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Thomas Melle – Haus zur Sonne

Wie wäre es, andere Leben anprobieren zu dürfen und einmal einen Blick in mögliche Versionen des eigenen Leben zu werfen? Der Erzähler in Thomas Melles Roman darf genau das im Haus zur Sonne erleben – doch können alternative Leben helfen, Manien und Depression zu überwinden – oder führt das in Konsequenz doch zum Tod? Vor dieser Frage sieht sich der Erzähler und wir als Lesende mit ihm.


In Die Welt im Rücken, seinem ebenfalls für die Endrunde des Deutschen Buchpreises nominierten Roman erzählte Thomas Melle von seiner bipolaren Erkrankungen, die ihn immer wieder peinigt und in peinliche Situationen zwang. Auch in seinem neuen Buch Haus zur Sonne spielt diese Erkrankung eine entscheidende Rolle. Denn der Erzähler möchte nicht mehr. Ein neuer Schub seiner Krankheit hat alle Fortschritte zunichte gemacht, in seiner Wohnung zwischen beschmierten Wänden und ausgepackten Kartons vegetiert er mehr vor sich, als wirklich zu leben.

Ich hatte meinen Tod schon oft durchgespielt, ihn mir vorgestellt, und dazu auch, leider, die kleinen Reaktionen darauf: die Trauer von manchen, das Abwinken von anderen, das kurz von einem nostalgischen Impuls durchzuckte Desinteresse wohl auch ehemaliger Freunde. Dann weiter im Text des Lebens, es ist halt so, verloren, vergessen, nichts zu machen.

Thomas Melle – Haus zur Sonne, S. 19 f.

Ein Aufenthalt im Haus zur Sonne

Thomas Melle - Haus zur Sonne (Cover)

Da kommt die Einladung zu einem Aufenthalt im neuartigen Haus zur Sonne gerade zur rechten Zeit. Denn für den selbstbezeichneten dead man walking bietet sich so die Möglichkeit, mittels Halluzination letzte Wünsche vor seinem Abschied von der Welt zu durchleben um dann nach dem Ausprobieren dieser Wünsche aus dem Leben zu scheiden.

Unter Anleitung eines Ärzteteams findet er sich im Sanatorium ein, das sich seltsam abgeschieden von der Welt präsentiert. Kontakte zur Außenwelt existieren eh kaum und so kann der Erzähler noch einmal frei von allem Ballast neu beginnen. Die Therapie öffnet ihm die Möglichkeit, in alternative Lebensentwürfe seiner selbst zu blicken und seine größten Wünsche zu erleben.
Von einem Dasein als Rockstar auf der Bühne bis zu einer Orgie, vom perfekten Hühnerfrikassee aus Kindheitstagen bis hin zu Erfolgen als Forscher im Kampf gegen den Krebs bietet das Haus zur Sonne alle nur denkbaren Varianten und Entwicklungen, die das Leben bereithalten kann. Doch den größten Wunsch mag man dem Erzähler dort zumindest vorerst noch nicht erfüllen – den seines eigenen Todes.

Ein Möglichkeitenroman

Thomas Melle hat mit Haus der Sonne einen Möglichkeitenroman geschrieben, der die Vielzahl von eventuellen Verläufen einfängt, die ein Leben bedeuten kann. Immer wieder wird der Erzähler in eine neue Simulation geschubst – und kann doch die schwarzen Hunde nicht vergessen, die ihn unbarmherzig quälen.

So liest man den Roman unter dem Paradox, das auf der inhaltlichen Ebene wahnsinnig viel passiert, wenn Melles Protagonist immer wieder neue Varianten von Leben und Eindrücken anprobiert, er aber doch auf der Stelle tritt, was das Vorankommen mit der Krankheit und die äußere Handlung anbelangt. Denn obschon er neue Menschen im Haus zur Sonne trifft -so wirklich kommt er dort nicht los und sitzt damit fest im Sanatorium wie Hans Castorp einst im Berghof oder Jack Torrance in Stephen Kings Shining im Overlook-Hotel.

Das Buch schwankt zwischen der Traum-Therapie und der eigenen Trauma-Therapie, der sich der Erzähler hier literarisch unterzieht. Es geht weniger vorwärts und vielmehr hinein in die Verarbeitung der eigenen Depression und die darin erlebten Exzesse und Peinlichkeiten als zentrales Thema des Buchs.

Zwischen Trauma-Therapie und Traum-Therapie

So beschreibt Melle den Bann der erdrückenden unsichtbaren Krankheit, unter der der Erzähler steht. Zumindest in Ansätzen macht der Roman nachvollziehbar, wie sich die Manie anfühlt und wie der Erzähler immer wieder zwischen Euphorie und Glücksgefühlen und tiefster Niedergeschlagenheit oszilliert. Ähnlich wie zuletzt Svealena Kutschke versucht auch er durch das Erzählen die Wahrnehmung der Welt infolge einer psychischen Krankheit nachzuzeichnen – und überzeugte zumindest mich damit etwas weniger als Kutschke in ihrem maximal dichten und zwingenden Gespensterfische.

Ohne Zweifel ist das Buch in der Fülle an Psychiatrieromanen in diesem Literaturjahr aber nicht nur aufgrund des dystopisch-rätselhaften Schauplatzes herausstechend. Im Spiel mit Fiktion und Fakt, Wahn und Aberwitz ist das Buch bemerkenswert – verlangt den aber Lesenden doch nicht nur angesichts der Suizid-Thematik sondern auch aufgrund des hochnervösen Tretens auf der Stelle einiges an Resilienz und Kraft ab.

Fazit

Ich selbst stehe etwas ratlos vor diesem Buch, dessen ganzes Erzählen für mich etwas von einer dunklen Zeitschleife hat, in der immer wieder der Wunsch des eigenen Suizids variiert wird und in der sich die kurz aufblitzenden Momente des Glücks angesichts der zirkulären Rückfalls in die Todessehnsucht irgendwann abgenutzt haben. In Verbindung mit der Statik des Plots wurde aus dem Buch für mich eine zu zähe Angelegenheit, als dass ich mich als Entscheider (im Gegensatz zum hier fast unisono begeisterten Hochfeuilleton) schwertäte, für Melles Buch den sicheren Gewinn des Deutschen Buchpreises auszurufen.

Anders sieht das beispielsweise auch Blogger Stefan Härtel alias Bookster HRO, der das Buch auf seinem Blog als grandios lobt.
Empfehlen möchte ich auch die Analyse von Alexander Carmele, der sich auf seinem Blog Kommunikatives Lesen ebenfalls Thomas Melles Text widmet.

Ein Hinweis sei auch auf heute Abend gegeben. Denn dann wird bei der alljährlichen Preisverleihung im Frankfurter Römer entschieden, wer der sechs nominierten Autor*innen den Preis für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres mit nach Hause nehmen darf und sich auf der im Anschluss beginnenden Frankfurter Buchmesse der größten Öffentlichkeit sicher sein darf (außer es kommt wie im letzten Jahr zu einem Eklat).
Besprechungen zu den nominierten Werken von Jehona Kicaj, Christine Wunnicke, Dorothee Elmiger und Thomas Melle sind zumindest schon auf dem Blog vertreten.


  • Thomas Melle – Haus zur Sonne
  • ISBN 978-3-462-00465-6 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €

Lina Schwenk – Blinde Geister

Fluchtraum Bunker: in ihrem Debüt Blinde Geister betrachtet Lina Schwenk einmal mehr die Traumata der Nachkriegsgeneration und wie sich diese durch die Generationen ziehen und wirken. Daraus entsteht ein dichter und dunkler Text, der nun auch für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2025 nominiert wurde.


Die Frage der transgenerationalen Traumata ist eine, die die deutschsprachige Gegenwartsliteratur schon seit längerem beschäftigt. So stehen die Bücher von Antonia Baum oder Rabea Edel stellvertretend für die Fülle an Büchern, die das Fortwirken von Traumata insbesondere seit der Zeit des Zweiten Weltkriegs innerhalb familiärer Gefüge untersuchen. Wie vererben sich Verletzungen, psychische Erkrankungen oder das Schweigen über Erlebtes? Warum bricht Generationen später das wieder auf, was die Generationen zuvor doch erlebt und einfach beschwiegen wähnten?

Während mit Jehona Kicaj neben Lina Schwenk eine weitere Debütantin auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises steht, die in ë diesen Komplex in Bezug auf den Kosovokrieg untersucht, steht bei Lina Schwenk eine schon fast bilderbuchhafte BRD-Familie im Mittelpunkt. Vater Karl, Mutter Rita, Oma Fritzchen, dazu die zwei Kinder Martha und Olivia, sie bilden die Familie, auf die wir Leser*innen hauptsächlich aus Olivias Augen blicken.

Vom Fortwirken des Kriegs

Der Krieg ist lange her, sagt man. Schon über zwanzig Jahre. Wir leben jetzt in Frieden.

Lina Schwenk – Blinde Geister, S. 35

Es ist die Nachkriegszeit, aus dem Radio dringen die Beatles, man fährt mit dem Bulli ans Meer – und doch ist die Idylle und Sorglosigkeit nur Fassade. Denn im Inneren wirken die Kräfte fort, die sich zwanzig Jahre zuvor im Zweiten Weltkrieg zeigten. Oma Fritzchen bekommt immer wieder Angstattacken und will sich im Dunklen verstecken, um einer Entdeckung zu entgehen. Vater Karl kämpft ebenfalls mit den Dämonen und sieht im Bunker, den er als Schutzraum für die Familie angelegt hat, die Rettung. Immer wieder müssen Martha und Olivia mit ihm dort hinabsteigen, akribisch kontrolliert er die Vorratspackungen.

Lina Schwenk - Blinde Geister (Cover)

Doch das kann seine Tochter auch nicht behüten – denn kaum zuhause ausgezogen treten auch bei ihr besondere Verhaltensweisen auf.

So erweist sie sich als radikale Anhängerin des Minimalismus und veräußert immer mehr Besitz aus ihrer Wohnung. Aufs Heizen verzichtet sie ebenfalls und regrediert zusehends, ehe sie in eine Psychiatrie eingewiesen wird (womit sich Blinde Geister in eine weitere bemerkenswerte Riege an jüngst erschienenen deutschsprachigen Romanen einreiht, die in Psychiatrien spielen und um psychische Erkrankungen kreisen, von Leon Englers Botanik des Wahnsinns angefangen über Anna Prizkaus Frauen im Sanatorium bis hin zu Svealena Kutschkes Gespensterfische).

Die Gefahr im Augenwinkel

Die Ängste vor dem Krieg und Unsicherheiten, sie manifestieren sich in den verschiedenen Generationen und beeinträchtigen das Leben über Jahrzehnte hinweg, mag auch auf den ersten Blick Frieden herrschen. Die Angst vor dem Krieg, man wird sie nicht so leicht los, insbesondere da der Krieg zumindest in der Wahrnehmung von Schwenks Familie ja immer da war und sich immer wieder wandelt. Vom Zweiten Weltkrieg hinein in den Kalten Krieg bis in unsere Tage, in denen der russische Präsident durch Angriffskriege und beständige Drohgesten auffällt – die Gefahr ist stets präsent, wenn man einen so wachen Blick auf die schlafenden Geister hat, wie es in dieser Familie der Fall ist.

Von diesem Blick auf die stets im Augenwinkel lauernde Gefahr und die psychischen Abgründe in der Familie erzählt Lina Schwenk sprachlich reduziert und unauffällig, dafür aber sehr pointiert und auf ihr Figurenensemble konzentriert. Alle Traumata und Versehrungen lassen sich im Inneren dieser Familie ablesen, was das Buch auch gut in diese Zeit einfügt, in der das Sprechen und der Blick auf blinde Flecken zunehmend auf Nachfrage und Interesse stößt.

Fazit

Den Traumata kann man auch nicht im Bulli davonfahren – aber man kann davon erzählen. Das lehrt Lina Schwenks Debüt, das genau hineinblickt ins Gefüge dieser so durchschnittlichen und damit auch recht repräsentativen Familie, in der alle mit den blinden Geistern kämpfen müssen. Gerade einmal 180 Seiten benötigt sie für ihren präzisen Blick, der in ebenfalls genau gesetzten Sprache dargeboten wird. Gesellschaftlich relevant, verdichtet und vielfach übertragbar, greift dieses stimmige Debüt viele aktuelle Themen auf und ist damit ganz folgerichtig für den Deutschen Buchpreis sowie für den Debütpreis des Harbourfront-Festivals und den ZDF Aspekte-Literaturpreis nominiert.


  • Lina Schwenk – Blinde Geister
  • ISBN 978-3-406-83704-3 (C. H. Beck)
  • 190 Seiten. Preis: 24,00 €

Leon Engler – Botanik des Wahnsinns

Was tun, wenn es in der ganzen Familie psychologische Erkrankungen und wahnhaftes Verhalten gibt? Der Erzähler in Leon Englers Debüt Botanik des Wahnsinns tut das Konsequente: er geht in die Psychiatrie. Das allerdings als Arzt und nicht als Patient.


Viel ist es nicht, das vom Leben übrigbleibt. War es bei Ricarda Messners Debüt Wo der Name wohnt nur das Klingelschild, das nach der Wohnungsauflösung den sichtbaren Hinweis auf die Existenz der eigenen Großmutter lieferte, so ist der Erzähler in Leon Englers Debüt nun mit einigen Kisten an Hinterlassenschaften beschäftigt, die sich ihm sieben Jahre nach ihrer Einlagerung wie eine Zeitkapsel präsentieren. Beim Öffnen wird er mit der eigenen Familiengeschichte und deren Besonderheiten konfrontiert.

Am Ende bleiben sieben Kartons. In diesen Kartons, gestapelt in einem dunklen Lagerabteil in Wien, befinden sich ausgerechnet die Dinge, die meine Mutter aussortiert hatte: alte Rechnungen, Steuererklärungen, Müll.

Ich gehe die Kartons durch. Einer davon ist randvoll mit ungeöffneten Briefen. Schreiben von Inkassobüros und Anwälten, Vollstreckungsbescheiden und fristlose Kündigungen. Ihre Bedrohlichkeit haben die Briefe längst verloren. Die Poststempel darauf sind sieben Jahre alt. Ich setze mich auf den Boden, öffne den ersten Brief. Das Licht geht aus. Ich hebe meinen Arm. Das Licht geht wieder an.

Leon Engler – Botanik des Wahnsinns, S. 7

Alle Plagen aus den Bibeln der Psychiatrie

Die eingelagerten Kisten sind Spuren eins zunehmend aus den Fugen geratenen Lebens, das nicht das einzige in der Familie des Erzählers ist. Denn in Botanik des Wahnsinns spürt der Erzähler den einzelnen Figuren seiner Familie bis in die Großelterngeneration hinein nach – und allem, was sie dabei verband. Denn psychologischen Krankheiten und auffälligen Symptome ziehen sich durch die Generationen. Die Aufzählung der psychologischen Auffälligkeiten, die der Erzähler seinem Wiener Nachbarn offenbart, gerät so mehr als eindrücklich:

Eines Tages erzähle ich ihm von meiner Furcht, verrückt zu werden. Der Nachbar lacht nur. Wir zeichnen einen Stammbaum und überschlagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit mich welches Schicksal ereilen könnte: Schizophrenie? Sucht? Depression? Bipolare Störung? Mein Stammbaum ist befallen von so ziemlich jeder Plage, die in den Bibeln der Psychiatrie zu finden ist. In wessen Fußstapfen soll ich treten? Welche verirrte Linie weiterführen? Die Depression meines Vaters? Die Schizophrenie meines Großvaters? Die Todessehnsucht meiner Großmutter? Die Abhängigkeit meiner Mutter?

Leon Engler – Botanik des Wahnsinns, S. 22

Doch nicht nur die Familie ist schon längst zerfallen, auch sein kurzer Text springt von Vergangenem zur Gegenwart, vom eigenem Erleben des Erzählers hin zu den Erinnerungen an seine Familie. Dadurch zerfällt der Text zwar strukturell, bildet aber dennoch ein Ganzes.

Depressionen, Schizophrenie und suizidale Tendenzen

Leon Engler - Botanik des Wahnsinns (Cover)

In seinen kurzen Kapiteln widmet sich der Erzähler all den familiären Figuren und nimmt ihre Eigenheiten und ihre jeweiligen Wesen und Kämpfe mit ihren Krankheiten in den Blick.

Die Mutter, die als Journalistin reüssierte, ein mondänes Leben führte und dann doch in einer zwangsgeräumten Wohnung in Wien endet, der Vater, der sich von der Mutter trennt und Zeit seines Lebens mit den eigenen Dämonen der Depression kämpft, all diese Figuren aus dem familiären Kosmos stellt der Erzähler in seinem Buch vor, blickt dabei aber auch auf seine eigene Position in diesem Kosmos und seine Befürchtungen, den psychologischen Dispositionen ebenfalls zu erliegen.

Sein Lebenswandel hin zu einem Studium der Psychologie (was den Erzähler mit dem Autor Leon Engler selbst verbindet), der dann folgende Alltag als Therapeut in einer psychiatrischen Einrichtung (was wiederum an Joachim Meyerhoffs Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war erinnert), verbunden mit allgemeinen Reflektionen über das „Normale“ und das „Verrückte“, all das fügt sich zu den Porträts seiner Familie und gibt einen Eindruck vom breiten Spektrum psychischer Verfasstheit, auf dem sich Englers Figuren an ganz unterschiedlichen Stellen einsortieren.

Die Überwindung der Sprachlosigkeit

In seinem manchmal fast ein wenig zu sehr auf Pointe oder eine markante Punchline geschriebenen Text gelingt dem Erzähler das, was er am Ende des Buchs als sein erzählerisches Anliegen formuliert. Die Sprachlosigkeit, in der sich die Mitglieder seiner Familie immer wiederfanden, er überwindet sie mit seinem Erzählen und verschafft ihr so eine Geschichte, weit über bloße sieben Kisten in einem Abstellraum in Wien hinaus.

Botanik des Wahnsinns ist der Blick auf eine besondere Familie und ihre Kämpfe und Probleme – und der Beweis, wie Literatur Stigmata überwinden, Verständnis schaffen und ein literarisches Familienalbum schaffen kann, das für die dunklem Töne ebenso Raum vorsieht wie für das Helle.


  • Leon Engler – Botanik des Wahnsinns
  • ISBN 978-3-7558-0053-8
  • 206 Seiten. Preis: 23,00 €

Anna Prizkau – Frauen im Sanatorium

Wenn es eine auffällige Häufungen eines speziellen Schauplatzes in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in diesem Frühjahr und Sommer gibt, dann ist es der der Psychiatrie.
Nach Svealena Kutschke und kurz vor dem Erscheinen von Leon Englers Debüt Botanik des Wahnsinns schickt auch Anna Prizkau ihre Heldin Anna in ein Sanatorium in psychiatrische Behandlung. Dort trifft sie auf eine ganze Gruppe von Frauen im Sanatorium, die allesamt von ganz eigenen Dämonen heimgesucht werden.


Weckt der Name des Sanatoriums auch unweigerlich Erinnerungen an Thomas Manns Der Zauberberg, so hat die Hans-Lewitt-Klinik in Anna Prizkaus Romans herzlich wenig mit Davos, Lungenkranken und Entschleunigung zu tun. Vielmehr versammeln sich dort eine ganze Riege an Figuren, die allesamt mit eigenen Dämonen zu kämpfen haben.

Frauen im Sanatorium, Schicksale im Blick

Anna Prizkau - Frauen im Sanatorium (Cover)

Da ist Elif, deren Verlobter Baschir nicht mehr ist und die sich trotzdem nicht von der Arbeit im familiären Feinkostladen vor einem Kaufland abhalten lassen wollte, bis sie nun in der Klinik gelandet ist. Die Exhibitionistin Veronika, die als Rettungssanitäter in der Nacht auf der Wache so lange die Kleidung fallen ließ, bis es zu einem Gespräch mit den Vorgesetzten kam. Marija, die in jeder Therapiesitzung durch ungezügelte Ich-Bezogenheit auffällt – oder eine Gruppe von sieben Soldaten, deren Gravitationszentrum und Anführerin Katharina ist, die nicht nur in Sachen Alkoholkonsum die Patienten der Klinik zu Hochleistungen anstacheln will.

Vor allem ist da aber die Erzählerin Anna, aus deren Augen wir auf die Figuren in der Klinik blicken und die regelmäßig im angeschlossenen Park die Flamingos aufsucht, wo sie einem von ihr auf den Namen Pepik getauften Flamingo ihre Sorgen und Nöte anvertraut. Die Flucht ihrer Familie nach Deutschland, ihr Schicksal, das sie ins Sanatorium gebracht hat, die Sitzungen bei Doktor „Ich verstehe“ Fauner, all das vertraut sie Pepik und uns als Lesenden an.

Über alle Porträts und Schilderungen hinweg bleibt dabei immer ein Zweifel ob der Verlässlichkeit von Anna als Erzählerin. Was stimmt, was ist ausgedacht? Diese Frage steht hinter vielen Lebensgeschichten, besonders der von Elif, die sie in Heften niedergeschrieben hat und die Anna immer wieder liest und auf Ungereimtheiten stößt. Aber auch hinter die Wahrhaftigkeit der Erzählerin Anna, die wie einst wie ihre Schöpferin Anna Prizkau aus Russland nach Deutschland migrierte, gilt es Fragezeichen zu setzen.

Unzuverlässigkeit aller Figuren

Frauen im Sanatorium ist ein geschmeidig erzählter Roman, dessen Gravitationszentrum die Figuren und ihr Miteinander im Sanatorium sind. So begehrt Anna Mitpatient David und entwickelt eine Abhängigkeit zu diesem. Aber auch durch die neu zur Gruppe hinzugestoßenen Soldaten wird die Patientin auf eine ungute Bahn gelenkt. Immer wieder unterbrechen Vignetten über die Schicksale der Figuren den Fluss und machen so auch die Unrast und Unzuverlässigkeit der Figuren klar.

Nun steht Prizkaus Werk aber wie eingangs schon erwähnt in einer ganzen Riege weiterer Romane mit dem Handlungsort Psychiatrie – und muss sich so auch dem Vergleich mit diesen Romanen stellen. Besonders dem Vergleich mit dem über hundert Jahre ausgreifenden und auf Personal wie Patienten gleichermaßen blickenden Gespensterfische von Svealena Kutschke hält Frauen im Sanatorium leider nicht ganz stand.

Obgleich deutlich gefälliger erzählt als Kutschkes anspruchsvolle impressionistische Prosa geht das zu Lasten der Intensität und Figurengestaltung. Bei Anna Prizkau sind es eher Typen oder lebende Krankheitsgeschichten, deren Leid sie beschreibt, aber nicht ganz in die wirkliche Tiefe ihrer Figuren vordingen kann, dazu ist der Blick der Erzählerin Anna zu unsicher

So kennzeichnet eine stets über dem Text schwebende Unzuverlässigkeit das Geschehen in der Hans Lewitt-Klinik, darunter leidet aber auch die Übersichtlichkeit. Wenn alle lügen oder sich die Wahrheit verbiegen, wem kann man da noch trauen? Frauen im Sanatorium ist in dieser Hinsicht ein wilder Ritt, um sich von den Figuren nicht verführen zu lassen, um wenigstens die Ahnung von Übersicht und Zuverlässigkeit zu bewahren. Wie es sich als Patient in so einem Haus anfühlen mag, aus Prizkaus erzählerischem Schütteln der Realität lässt es sich erfahren.

Fazit

Wer sich also von einem gut geschriebenen, gefällig geschilderten Roman wieder einmal an die Hand nehmen lassen will, um kurz darauf von dieser Hand in ein unübersichtliches Feld aus möglichen Wahrheiten geschubst zu werden, der greife gerne zu Anna Prizkaus Roman. Weniger anspruchsvoll als Svealena Kutschke richtet sich Frauen im Sanatorium an eine breitere Leserschaft, deren Sympathie zu Figuren und Vertrauen zu ebenjenen von ihr auf eine Probe gestellt wird, denn: we’re all a bit mad here.


  • Anna Prizkau – Frauen im Sanatorium
  • ISBN 978-3-498-00732-4 (Rowohlt Hundert Augen)
  • 299 Seiten. Preis: 24,00 €

Svealena Kutschke – Gespensterfische

Wie kann man überleben, ohne verrückt zu werden? Oder bedeutet Überleben auch immer, selber ein wenig verrückt zu werden? Svealena Kutschke erkundet in ihrem Roman Gespensterfische die Frage des Überlebens und erzählt weit ausgreifend von Patienten und Ärzten einer norddeutschen Psychiatrie. Daraus entsteht eine Lektüre, die in ihrer Erzählweise herausfordert, aber zugleich zu vielen Fragen und Reflektionen einlädt.


Gespensterfische, das sind Fische, die unter größtem Druck in der Tiefsee leben. Licht dringt in ihren Lebensbereich keines mehr vor, nur üben die Wassermaßen einen großen Druck auf die Tiere aus. Die Fische haben körperliche Merkmale entwickelt, um unter den widrigen Bedingungen leben zu können. Manche von ihnen verfügen sogar über eine eigene Lumineszenz, um dort in der Tiefe überleben zu können. Sie zeigen damit jenen Überlebenssinn, den auch die Figuren in Svealena Kutschkes Roman an den Tag legen.

Denn bei vielen der Figuren handelt es sich um Psychiatrieinsassen einer Einrichtung im Norden des Landes. Wie Gespensterfische haben sie eigene Überlebensstrategien entwickelt, um auf das Leben mit all seinen Zumutungen reagieren zu können. Mal mehr und mal weniger gut eingestellt mit Medikamenten trotzen sie den inneren Dämonen – vor denen aber auch ihre Gegenüber nicht gefeit sind.
Denn viele der Behandelnden sind ebenfalls nicht frei von den Schwarzen Hunden, wie der selbst unter Depressionen leidende Winston Churchill seine Pein einst ausdrückte.

Der Geist war jeden Morgen schon lange vor ihm wach, ausgezehrt von sich selbst. Er schlief nur in Fetzen. Vor einem freien Tag bediente er sich am Medizinschrank. Er war schließlich Psychiater. Auch ihm einmal in der Woche die tiefe kalte See, in der nichts mehr zu finden ist als der eine oder andere Gespensterfisch.

Svealena Kutschke – Gespensterfische, S. 157

Dem herausfordernden Thema von psychischer Belastung, psychischer Probleme und der Behandlung dieser Felder begegnet Svealena Kutschke mit großem Einfühlungsvermögen, die sprachlich nachzuzeichnen vermag, wie sich Depressionen oder andere Krankheitsbilder ausdrücken und vor allem anfühlen. Mit einer wandelbaren und sehr poetischen Sprache springt sie durch die Jahrzehnte und die Leben ihrer Figuren.

Psychiatriegeschichte und der Umgang mit blinden Flecken

Svealena Kutschke - Gespensterfische (Cover)

Immer wieder wechseln die Kapitel, beleuchtet sie die dunkelsten Kapitel der Psychiatriegeschichte dort in Lübeck, als Patienten der Jannsen-Klinik in der Zeit der Nazis der Euthanasie zum Opfer fielen und wie sich der Umgang mit dieser Schuld wandelte. Auch zeigt sie in ihren Figuren den Wandel und die Anpassung an neue Umstände, etwa dann wenn die Künstlerin Laura an einem Bildroman über die Klinikpatientin Olga Rehfeld arbeitet, deren Mann nach der Scheidung zu ihrem behandelnden Arzt werden sollte.

Bei einem Aufenthalt in der Klinik in den 90er Jahren lernt sie diese Lebensgeschichte kennen, die sie nicht mehr loslassen soll. Immer tiefer verstrickt sie sich in das Leben der vor ihr in der Jannsen-Klinik lebenden Frau – und löst durch die sich intensivierende Beschäftigung auch eine Krisis bei Laura aus.

Auch Olga Rehfeld erlebte eine solche Krisis, fand aber in der Verbindung zu ihrer Mitpatientin Noll einen Raum, der ihr einen Umgang mit ihren Problemen ermöglichte. Denn vor allem in der Beschäftigung mit der Sprache, die an das Werk von Lyrikerinnen wie Ingeborg Bachmann, Sylvia Platz, Yoko Tawada oder vor allem Friederike Mayröcker anschließt, fand sie einen Ausdrucksraum. Es ist ein Ausdrucksraum, an den Svealena Kutschke mit ihrer Sprache, den Sprachbildern und den immer wieder verändernden Rhythmen und Melodien ihrer Sätze anknüpft.

Rehfeld glaubte an Arbeit, Beharrlichkeit, Disziplin, was das Gegenteil von Keksen war. Besonders aber glaubte Rehfeld an Räume. Physische Räume. Und Denkräume. Einen physischen Raum hatte sie sich erkämpft. Es gegen das liebevolle Lächeln Fellners durchgesetzt, das Hause gehöre doch ganz ihr, den ganzen Tag, überall könne sie doch –

Svealena Kutschke – Gespensterfische. S. 76

Kunst als Heilungsraum

Mit ihren gemalten Bildern und der graphischen Beschäftigung mit ihrer gewissermaßen Vorgängerin versucht sich Laura an einem Zugang zum Heilungsraum der Kunst, sie für sich öffnen soll. Immer wieder ist diese Kunst für Patienten ein Ausdrucksmittel – und auch Svealena Kutschke nutzt sie ausgiebig, um damit die Innenweilten ihrer Figuren anschaulich erfahrbar zu machen.

Vieles ist in Gespensterfische wie in einem impressionistischen Gemälde hingetupft. Es ist ein Erzählen, das auf das Innen schaut und das dennoch ein Gespür für das hat, was nicht erzählt werden kann und was im Ungefähren bleiben muss. Sie springt nicht nur durch fast zehn Jahrzehnte, sondern blickt auch immer wieder auf unterschiedliche Generationen von Menschen auf beiden Seiten des Behandlungsspektrums und fällt von Figur zu Figur, deren Schicksale sie immer wieder aufgreift.

Sie zeigt dabei, wie durchlässig die Schichten von vermeintlichen Normalen und „Verrücktem“ ist, und wie fragil doch unser Bild der Welt ist, das wir uns machen. Literatur wird bei Kutschke zum seelischen Ausdrucksmittel und zum Überlebenswerkzeug, oder wie es eine ihrer Figuren im Buch in einer Notiz einmal beschreibt: Wenn wir nicht sterben wollen, müssen wir erzählen (S. 222)

Zudem trägt ihr kunstvoller Beitrag neben den in diesem Bücherherbst erscheinenden Werken von Leon Engler oder Anna Prizkau dazu bei, das immer noch klischeetriefende Thema der Psychiatrien und psychiatrischer Behandlung aufzubrechen und ein Bewusstsein für diese Welt und die in ihr lebenden und arbeitenden Menschen zu schaffen – und das stets mit einem Gespür für Brüche und die Fragilität des vermeintlich Normalen.

Fazit

Thematisch wie sprachlich wie strukturell ist Gespensterfische das Gegenteil eines Easy Reads. Kunstvoll komponiert und sehr fein, fast fragil gearbeitet erfordert Kutschkes Buchs das Einlassen auf ihren Text. Wenn man sich aber die Zeit und die gedankliche Offenheit für ihr Erzählen nimmt, so wird man mit einer sprunghaft und gerade dadurch so eindrücklich erzählten Geschichte belohnt, deren Zusammenhänge und Beziehungen sich erst langsam erschließen.

Wie durchlässig die Schichten von vermeintlich Normalem und „Verrücktem“ ist, wie man den Widrigkeiten der Welt trotzt, was Wirklichkeit eigentlich bedeutet und wie sich langsam unser Umgang mit den lange Zeit so stigmatisierten Menschen mit psychischen oder Problemen und Schwierigkeiten wandelt, das lässt sich aus diesem Kunstwerk erfahren, das die Zeit belohnt, die man sich für die Beschäftigung mit Kutschkes Werk und Gedankenwelten nehmen sollte. Denn die Tiefe in diesem Buch ist enorm, auch wenn die Gespensterfische dabei nur Metapher sind.


  • Svealena Kutschke – Gespensterfische
  • ISBN 978 3 89561 363 0 (Schöffling)
  • 224 Seiten. Preis: 24,00 €