihr diese mit einem Schwung über Brust und Gesicht geweht. Als sie ihre Augen wieder davon befreit hatte, sah sie sich einem Mann in einem langen Schultermantel gegenüber, der einen weichen Hut bis zu den Ohren gezogen hatte und mit ausgestrecktem Arm die Tür festhielt, damit sie nicht wieder zufiel.

Víctor Català – Ein Film (3000 Meter), S. 19

Nonat, so der Name des Waisenjungen, führt die Frage nach seiner eigenen Herkunft in das Haus der beiden kinderlosen Alten. Doch statt Antworten erhält er nur eine Lügengeschichte, die er schnell als Märchen enttarnt. Er zieht nach einer Übernachtung weiter nach seiner Herkunft suchend von dannen, nicht aber ohne die Erkenntnis von Maria Gallinaire, dass der Junge etwas „Diabolisches“ an sich habe.

Eine Erkenntnis, die auch der Schmied in Girona teilt, bei dem Nonat zur Ausbildung unterkommt. Dieser muss wie auch die Gallinaires feststellen, dass sich der Junge auf keinem guten Weg befindet, bei Gott nicht (S. 66). Doch auch wenn es kein guter Weg sein mag, immerhin ist es ein Weg, der Nonat in der Folge aus der Provinz nach Barcelona führt, wo er die Anstellung als Schlosser bei einem anderen Schmied findet.

Die dunklen Seiten Barcelonas

Angezogen von der brummenden Stadt, von den Kutschen, Reitern und Passanten auf der Rambla und den vielen anderen Plätzen der Stadt, beginnt er hier ein neues Leben, stets begleitet von der Frage seiner eigenen Herkunft und dem Elternhaus, dem er entstammen mag.

Víctor Català - Ein Film (3000 Meter)

Diese Leerstelle, die trotz seiner Suche und den spärlichen Spuren in Form von Taufurkunde, einem Madonnen-Medaillon und einer kreuzförmigen Tätowierung nach wie vor beharrlich leergeblieben ist, treibt Nonat nicht nur um, sondern auch an. Denn während die Leser*innen schon nach den eröffnenden Seiten um das Geheimnis seiner Herkunft Wissen, wandelt Nonat weiterhin im Dunkeln, verspürt aber immer stärker in sich werdend einen Wunsch nach Zugehörigkeit zu den edlen Kreisen in Barcelona.

Der Impuls nach Stutzertum und schmückendem Blendwerk wird immer stärker im jungen Mann, der sich nach einem Sitzplatz in den prächtigen Kutschen sehnt und im Theater gerne gesehen werden möchte. Ein Wunsch, der mit dem Leben und vor allem Auskommen eines einfachen Schmieds nicht wirklich korrespondiert.

Und so tritt die Prophezeiung des Schmieds aus Girona tatsächlich ein. Denn je älter Nonat wird, umso mehr entfernt er sich von den christlichen Idealen seiner Erziehung im von Nonnen geführten Waisenhaus und gibt den dunklen Seiten in seinem Charakter mehr Platz. Was mit dem Diebstahl eines Fahrrads oder eines Spazierstocks beginnt, wird bald zu einer veritablen kriminellen Karriere, die Nonat noch ins Unglück führen wird, ohne an dieser Stelle zu viel der Handlung von Ein Film (3000 Meter) zu verraten.

Ein großartiger Entwicklungsroman der negativen Sorte

Catalàs Roman ist ein Entwicklungsroman der negativen Sorte, der seinen Helden auf dem Weg vom kindlichen Unschuldige ins kriminelle Verderben begleitet. Geschildert mit den Mitteln des Realismus, ist Ein Film (3000 Meter) eine an den französischen Größen wie Honoré de Balzac, Maurice Leblanc oder Victor Hugo geschulte Erzählung, die auch knapp hundert Jahre nach ihrem Erscheinen wenig von ihrer Dramatik und Wucht eingebüßt hat.

Über allem schwebt die Frage der Anlage des eigenen Charakters, den Nonat Stück für Stück freilegt, angetrieben von dieser rätselhaften Sehnsucht in der eigenen Brust, die er kaum versteht und der er doch Folge leisten muss, wohin sie ihn auch führen mag.

Das gestaltet Víctor Catalàs alias Caterina Albert i Paradís mit einem großen Gespür für Figuren und Orte. Die Unterwelt Barcelonas, die stets in Nonat pochende Sehnsucht, die schiefe Bahn, auf der er der junge Mann befindet – zu Beginn noch unmerklich, dann aber immer steiler werdend – all das schildert die katalanische Autorin wirklich mitreißend und ganz titelgemäß nahezu wie einen Film, dem man gespannt und erstaunt folgt.

Einzig und allein eine etwas augenfälligere Aufmachung sowie ein einordnendes Nachwort zu Werk und Autorin hätte dieses Buch verdient. Davon abgesehen ist dem Kupido-Verlags mit der (Wieder)Entdeckung dieser Autorin ein wirklich großer Coup gelungen, der viel Achtung verdient!


  • Víctor Català alias Caterina Albert i Paradís – Ein Film (3000 Meter)
  • Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann
  • ISBN 978-3-96675-270-1 (Kupido Literaturverlag)
  • 460 Seiten. Preis: 29,80 €
Diesen Beitrag teilen

Alem Grabovac – Das achte Kind

Die Erforschung der eigenen Herkunft liegt im Trend. Literatur, die sich mit Identität, Familie, Klasse und Herkunft beschäftigt, feiert große Erfolge, und das nicht erst seit Saša Stanišićs Roman Herkunft, für den er den Deutschen Buchpreis erhielt, Auch die Bücher etwa von Christian Baron (Ein Mann seiner Klasse) oder Deniz Ohde (Streulicht) belegen den Boom dieser Art von Literatur.

Alem Grabovacs Roman Das achte Kind reiht sich in diese Reihe von Romanen nahtlos ein. Er schildert seine eigene wechselvolle Geschichte von der Geburt an bis in die Jugendzeit. Ein Buch, das den Augenmerk ganz auf das Erzählen richtet.


Mehrere Versuche habe er benötigt, um den Sound für seinen Debütroman zu finden, so erzählte Grabovac im Gespräch zu seinem Buch. Mehrere Ansätze habe es gegeben, die immer wieder verworfen worden seien. So habe er unter anderem einen Sound versucht, der an Thomas Bernhard erinnert habe. Aber alles nicht das Richtige für Das achte Kind, wie Grabovac zu Protokoll gab. Stattdessen wurde es nun ein klarer, reduzierter Ton, der in wenig prosaischer Sprache das Leben des Ich-Erzählers zum klingen bringt.

Alem Grabovac‘ außergewöhnliche Lebensgeschichte

Und tatsächlich war es eine kluge Entscheidung, den Fokus eher auf das Erzählte, denn auf das Erzählen zu legen. Denn Grabovacs Lebensgeschichte ist wirklich außergewöhnlich. So wächst er als Sohn einer kroatischen Gastarbeiterin in Würzburg auf. Der Vater ein Hallodri, der sogar die Mutter unmittelbar nach der Geburt bestiehlt, um sich mit Freunden dem Rausch hinzugeben. Auch in der Folge will sich kein rechtes Familienleben einstellen. Die Mutter schuftet in einer Schokoladenfabrik, der Vater ist absent.

Der Spagat zwischen der Versorgung des Kindes und der Rolle als Familienernährerin gelingt der Mutter – wer will es ihr verdenken – nur mäßig. Und so gibt sie Alem zu einer Tagesmutter, die diesen unter der Woche betreut. Marianne hat selbst bereits sieben Kinder, die größtenteils flügge sind. Alem wird so ihr achtes Kind. Schon bald sind Marianne und Robert für den Jungen die eigentlichen Eltern.

Seine Mutter zieht der Arbeit wegen nach Frankfurt weiter und findet einen neuen Mann an ihrer Seite. Alem bleibt bei seiner Ziehfamilie zurück und wächst in der schwäbischen Provinz auf.

Drei prägende Vaterfiguren

Alem Grabovac - Das achte Kind (Cover)

Drei prägende Vaterfiguren sind es, die Alem Grabovac in seinem Buch versammelt. Da ist zunächst der Hallodri und untaugliche Kindsvater Emir. Auch der Dusan, der zweite Mann an der Seite seiner Mutter, ist keine wirkliche Verbesserung. Gewalt, Überforderung, Alkoholmissbrauch sind auch hier Themen. Ein anderer Fall hingegen ist Robert, der im Privaten aus seiner Sympathie für Hitler und der Verbitterung über den Kriegsausgang keinen Hehl macht. Alle drei Figuren wecken in Alem Widerspruch, mit zunehmendem Alter emanzipiert er sich von den drei Männern.

Ganz anders hingegen seine Mutter, die er in Das achte Kind porträtiert. Ihre Herkunft aus einem kroatischen Dorf, ihr Bemühen um ein gutes Leben für ihr Kind und sich schildert Grabovac klar und empathieerweckend. Ihr Faible für die falschen Männer, die Heimatverbundenheit, all das zeigt der Autor auf nachvollziehbare Art und Weise.

Grabovacs Aufwachsen zwischen den Kulturen und Familien ist eine starke Geschichte, die auf das Wesentliche reduziert ist. Gerade durch die Wahl der erzählerischen Mittel überzeugt sie.

Fazit

Eine sprachliche oder inszenatorische Überformung findet hier nicht statt. Damit ist Das achte Kind näher an Deniz Ohdes Streulicht denn an Saša Stanišićs Bestseller Herkunft. Durch den Verzicht auf eine eindeutige Wertung oder Beeinflussung des Lesenden gewinnt dieses Buch. Eine starke Geschichte, die durch die Wahl der erzählerischen Mittel überzeugt und die neben den oben genannten Titel gerne empfohlen werden kann.


  • Alem Grabovac – Das achte Kind
  • ISBN 978-3-446-26796-1 (Hanser blau)
  • 256 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Spiel, Satz, Buch

Andrea Petković – Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht

Tennisspielerin Andrea Petković legt ihr erstes Buch vor. Doch wer belanglose Sportler-Memoiren erwartet, der dürfte sich schnell getäuscht sehen. Denn Petković macht in Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht vieles ganz anders, als man es von herkömmlichen Biografien gewohnt ist. Statt sich im Glanz ihrer Erfolge zu sonnen oder rührselige Aventüren gegen alle Widerstände zu präsentieren, erzählt sie. In Episodenform beschreibt sie die Besonderheiten großer Tennisturniere, ihre literarische Prägung, den Reiz New Yorks, Schwarzfahren und andere Geschichten, die durch Petkovićs literarisches Erzähltalent bestechen.


Mit welch einer versierten Autorin wir es hier zu tun bekommen beweist schon der kursiv gesetzten Auftakt des Buchs. Denn darin erzählt sie von ihrem Vater, der sie einst zu einem Tennisturnier in Australien begleitete und nächtens einem Braunbär begegnet sein wollte.

Geschichtenerzählen war immer Teil unserer Familie und Teil unserer Identität. Wenn meine Mutter meinen Vater abends beim Essen nach seinem Tag fragte, hörte sich jeder einzlne an wie ein Abenteuer. (…)

Das war der Haushalt, in dem ich aufwuchs. Denken Sie ab und zu daran, wenn Sie meine Geschichten lesen. Alles, was ich beschreibe, ist genau so passiert. Aber manchmal braucht es einen Braunbären, um der Wahrheit näherzukommen.

So verschafft sich Petković gleich zu Beginn die Lizenz zur Fiktion. Ein kluger Aufschlag für ihr Buch, mit dem sie sich von den üblichen Pflichten des drögen Genres Sportler-Biografien entbindet. So springt sie fortan mit ihren zehn bis 15 Seiten langen Erzählungen durch ihr sportliches und privates Leben.

Keine plumpen Sport-Erinnerungen

Zu plumpen Nacherzählungen von bedeutenden Matches ihrer Karriere lässt sie sich dabei nicht hinreißen. Wenn Petković an wenigen Stellen im Buch solche Ereignisse Revue passieren lässt, dann ist das reichlich selbstkritisch und verweist auf dahinterliegende Wahrheiten, die ihr wichtig sind. So erzählt sie von Überheblichkeit und anderen Probleme mit dem Kopf, der ihr von Zeit zu Zeit einen Strich durch ihre Siegespläne machte. Von Rivalität und Freundschaft, und was diese im Sport ausmacht.

Andrea Petković - Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht (Cover)

Es geht Petković in diesem Buch merklich nicht darum, ihren eigenen Ruhm zu mehren. Natürlich handelt es sich bei ihr um eine der erfolgreichsten Tennisspielerinnen jüngster Zeit, das verschweigt sie (und die Gestaltung des Buch) natürlich nicht. Aber ebenso wie vom Erfolg erzählt sie vom Scheitern. Von Verletzungen, die sie zurückwarfen. Von der Einsamkeit in schlecht klimatisierten Hotelzimmern am Rande der Welt. Und nicht zuletzt erzählt Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht auch von der Suche nach Identität. So passt sich das Memoir der Tennisspielerin in eine ganze Riege identitäts-erforschender Bücher ein, die in letzter Zeit erschienen sind, von Saša Stanišić bis hin zu Deniz Ohde.

Ihre eigene bosnische Herkunft, das Aufwachsen in Deutschland, die Zerissenheit der eigenen Familie. All das beleuchtet die Tennisspielerin sehr klar, selbstironisch und durchaus analytisch. Diese Klarheit und auch der immer wieder aufscheinende Humor machen aus diesem Buch vielmehr als eine Sportler-Biografie.

Ein großer thematischer Bogen

Dazu ist auch der thematische Bogen, den Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht umspannt, viel zu groß. So erzählt sie vom Touren mit einer Band durch die USA, Freundschaften, Familienritualen, besuchten Konzerten und nicht zuletzt auch von ihren literarischen Leidenschaften. Dass ihr die Literatur von Jonathan Franzen, Philip Roth oder David Foster Wallace ein wirkliches Bedürfnis und für sie sinnstiftend ist, das nimmt man Petković nach der Lektüre des Buchs sofort ab.

Und dass sie die Bücher nicht nur gelesen hat, sondern von ihnen auch gelernt hat, das zeigt das Buch ebenfalls. Wie gutes Erzählen funktioniert, was man besser weglässt und auf was man sich konzentriert, das hat Petković beherzigt. Ihre Geschichten sind konzise, spannend gestaltet und haben auch mir als Tennis-Muffel plastisch einen Eindruck vom Reiz dieses Sports verschafft. Ihre Erzählungen liest man gerne, scheint doch eine wache, belesene, selbstironische und auch selbstkritische Autorin durch die Zeilen durch.

Fazit

Ja, Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht ist ein Buch über Tennis. Aber Andrea Petkovićs Buch ist eben auch so viel mehr. Auch wer nichts von Tennis versteht oder wen dieser Sport nicht übermäßig interessiert – man sollte diesem Buch auf alle Fälle eine Chance geben. Eine interessante und talentierte Erzählerin ist hier zu entdecken, die nicht nur vermittelt, wie man Tennis lesen und verstehen kann, sondern die sich auch für die Fragen von Idenität und Herkunft interessiert. Ihr ist ein Buch gelungen, das man mit dem Begriff Sportler-Memoir kaum erschlägt, und das so viel mehr ist als nur das. Oder um ein vielgenutztes Tenniszitat einmal etwas anders zur Anwendung zu bringen: Spiel, Satz, tolles Buch!


  • Andrea Petković – Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht
  • ISBN: 978-3-462-05405-7 (Kiepenheuer Witsch)
  • 272 Seiten. Preis: 20,00 €
Diesen Beitrag teilen

Deniz Ohde – Streulicht

Von der Rückkehr an den Ort der Kindheit, vom schwierigen Kampf um Bildung und gesellschaftliche Anerkennung und von unsichtbaren Schranken erzählt Deniz Ohde in ihrem Debüt Streulicht. Endlich eine deutsche Antwort auf Didier Eribon, Annie Ernaux und Co.


Schon seit längerem machen es uns die Literat*innen aus Frankreich vor. Autor*innen wie Didier Eribon oder Annie Ernaux erkunden auf Grundlage ihrer eigenen Biografien Mechanismen und Schranken der Gesellschaft. Sie versuchen, über die eigene Geschichte (oder mithilfe von Autofiktion) die Bruchlinien und blinden Flecken der gesellschaftlichen Gegenwart zu erkunden. Im Falle von Didier Eribons Rückkehr nach Reims gelang dem Franzosen auch bei uns einer veritabler Bestseller. Darin setzt sich Eribon mit der Frage auseinander, warum in seiner Heimat nun so viele Menschen den Front National unterstützen und vom linken Spektrum ins rechte übergewechselt sind. Eine Analyse, die auch bei uns viele Leser*innen interessierte.

Oder etwa Annie Ernaux, die in ihren Werken anhand ihrer eigenen Biografie genaue Erkundungen des Milieus ihrer Eltern (Der Platz und Eine Frau) oder ihrer eigenen Sozialisation unternimmt. Mit wachsendem Erfolg wird die französische Autorin auch in Deutschland übersetzt und gelesen.

Deniz Ohde - Streulicht (Cover)

Bei aller Begeisterung für diese Werke stellte sich doch die Frage, warum man bei solch soziologisch grundierter Literatur eigentlich immer nur bei unseren Nachbarn fündig wurde. Das Interesse ist ja da, was nicht auch die Bestsellerplatzierungen der beiden Autor*innen zeigen. Nur deutsche Stimmen, die eine solche Art von Literatur schrieben, waren bislang nicht wirklich präsent. Bislang.

Denn mit Streulicht ist nun ein Roman zu entdecken, der genau hinschaut auf die Mechanismen und Ausschlusskriterien unserer Gesellschaft. Der den versteckten Rassismus genauso wie den offenen beleuchtet. Sich für die Verwerfungslinien unseres Miteinanders interessiert. Und der Klassismus, Identität und Herkunft erforscht und betrachtet. Dies gelingt der 1988 geborene Deniz Ohde, indem sie einmal mehr eine Heimkehrer-Geschichte erzählt.

Heimkehr an den Rande des Industrieparks

Die namenlose Erzählerin zieht es zurück an den Ort ihrer Kindheit, ihr Zuhause. Der Vater lebt noch, die Mutter ist schon verstorben. In dem trostlosen Haus, das sich Zuhause nennt, kehren die Erinnerungen zurück an ihre Kindheit und ihre Familie. Wie sie dort aufwuchs in der Siedlung hinter dem Industriepark, dessen Schlote und Rohre die ganze Silhouette der Stadt prägen. Dort, wo die meisten ihrer Mitmenschen in Lohn und Brot steht und auch ihr Vater schaffte, vierzig Jahre lang vierzig Stunden die Woche, Bleche in Lauge tauchte. Dort, wo der Industrieschnee an kalten Tagen auf alle Häuser niedersinkt und alles mit Asche und Grau überzieht. Und dort, wo der Park nachts glüht wie eine riesige gestrandete Untertasse und orangeweises Streulicht aus Neonröhren die Nacht hell macht (S. 14).

Dorthin kehrt die Erzählerin zurück und nimmt uns als Leser*innen mit in ihre Kindheit. Als sie mit Pikka und Sophia das Gebiet rund um die Chemiefabrik durchstreifte. Als sie in die Schule kam und an sich und den Lehrern scheiterte. Und wie sie trotzdem beharrlich gegen alle Wahrscheinlichkeiten zur Bildungsaufsteigerin wurde. Wie sie beschloss, beginnend mit einem Zeitabonnement, dass für sie trotz ihrer Herkunft (die Mutter stammt aus einem Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste) trotzdem mit der Hauptschule nicht Schluss sein sollte. Dass ihr Name nicht ihre Karriere vorbestimmen sollte. Wie sie sich ihren Weg erkämpfte, durch alle Bildungsinstitutionen hindurch, von der Hauptschule bis zur Akademikerin. Davon erzählt Streulicht. Und das tut das Buch auf beeindruckende Art und Weise.

Vom unsichtbaren Rassismus

Das Buch erzählt aber auch von Rassismus, vom Gefühl, nicht dazuzugehören. Vom Gefühl, den einen Namen, der einen zum Ausländer macht, lieber zu verschweigen. Und von der Notwendigkeit, sich immer etwas mehr anstrengen zu müssen als die anderen.

Was sie nicht erzählen würde, wäre die Geschichte von meinem zwölften Geburtstag, als ich auf einem der Schultische einen Kuchen auspackte, den meine Mutter für die Klasse gebacken und in Alufolie eingeschlagen hatte. „Was ist das, ein Dönerspieß?“, hatte sie damals aus dem hinteren Ende des Raums gerufen und gelacht, dieses Lachen, das ich seitdem immer wiedererkenne, vor dem ich bis heute zurückschrecke, wie wenn man aus Versehen mit der Fingerspitze eine heiße Herdplatte streift, ein siebter Sinn. […]

„Das bildest du dir ein“, sagte Sophia. Es gäbe keine feindliche Gruppe, keine feindliche Umgebung. „Du nimmst die Dinge eben immer gleich persönlich“, sagte sie, und alle Anfeindungen glitten mir aus den Händen, glitten an der verspiegelten Scheibe herab und rutschen langsam zu Bode, wo sie kleben blieben wie zerkautes Zellophan. Jede Anfeindung spielte sich zwischen den Zeilen ab und war immer schon wieder verschwunden, wenn ich sie ansprechen wollte.

Ohde, Deniz: Streulicht, S. 123 f.

Fazit

Damit passt dieses Buch auch sehr gut in diese Zeit, in der die Debatten über Rassismus und Chancengerechtigkeit leider viel zu oft im Nichts versanden. Streulicht erzählt uns, wie es ist, wenn man nicht so wirklich dazugehört und sich seinen Platz im Leben gegen Widerstände erobern muss. Sein genauer Blick auf die Mechanismen unserer Gesellschaft und das Bildungswesen zeichnen das Buch dabei aus.

Dass das Buch nun auch selbst ausgezeichnet wurde, und zwar mit einer Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises, das ist nur folgerichtig. Denn Ohdes Buch ist präzise in seiner Beschreibung unserer Gesellschaft. Der Blick in die Unterschicht und das moderne Industrie-Proletariat überzeugt. Genauso schafft sie es, den Weg einer Bildungsverliererin hin zu einer -gewinnerin plausibel zu erzählen, auch gerade durch die Nicht-Verhaftung an Realien, die das ganze Buch kennzeichnet. Für mich ist Streulicht ein Kandidat für die Shortlist des Buchpreises. Gerade auch, da das Buch eben eine deutsche Antwort auf die eingangs erwähnten (zumeist) französischen Autoren ist.

Weitere Meinungen zum Buch gibt es hier: Hubert Winkels schreibt in der SZ über Ohdes Buch. Auch im Deutschlandfunk wurde Streulicht besprochen und zwar hier. Die taz widmete dem Buch ebenfalls eine Besprechung.


  • Deniz Ohde – Streulicht
  • ISBN: 978-3-518-42963-1 (Suhrkamp)
  • 284 Seiten. Preis: 22,00 €

Diesen Beitrag teilen