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Anna Prizkau – Frauen im Sanatorium

Wenn es eine auffällige Häufungen eines speziellen Schauplatzes in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in diesem Frühjahr und Sommer gibt, dann ist es der der Psychiatrie.
Nach Svealena Kutschke und kurz vor dem Erscheinen von Leon Englers Debüt Botanik des Wahnsinns schickt auch Anna Prizkau ihre Heldin Anna in ein Sanatorium in psychiatrische Behandlung. Dort trifft sie auf eine ganze Gruppe von Frauen im Sanatorium, die allesamt von ganz eigenen Dämonen heimgesucht werden.


Weckt der Name des Sanatoriums auch unweigerlich Erinnerungen an Thomas Manns Der Zauberberg, so hat die Hans-Lewitt-Klinik in Anna Prizkaus Romans herzlich wenig mit Davos, Lungenkranken und Entschleunigung zu tun. Vielmehr versammeln sich dort eine ganze Riege an Figuren, die allesamt mit eigenen Dämonen zu kämpfen haben.

Frauen im Sanatorium, Schicksale im Blick

Anna Prizkau - Frauen im Sanatorium (Cover)

Da ist Elif, deren Verlobter Baschir nicht mehr ist und die sich trotzdem nicht von der Arbeit im familiären Feinkostladen vor einem Kaufland abhalten lassen wollte, bis sie nun in der Klinik gelandet ist. Die Exhibitionistin Veronika, die als Rettungssanitäter in der Nacht auf der Wache so lange die Kleidung fallen ließ, bis es zu einem Gespräch mit den Vorgesetzten kam. Marija, die in jeder Therapiesitzung durch ungezügelte Ich-Bezogenheit auffällt – oder eine Gruppe von sieben Soldaten, deren Gravitationszentrum und Anführerin Katharina ist, die nicht nur in Sachen Alkoholkonsum die Patienten der Klinik zu Hochleistungen anstacheln will.

Vor allem ist da aber die Erzählerin Anna, aus deren Augen wir auf die Figuren in der Klinik blicken und die regelmäßig im angeschlossenen Park die Flamingos aufsucht, wo sie einem von ihr auf den Namen Pepik getauften Flamingo ihre Sorgen und Nöte anvertraut. Die Flucht ihrer Familie nach Deutschland, ihr Schicksal, das sie ins Sanatorium gebracht hat, die Sitzungen bei Doktor „Ich verstehe“ Fauner, all das vertraut sie Pepik und uns als Lesenden an.

Über alle Porträts und Schilderungen hinweg bleibt dabei immer ein Zweifel ob der Verlässlichkeit von Anna als Erzählerin. Was stimmt, was ist ausgedacht? Diese Frage steht hinter vielen Lebensgeschichten, besonders der von Elif, die sie in Heften niedergeschrieben hat und die Anna immer wieder liest und auf Ungereimtheiten stößt. Aber auch hinter die Wahrhaftigkeit der Erzählerin Anna, die wie einst wie ihre Schöpferin Anna Prizkau aus Russland nach Deutschland migrierte, gilt es Fragezeichen zu setzen.

Unzuverlässigkeit aller Figuren

Frauen im Sanatorium ist ein geschmeidig erzählter Roman, dessen Gravitationszentrum die Figuren und ihr Miteinander im Sanatorium sind. So begehrt Anna Mitpatient David und entwickelt eine Abhängigkeit zu diesem. Aber auch durch die neu zur Gruppe hinzugestoßenen Soldaten wird die Patientin auf eine ungute Bahn gelenkt. Immer wieder unterbrechen Vignetten über die Schicksale der Figuren den Fluss und machen so auch die Unrast und Unzuverlässigkeit der Figuren klar.

Nun steht Prizkaus Werk aber wie eingangs schon erwähnt in einer ganzen Riege weiterer Romane mit dem Handlungsort Psychiatrie – und muss sich so auch dem Vergleich mit diesen Romanen stellen. Besonders dem Vergleich mit dem über hundert Jahre ausgreifenden und auf Personal wie Patienten gleichermaßen blickenden Gespensterfische von Svealena Kutschke hält Frauen im Sanatorium leider nicht ganz stand.

Obgleich deutlich gefälliger erzählt als Kutschkes anspruchsvolle impressionistische Prosa geht das zu Lasten der Intensität und Figurengestaltung. Bei Anna Prizkau sind es eher Typen oder lebende Krankheitsgeschichten, deren Leid sie beschreibt, aber nicht ganz in die wirkliche Tiefe ihrer Figuren vordingen kann, dazu ist der Blick der Erzählerin Anna zu unsicher

So kennzeichnet eine stets über dem Text schwebende Unzuverlässigkeit das Geschehen in der Hans Lewitt-Klinik, darunter leidet aber auch die Übersichtlichkeit. Wenn alle lügen oder sich die Wahrheit verbiegen, wem kann man da noch trauen? Frauen im Sanatorium ist in dieser Hinsicht ein wilder Ritt, um sich von den Figuren nicht verführen zu lassen, um wenigstens die Ahnung von Übersicht und Zuverlässigkeit zu bewahren. Wie es sich als Patient in so einem Haus anfühlen mag, aus Prizkaus erzählerischem Schütteln der Realität lässt es sich erfahren.

Fazit

Wer sich also von einem gut geschriebenen, gefällig geschilderten Roman wieder einmal an die Hand nehmen lassen will, um kurz darauf von dieser Hand in ein unübersichtliches Feld aus möglichen Wahrheiten geschubst zu werden, der greife gerne zu Anna Prizkaus Roman. Weniger anspruchsvoll als Svealena Kutschke richtet sich Frauen im Sanatorium an eine breitere Leserschaft, deren Sympathie zu Figuren und Vertrauen zu ebenjenen von ihr auf eine Probe gestellt wird, denn: we’re all a bit mad here.


  • Anna Prizkau – Frauen im Sanatorium
  • ISBN 978-3-498-00732-4 (Rowohlt Hundert Augen)
  • 299 Seiten. Preis: 24,00 €
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Svealena Kutschke – Gespensterfische

Wie kann man überleben, ohne verrückt zu werden? Oder bedeutet Überleben auch immer, selber ein wenig verrückt zu werden? Svealena Kutschke erkundet in ihrem Roman Gespensterfische die Frage des Überlebens und erzählt weit ausgreifend von Patienten und Ärzten einer norddeutschen Psychiatrie. Daraus entsteht eine Lektüre, die in ihrer Erzählweise herausfordert, aber zugleich zu vielen Fragen und Reflektionen einlädt.


Gespensterfische, das sind Fische, die unter größtem Druck in der Tiefsee leben. Licht dringt in ihren Lebensbereich keines mehr vor, nur üben die Wassermaßen einen großen Druck auf die Tiere aus. Die Fische haben körperliche Merkmale entwickelt, um unter den widrigen Bedingungen leben zu können. Manche von ihnen verfügen sogar über eine eigene Lumineszenz, um dort in der Tiefe überleben zu können. Sie zeigen damit jenen Überlebenssinn, den auch die Figuren in Svealena Kutschkes Roman an den Tag legen.

Denn bei vielen der Figuren handelt es sich um Psychiatrieinsassen einer Einrichtung im Norden des Landes. Wie Gespensterfische haben sie eigene Überlebensstrategien entwickelt, um auf das Leben mit all seinen Zumutungen reagieren zu können. Mal mehr und mal weniger gut eingestellt mit Medikamenten trotzen sie den inneren Dämonen – vor denen aber auch ihre Gegenüber nicht gefeit sind.
Denn viele der Behandelnden sind ebenfalls nicht frei von den Schwarzen Hunden, wie der selbst unter Depressionen leidende Winston Churchill seine Pein einst ausdrückte.

Der Geist war jeden Morgen schon lange vor ihm wach, ausgezehrt von sich selbst. Er schlief nur in Fetzen. Vor einem freien Tag bediente er sich am Medizinschrank. Er war schließlich Psychiater. Auch ihm einmal in der Woche die tiefe kalte See, in der nichts mehr zu finden ist als der eine oder andere Gespensterfisch.

Svealena Kutschke – Gespensterfische, S. 157

Dem herausfordernden Thema von psychischer Belastung, psychischer Probleme und der Behandlung dieser Felder begegnet Svealena Kutschke mit großem Einfühlungsvermögen, die sprachlich nachzuzeichnen vermag, wie sich Depressionen oder andere Krankheitsbilder ausdrücken und vor allem anfühlen. Mit einer wandelbaren und sehr poetischen Sprache springt sie durch die Jahrzehnte und die Leben ihrer Figuren.

Psychiatriegeschichte und der Umgang mit blinden Flecken

Svealena Kutschke - Gespensterfische (Cover)

Immer wieder wechseln die Kapitel, beleuchtet sie die dunkelsten Kapitel der Psychiatriegeschichte dort in Lübeck, als Patienten der Jannsen-Klinik in der Zeit der Nazis der Euthanasie zum Opfer fielen und wie sich der Umgang mit dieser Schuld wandelte. Auch zeigt sie in ihren Figuren den Wandel und die Anpassung an neue Umstände, etwa dann wenn die Künstlerin Laura an einem Bildroman über die Klinikpatientin Olga Rehfeld arbeitet, deren Mann nach der Scheidung zu ihrem behandelnden Arzt werden sollte.

Bei einem Aufenthalt in der Klinik in den 90er Jahren lernt sie diese Lebensgeschichte kennen, die sie nicht mehr loslassen soll. Immer tiefer verstrickt sie sich in das Leben der vor ihr in der Jannsen-Klinik lebenden Frau – und löst durch die sich intensivierende Beschäftigung auch eine Krisis bei Laura aus.

Auch Olga Rehfeld erlebte eine solche Krisis, fand aber in der Verbindung zu ihrer Mitpatientin Noll einen Raum, der ihr einen Umgang mit ihren Problemen ermöglichte. Denn vor allem in der Beschäftigung mit der Sprache, die an das Werk von Lyrikerinnen wie Ingeborg Bachmann, Sylvia Platz, Yoko Tawada oder vor allem Friederike Mayröcker anschließt, fand sie einen Ausdrucksraum. Es ist ein Ausdrucksraum, an den Svealena Kutschke mit ihrer Sprache, den Sprachbildern und den immer wieder verändernden Rhythmen und Melodien ihrer Sätze anknüpft.

Rehfeld glaubte an Arbeit, Beharrlichkeit, Disziplin, was das Gegenteil von Keksen war. Besonders aber glaubte Rehfeld an Räume. Physische Räume. Und Denkräume. Einen physischen Raum hatte sie sich erkämpft. Es gegen das liebevolle Lächeln Fellners durchgesetzt, das Hause gehöre doch ganz ihr, den ganzen Tag, überall könne sie doch –

Svealena Kutschke – Gespensterfische. S. 76

Kunst als Heilungsraum

Mit ihren gemalten Bildern und der graphischen Beschäftigung mit ihrer gewissermaßen Vorgängerin versucht sich Laura an einem Zugang zum Heilungsraum der Kunst, sie für sich öffnen soll. Immer wieder ist diese Kunst für Patienten ein Ausdrucksmittel – und auch Svealena Kutschke nutzt sie ausgiebig, um damit die Innenweilten ihrer Figuren anschaulich erfahrbar zu machen.

Vieles ist in Gespensterfische wie in einem impressionistischen Gemälde hingetupft. Es ist ein Erzählen, das auf das Innen schaut und das dennoch ein Gespür für das hat, was nicht erzählt werden kann und was im Ungefähren bleiben muss. Sie springt nicht nur durch fast zehn Jahrzehnte, sondern blickt auch immer wieder auf unterschiedliche Generationen von Menschen auf beiden Seiten des Behandlungsspektrums und fällt von Figur zu Figur, deren Schicksale sie immer wieder aufgreift.

Sie zeigt dabei, wie durchlässig die Schichten von vermeintlichen Normalen und „Verrücktem“ ist, und wie fragil doch unser Bild der Welt ist, das wir uns machen. Literatur wird bei Kutschke zum seelischen Ausdrucksmittel und zum Überlebenswerkzeug, oder wie es eine ihrer Figuren im Buch in einer Notiz einmal beschreibt: Wenn wir nicht sterben wollen, müssen wir erzählen (S. 222)

Zudem trägt ihr kunstvoller Beitrag neben den in diesem Bücherherbst erscheinenden Werken von Leon Engler oder Anna Prizkau dazu bei, das immer noch klischeetriefende Thema der Psychiatrien und psychiatrischer Behandlung aufzubrechen und ein Bewusstsein für diese Welt und die in ihr lebenden und arbeitenden Menschen zu schaffen – und das stets mit einem Gespür für Brüche und die Fragilität des vermeintlich Normalen.

Fazit

Thematisch wie sprachlich wie strukturell ist Gespensterfische das Gegenteil eines Easy Reads. Kunstvoll komponiert und sehr fein, fast fragil gearbeitet erfordert Kutschkes Buchs das Einlassen auf ihren Text. Wenn man sich aber die Zeit und die gedankliche Offenheit für ihr Erzählen nimmt, so wird man mit einer sprunghaft und gerade dadurch so eindrücklich erzählten Geschichte belohnt, deren Zusammenhänge und Beziehungen sich erst langsam erschließen.

Wie durchlässig die Schichten von vermeintlich Normalem und „Verrücktem“ ist, wie man den Widrigkeiten der Welt trotzt, was Wirklichkeit eigentlich bedeutet und wie sich langsam unser Umgang mit den lange Zeit so stigmatisierten Menschen mit psychischen oder Problemen und Schwierigkeiten wandelt, das lässt sich aus diesem Kunstwerk erfahren, das die Zeit belohnt, die man sich für die Beschäftigung mit Kutschkes Werk und Gedankenwelten nehmen sollte. Denn die Tiefe in diesem Buch ist enorm, auch wenn die Gespensterfische dabei nur Metapher sind.


  • Svealena Kutschke – Gespensterfische
  • ISBN 978 3 89561 363 0 (Schöffling)
  • 224 Seiten. Preis: 24,00 €
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Steffen Schroeder – Planck

oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor

Max Planck dürfte man vielleicht noch aus dem Physikunterricht oder als Namenspate der gleichnamigen Gesellschaft kennen, die Institute für physikalische Forschungen betreibt. Welche Dramatik sein Leben zur Zeit des Zweiten Weltkriegs barg, unter anderem davon erzählt Steffen Schroeder in seiner Geschichtsstunde Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor eindrucksvoll.


An der Musik kann man sich aufrichten, hat er seinen Kindern immer erklärt. Und an der Physik. Das mit der Musik haben sie sofort verstanden. Aber was er so liebt an der Physik, hat ihn Erwin als Kind einmal gefragt.

„Die Physik“, hat er geantwortet, „versucht, uns die Welt zu erklären. Was kann es Schöneres und Beruhigenderes geben?“

Steffen Schroeder – Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor, S. 308

Doch was ist, wenn die unumstößlichen Grundsätze und Regeln der Physik plötzlich nicht mehr zu gelten scheinen? Wenn sich sicher geglaubte Gewissheiten auflösen, die Rationalität nicht mehr zu greifen scheint und ein ganzes Land verrückt geworden zu sein scheint? Dem spürt Steffen Schroeder in seinem Roman nach, in dem er eine ganze Reihe von Naturwissenschaftler*innen zur Zeit des Nationalsozialismus porträtiert und zeigt, wie sich der Verlust von Sicherheit und Gewissheiten auf sie auswirkt.

Die Physiker

Dabei bildet Max Planck als Titelheld den Hauptpart in Schroeders Geschichtsstunde. Beginnend im Oktober 1944 zeigt er den Nobelpreisträger im Exil. Nach den Bombenangriffen ist er zusammen mit seiner Frau Marga aufs Land nach Rogätz an der Elbe geflohen. Die Nazis erwarten sich von ihm als herausragenden Forscher ein öffentliches Bekenntnis zum Führer, doch Planck kann und will ihnen dieses Bekenntnis nicht geben.

Steffen Schroeder - Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor (Cover)

Ihn treibt der Gedanke um seinen Sohn Erwin um, der im Gefängnis in Berlin Tegel sitzt und seiner Hinrichtung harrt. Dieser hatte sich im Kreis der Verschwörer rund um Carl Friedrich Goerdeler engagiert und schon früh vor den Kriegsplänen Hitlers gewarnt. Als Intimus des früheren Reichskanzlers Kurt von Schleicher war Planck bei den Nazis eh schon nicht wohlgelitten und wurde unter Vorsitz von Roland Freisler vor dem „Volksgerichtshof“ schließlich zum Tode verurteilt.

Planck will seine Kontakte nutzen, um das Todesurteil gegen seinen Sohn in eine Gefängnisstrafe umzuwandeln. Währenddessen ist es Erwin Plancks Frau Nelly, die in der Charité unter Wilhelm Sauerbruch unermüdlich Kranke und Verletzte operiert und versorgt. Und auch in der neutralen Schweiz im sogenannten Burghölzli kümmert man sich in diesen letzten Tagen des Jahres 1944 um Versehrte – hierbei handelt es sich aber am psychisch beeinträchtigte Patient*innen, die dort in der heute unter dem Namen Psychiatrische Universitätsklinik Zürich bekannten Klinik mit teils drastischen Methoden „therapiert“ werden. Einer der Patienten: Eduard Einstein, Sohn des weltberühmten Physikers und Vater der Relativitätstheorie, der derweil in Princeton im Exil lebt und einst von Max Planck entdeckt wurde.

Widersprüche und der Verlust von Gewissheit

Um dieses Figurenensemble herum gruppiert Steffen Schroeder seine Erzählung, die die teils widersprüchlichen Figuren eindrucksvoll in Szene setzt. Einstein, der sich von seinen Frauen schnell eingeengt fühlt und in Affären stürzt und trotz aller physikalischen Hellsichtigkeit privat doch bemerkenswert verblendet ist, Sauerbruch, der als hochdekorierter Arzt von Berlin aus ins unterfränkische Amorbach reist und dabei die SS-Schergen am Wegesrand stehen lässt, Planck, dem aller Ruhm nicht nützt, um seinen Sohn aus der Haft der Nazis zu befreien und der sich zudem weigert, an der Entwicklung der „Deutschen Physik“ mitzuwirken.

Steffen Schroeders Buch ist pointiert in seiner Darstellung dieser Physiker, obschon sein Buch nicht davor gefeit ist, in manchen Erklärpassagen etwas zu theoretisch zu werden, etwa wenn er die Hintergründe zur Entdeckung der Röntgenstrahlen oder den Ebert’schen Badehosenskandal noch einmal nacherzählt.

Solche Wikipedia-artigen Exkurse bleiben aber in der Minderheit, weil sich Schroeder neben seinem Panoptikum der Physiker*innen von Lise Meitner bis zu Otto Hahn eben auch auf die Brüche im Leben seiner Hauptfiguren konzentriert. Die Verluste sämtlicher Gewissheiten und den krassen Widerspruch der Verlässlichkeit physischer Regeln und dem erratischen Treiben in den letzten Monaten des Kriegs, Steffen Schroeder arbeitet all das wunderbar heraus – vielleicht auch bedingt durch die eigene biografische Nähe zum Objekt seines Schreibens. Denn der Autor ist entfernt mit Max Planck verwandt und hat für seinen Roman viele zum Teil unbekannte Korrespondenzen und Schriftstücke des Physiknobelpreisträger gehoben und gesichtet.

So entsteht ein Buch, das neben viel Geschichtsstunde und Naturkunde eben auch Raum für die Dramen des Lebens lässt. Wie sich Erwin Planck noch einmal hinausträumt in die Welt, wie Einstein die Verfehlungen seines Lebens räsoniert oder Planck senior Rückschau auf Erreichtes und Verpasstes hält, das ist ausnehmend gut gemacht und geht nahe, ohne auf die emotionale Tränendrüse zu drücken.

Fazit

Steffen Schröder erzählt souverän und hochinteressant vom Verlust der Gewissheiten, vom Widerspruch physikalischer Sicherheiten und erlebtem Chaos und von Fehlern, vor denen nicht einmal ein Nobelpreis bewahren kann. All das verdichtet er auf die letzten Monate des Kriegs, wobei durch die Fokussierung auf sein Ensemble aus Figuren zu keinem Zeitpunkt Langeweile entsteht. Eine packende Geschichtsstunde, die die Zeit von Oktober 1944 bis zum Sieg der Alliierten in den persönlichen Biografien und Schicksalschlägen von Schroeders Naturwissenschaftler*innen noch einmal nacherlebbar werden lässt.


  • Steffen Schroeder – Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor
  • Büchergilde Gutenberg, Artikelnummer 174367
  • 320 Seiten. Preis: 21,00 €
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Emmanuel Carrère – Yoga

Sorgt Yoga für Ausgeglichenheit, Unbeschwertheit und einen ruhigen Geist? Wenn man Emmanuel Carrères Schilderungen in Yoga nachverfolgt, dann könnte man an dieser Hypothese deutlich zweifeln. Denn in seinem ebenso radikalen wie erschütternden Bericht offenbart sich Carrère als Suchender, den Yoga nicht vor dem Fall in psychische Abgründe beschützen konnte.


Gerade einmal zwanzig Prozent unserer Gedanken sind es, die wir auf die unmittelbare Gegenwart richten. Die übrigen 80 Prozent sind Abschweifungen, die uns in die Vergangenheit und Zukunft blicken lassen, aber sicher einer Verhaftung im Hier und Jetzt entziehen. So zitiert Emmanuel Carrère den Buddhisten Chögyam Trungpa, dessen Worte Carrère während einer Meditation in den Sinn kommen und damit gleich eindrücklich den Beweis liefern, dass an der These etwas dran sein könnte.

Yoga und Terror

Emmanuel Carrère - Yoga (Cover)

Denn obwohl Carrère im Yogaretreat Vipassana zu Ruhe und Harmonie finden will, ist es mit der Ruhe im Geist und der reinen Konzentration auf das Sein in der Gegenwart nicht weit her. Schon an seinem zweiten Tag im Yogaretreat wird Carrère durch eine schlechte Nachricht aus der selbstgewählten Isolation gerissen – und schon sind sie wieder da, die 80 Prozent der dauerkreisenden Gedanken, die er eigentlich abstreifen wollte. Und nicht nur der Aufenthalt dort im Retreat endet, auch das meditative Yogabuch, das er eigentlich verfassen wollte, bricht ab. Das ist trotz der Ankündigung zu Beginn des Buchs in seiner Heftigkeit ein Schock. Denn es kommt noch schlimmer.

Nach dem Terroranschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo, der sich während Carrères Aufenthalt in Paris ereignet hat, kommt auch ein Freund des Schriftstellers ums Leben. Eine manische Phase des Schriftstellers endet mit einem viermonatigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, Elektroschocktherapie inklusive. Und schließlich landet Carrère auf der griechischen Insel Leros, wo er mit dem Elend der europäischen Flüchtlingspolitik konfrontiert wird.

Ein Buch über Yoga und kein Buch über Yoga

Yoga ist ein Buch über Yoga und zugleich überhaupt kein Buch über Yoga. Wer würde schon einen intimen Bericht aus dem Inneren einer psychiatrischen Anstalt oder die Schilderung von Flüchtlingsschicksalen in einem Buch namens Yoga erwarten? Trauer, Tod und Sehnsucht sind starke Elemente in diesem Buch. Elemente, die man gemeinhin wenig mit Yoga assoziiert, steht es doch eigentlich zumindest im breiten Bewusstsein für Ausgeglichenheit und Harmonie.

Und doch ist die verbindende Klammer auch in den scheinbar völlig disparaten Momenten des Buchs, die nur durch Carréres radikale Subjektivität zusammengehalten werden, Yoga. Beziehungsweise die Philosophie dessen, etwa wenn er immer wieder vritti ausmacht, die Ströme des Bewusstseins, die sein Leben beeinflussen und auf ihn einwirken. Oder wenn er am Strand von Leros mit jungen Geflüchteten Tai-Chi praktiziert und nach Erfüllung und Sinn sucht. Stets findet er Rückhalt in der Theorie des Yoga, auch wenn hier Dinge wie Trainingsmatten oder Entspannungsgong kaum vorkommen. Zum Glück, wie ich finde.

Denn auch, wenn man mit Yoga nichts anfangen kann, einem auch der Gedanke von Spiritualität denkbar fern liegt, so gelingt es Carrère doch, seine Faszination, die ihm Yoga und dessen Theorie verheißt, glaubhaft zu vermitteln. Darüber hinaus ist das Buch auch das Dokument – oder besser die Meditation – eines Kreisens um die Frage nach Ruhe und Erfüllung im eigenen Leben.

Eindringliche Autofiktion

Carrère, der schon immer ein Suchender war, etwa nach den Wurzeln seines Glaubens in Das Reich Gottes, zeigt hier mit den Mitteln der Autofiktion, was diese in ihren besten Momenten ermöglicht. Einblicke in das Seelenleben und ein Gefühl von Ehrlichkeit, wenn er seine Niederlagen und sein stetes Ringen um Ausgeglichenheit schildert.

Außer George Langelaans Kurzgeschichte hatte ich seit Monaten nichts mehr gelesen, doch eines Tages öffnete ich im Café Puschkin noch einmal den Pappordner, auf den ich in Großbuchstaben Ausatmen geschrieben hatte, und begann, die etwa 200 000 Zeichen Notizen über Yoga, Tai-Chi, Meditation und all diese Marotten, die mich mein halbes Leben lang beschäftigt haben, nicht wirklich zu lesen, aber zu überfliegen – und mit welchem Ergebnis? Die Antwort könnte einen zur Verzweiflung bringen. Dreißig Jahre, um innere Ruhe und strategische Tiefe zu finden, dreißig Jahre, um sich das Leben als Ausweg aus dem Chaos und als geduldige Arbeit an einem Zustand der Gelassenheit und des Staunens vorzustellen, dreißig Jahre, um trotz aller Abstürze und Depressionen daran zu glauben, um am Ende, wenn das Alter kommt und obwohl man ein Haus und eine Familie und alles hatte, um weise und glücklich zu sein, findet man sich in Embryohaltung allein in einem Bett für kaum eine Person im verlassenen Haus einer einsamen, verlorenen Frau wieder, die ebenfalls auf die Südhalbkugel verschwunden ist, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Als Lebensbilanz macht das nicht viel her. Und ist auch keine besonders gute Werbung für Yoga. Aber da liege ich falsch: Yoga hat damit nichts zu tun, das Problem bin ich. Yoga tendiert zur Einheit, aber ich bin zu gespalten.

Emmanuel Carrère – Yoga, S. 302

Fazit

Und auch wenn man anführen möchte, dass das Buch doch eine reichlich wilde und ungelenke Mischung sei, die Yoga-Betrachtungen von psychiatrischen Selbstbeobachtungen abgelöst werden, Fragen des Schreibens mit denen vom Zehn-Finger-Tippsystem, Lyrik oder Interpretationen von Chopins Polonaise héroique zusammengeworfen werden, so hat dieses Buch doch eine Klammer. Und diese Klammer ist Emmanuel Carrères eigene Präsenz, seine Gedanken, seine Faszination für die Welt des Yoga und seine autofiktionale Radikalität im Denken und Schreiben, die hier eine ungemein eindringlich Wirkung entfaltet. Yoga überrascht immer wieder und berührt durch die Offenheit und das stete Streben nach Ruhe und ja – Glück. Und insofern ist dieses Buch selbst auch ein wirklicher Glücksfall und das beste Werk im Schaffen des französischen Schriftstellers bislang und der Beweis, wie Autofiktion in ihren besten Momenten funktionieren kann.


  • Emmanuel Carrère – Yoga
  • Aus dem Französischen von Claudia Hamm
  • ISBN 978-3-7518-0058-7 (Matthes & Seitz)
  • 341 Seiten. Preis: 25,00 €
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Johanna Holmström – Die Frauen von Själö

Drei unterschiedliche Frauen, über 100 Jahre Handlungszeitraum, eine Insel: das ist der neue Roman von Johanna Holmström. In ihm widmet sich die schwedischsprachige Finnin einem wenig bearbeiteten Kapitel in der Geschichte ihres Landes – nämlich dem der Insel Själö (übersetzt von Wibke Kuhn).

Diese Insel befindet sich vor der Südwestküste Finnlands im dortigen Schärengarten. Etwa zwei Kilometer beträgt der Durchmesser der Insel – und bis auf die Tatsache, dass ein Asteroid nach der Insel benannt wurde, gibt es eigentlich kaum nennenswerte Besonderheiten oder Sehenswürdigkeiten. Eine Kirche, heutzutage eine Forschungsstation, ein altes Krankenhaus, das war es. Aber gerade dieses Krankenhaus hat eine erschütternde Vergangenheit, die Johanna Holmström in ihrem Roman wieder ans Tageslicht holt.

Sie erzählt von drei Frauen, der Schicksal eng mit der Insel Själö verknüpft ist. Da ist im ersten Teil Kristina, die im Jahr 1891 eine schier unglaubliche Tat begeht. Mit einem Boot rudert sie nächtens auf einen Fluss hinaus. Dort wirft sie dann ihren Sohn und ihre Tochter schlafend über Bord und rudert dann wieder heim. Eine schier unfassliche Tat, die auch Kristina selbst am nächsten Tag nicht wirklich glauben kann.

Man weist sie in die Nervenheilanstalt in Själö ein, wo man sich um Frauen wie Kristina kümmert, fernab der normalen Zivilisation. Diese Insel wird Kristina nicht mehr verlassen, was sie auch Jahre später im Gespräch mit einem Priester konstatiert:

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Kristina. Aber eines weiß ich. Der Herr ist denen nah, die ein gebrochenes Herz haben, und er rettet die, die geistig verloren sind. Sie wussten nicht, was Sie taten, als Sie ihre Kinder ertränkt haben. Und sie haben selbst gesagt, dass Sie acht Jahre in geistiger Umnachtung verbracht haben. Ist das nicht Strafe genug?“

„Diese Frage entscheiden nicht Sie. Ich habe überhaupt nicht das Gefühl, meine Verbrechen gesühnt zu haben, und ich bin froh, sie jeden Tag aufs Neue zu sühnen.“

„Nein Sie werden gesund werden, Kristina. Schauen Sie sich doch an, wie Sie hier sitzen und mit mir reden. Sie können gesund werden, KRistina, wenn Sie es nur versuchen.“ (…)

Sie schaut ihn eine Weile an und deutet dann mit einem Nicken zum Friedhof. Erland folgt ihrem Blick.

„Ich werde diese Insel niemals verlassen“, sagte sie. „Von hier … von hier führt nur ein Weg fort, und der geht dorthin.“

Holmström, Johanna: Die Frauen von Själö. S. 120

Pfleger*innen kommen und gehen, Priester und Ärzte kommen und gehen – aber Kristina wird die Insel tatsächlich nicht mehr verlassen.

Drei Frauen in der Nervenheilanstalt

Auch die junge Elli wird Jahrzehnte später auf Själö interniert. Diese hat sich allerdings keines Verbrechens schuldig gemacht, vielmehr ist sie einem Komplott um Liebe und Enttäuschung zum Opfer gefallen. Auch für sie wird Själö zum unbarmherzigen Schicksal, dabei wollte sie eigentlich nur frei und unbestimmt leben. Doch die finnische Gesellschaft kennt auf einen solchen Emanzipationsversuch nur die Antwort – Själö.

Besonders grausam sind neben den psychischen Bedingungen auch die medizinischen Ansichten des Personals, die besonders zur Zeit des Zweiten Weltkriegs unglaubliche Blüten treiben und beim Lesen schaudern lassen.

„Es gibt also keine Chance? Das wollen Sie damit sagen? Keine Chance, jemals entlassen zu werden?“

„Tja, kommt ganz drauf an. Mit der weiblichen Natur verhält es sich nämlich so, dass sie zyklisch ist. Das gilt auch für den weiblichen Wahnsinn. Der Zusammenhang zwischen diesen Wahnsinnszyklen und der Menstruation ist in den meisten Fällen offensichtlich, und sobald die Menstruation aufhört, hört sehr oft auch der Wahnsinn auf. Deswegen hatten schon viele das Glück, zu diesem Zeitpunkt entlassen zu werden“, erklärt er.

Holmström, Johanna: Die Frauen von Själö, S. 176

Auch wenn die Jahre ins Land gehen, wenn man auf Själö gelandet ist, dann wird man kaum mehr von der Insel herunterkommen, außer man gehört zum medizinischen Personal.

Aber auch dieses hat es nicht unbedingt besser, auch wenn man sich auf der anderen Seite befindet. Das wird im dritten Teil des Romans klar, der die Pflegerin Sigrid in den Mittelpunkt stellt. Auch sie ist mit einen Wünschen und Hoffnungen einst nach Själö gekommen. Doch die Hoffnung und Illusionen haben sich im Lauf der Zeit schnell zerschlagen. Und so endet der Roman dann nach über hundert Jahren 1997.

Geblieben ist kaum etwas, außer Enttäuschung, viel Unaufgearbeitetes und jede Menge Frauenschicksale, auf deren unglückliche Leben die Gesellschaft nur die Antwort Ausgrenzung und Psychiatrie kannte.

Eine Reise nach Själö ohne Wiederkehr

Am Ende des traurigen und nachdenklich stimmenden Romans steht dann die Erkenntnis, die allen Frauen von Själö über kurz oder lang immer kommt:

„Jetzt weiß ich, dass das nur ein Märchen ist“, sagt Karin. „Denn in Wirklichkeit werden wir hier nie wegkommen, wusstest du das nicht?“

Elli schweigt einen Augenblick.

„Wie meinst du das?“, fragt sie dann, aber Karin schaut sie gar nicht an.

„Damit meine ich, dass das hier die Endstation ist. Das Ende meiner Reise. Und deiner Reise auch. Hier wird niemand entlassen (…).“

Holmström, Johanna: Die Frauen von Själö, S. 249

Kein Buch für gute Laune, erhebende Stimmung oder ein wenig Flucht aus der Realität. Aber ein nachdenklich machendes Mahnmal für ein erschütterndes Kapitel (finnischer) Psychiatriegeschichte.

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