Die Jury des Deutschen Buchpreises 2023 hat entschieden. Der Preis für das beste Buch des Jahres geht an den Österreicher Tonio Schachinger für dessen Schulroman Echtzeitalter. Grund genug für mich, mir den Roman etwas genauer anzusehen.
Es gibt deutlich prominentere Besucher einer Bildungsanstalt als die Riege, die das in Wien gelegene Marianum vorweisen kann. Der Mann von Marie von Ebner-Eschenbach war da, der Neffe von Ludwig Wittgenstein – aber eben leider keine wirklich prominenten Namen, mit denen sich die Schule schmücken könnte. Nicht einmal in der österreichischen Literatur findet die Schule Erwähnung. Lediglich der Autor Arno Geiger kann als berühmter Absolvent der Lehranstalt herangezogen werden, ansonsten hat diese Schule mit ihrer „schönbrunnergelben“ Fassaden eigentlich nur Mittelmaß hervorgebracht.
Als ihren jüngsten Zugang kann sie sich nun Till Kokordas rühmen. Diesen hat seine Mutter im Marianum untergebracht, in der Hoffnung auf Bildung und Vervollkommnung seines Charakters. Mit beidem ist es allerdings nicht wirklich weit her, wie Tonio Schachinger, selbst auch Absolvent einer solchen Schule, in seinem Roman Echtzeitalter zeigt. Vom Schuleintritt bis zu dessen Abschluss dort an der Einrichtung begleitet er seinen Protagonisten, der die verschiedenen Unterrichtsmethoden und Professoren dort kennenlernt.
Till und der Dolinar
Da ist der Klassenlehrer (oder im titelverliebten Österreich eben Professor geheißene) Dolinar, der die Schüler mit über die Jahre verfeinerten Didaktik quält. Nicht nur äußerlich ähnelt er dem von J. K. Simmons gespielten Drillmeister Terence Fletcher aus Damien Chazelles Film Whiplash. Wissen ist für ihn eine klare Abprüfung von zu erlernenden Fakten. Eigenständiges oder kritisches Denken gehört nicht den von ihm gelehrten Werten, stattdessen ist sein gelehrtes Weltbild so starr wie der Kanon, der im Falle von Dolinars Unterricht vom gelben Portfolio des Reclam-Verlags definiert wird. Was nicht in einer Ausgabe des Reclam-Verlags vorhanden ist, das ist keine zu behandelnde Literatur, so die Erkenntnis aus dem Dolinar-Unterricht.
Andere Lehrer sind ebenso Originale wie der eher mit seiner ÖVP-Kandidatur denn Unterrichtsdurchführung beschäftigte Professor Dr. Lassner. Der Musiklehrer hat im Unterrichtsraum nichts zu melden, stattdessen wird der Beamer für Publicviewing genutzt und der Lehrer darf mit Duldung der Klasse Unterricht an der Tafel simulieren. Es ist ein Sammelbecken wunderlicher und eigenwilliger Gestalten, denen Till am Marianum begegnet.
Dessen Leidenschaft gilt aber sowieso nur in geringem Maße dem Unterricht, durch den er sich zwischen Russischstunden, Flanieren im Park anstelle des gemiedenen Sportunterrichts oder der Analyse von Stifters Brigitta hindurchlaviert. Vielmehr ist er von der Welt des Spiels Age of Empires 2 besessen. Zusammen mit einem Klassenkameraden und später zunehmend solitär hat er sich in die Welt des Zivilisationsspiels begeben, bei dem er zunehmend an Erfahrung und Spielpraxis gewinnt. Immer weiter geht es für ihn nach oben in der Online-Statistik der besten Spieler, während die Schule bald zum Nebenschauplatz wird.
Zwischen Marianum und Age of Empires 2
In der digitalen Welt kann Till glänzen und verschafft sich auch in der Schule durch findige Tricks Spielzeit im Computerraum, etwa durch seine Ernennung zum Administrator der Schulhomepage, mit der er der Rektorin Hoffnung vorgaukelt, um wenigstens in Sachen Digitalauftritt der Schule etwas Anschluss an die konkurrierenden Lehreinrichtigungen halten zu können. So verbringt Till seine Zeit zwischen Computerarbeitsraum, Rauchereck und Unterrichtssälen, während die Jahre ins Land gehen.
Deutlichstes Zeichen des Verstreichens der Zeit sind die Landmarken österreichischer Geschichte, die Schachinger immer mal wieder in seinen Roman einflicht. So finden die eigenwilligen Wander-Wahlkampfauftritte des Ex-Kanzlers Sebastian Kurz ebenso Erwähnung wie das Ibiza-Video des FPÖ-Politikers Hans-Christian Strache, das zu den Protesten am Ballhausplatz und dem späteren Rücktritt der Regierung führte.
Echtzeitalter ist ein Roman, der vom Durchwurschteln und der Provinzialität der österreichischen Seele bei gleichzeitig größtmöglichem Anspruch erzählt. Sein und Schein klaffen hier deutlich auseinander.
Sinnbild ist auch die Bildung des Dolinar, die er mit eiserner Disziplin seinen Schülerinnen und Schülern Lektürebegriffe und Gattungstheorien eintrichtert, damit aber einem Bildungsideal hinterherläuft, das so aus der Mode gekommen ist (um nicht sogar zu sagen so überflüssig ist), wie die Lektüre von Stifters Brigitta, dem die Schüler in einer der vielen witzigen Szenen des Buchs hinterherjagen, um dann nur festzustellen, dass es sich bei der avisierten Ausgabe um eine Suhrkamp-Neuausgabe des Titels handelt, womit diese natürlich völlig unbrauchbar ist, da sie nicht den äußeren Anforderungen der Dolinar’schen Reclam-Normierung entspricht. Mit diesem starren und überkommenen Erziehungskonzept fernab vom aufklärerischen Sapere aude produziert das Marianum weiterhin Mittelmaß – und Till hat sich sehr wohlig darin eingerichtet.
Pennälerstreiche in leicht modernisierter Form
Das ist neben seiner unverhofften Aktualität nach einem erneuten (und debakulösem) PISA-Schock hierzulande auch an vielen Stellen wirklich witzig, etwa wenn Schachinger alte Pennäler-Streiche aus der Feuerzangenbowle nur leicht modernisiert noch einmal zur Aufführung bringt. An einigen Stellen zieht sich das Buch allerdings auch deutlich, da fernab vom kontinuierlichen Strom aus Age of Empires 2, Schulstunden und Nachsitzen nur wenig passiert. Das bringt viele Längen mit sich, die mich manchmal mit Echtzeitalter hadern ließen.
Zudem ist das Buch mit seinem Sujet des nostalgischen Schülerromans verschmolzen mit der Gegenwart manchmal nicht wirklich „dran“ an seinen Protagonisten. Eine Klasse, die kollektiv am Abend ORF sieht, um sich mit dem Konsums der Verfilmung von Marie von Ebner-Eschenbachs Krambambuli den Konsum der Lektüre zu sparen, das mag noch vor einigen Jahren gängige Praxis gewesen sein. Für eine Abschlussklasse 2020 erscheint das aber im Zeitalter von Mediatheken, Streaming und Youtube-Erklärvideos ziemlich antiquiert und nicht wirklich stimmig.
Nicht zwingend muss man sich von solchen Details um die Freude der Lektüre von Tonio Schachingers Roman bringen lassen. Klassenunterschiede, Umgang mit historischer Schuld, soziale Funktionsweisen und Seelenerkundung Österreichs, alles das kann man aus Echtzeitalter lesen, wenn man denn möchte.
Fazit
Für mich ist es ein in weiten Teilen unterhaltsamer, bisweilen sogar witziger Roman (was auch an der starken intertextuellen Literaturdichte und Behandlung von Literatur im Buch begründet liegt). Der beste Roman des Jahres, wie ihn die Jury des Deutschen Buchpreises ausgezeichnet hat, ist er für mich aber leider nicht. Weder inhaltlich noch sprachlich weiß das Buch besonders herauszuragen, insofern durchaus eine Empfehlung aber keine Aufnahme in meine persönliche Bestenliste dieses Jahres!
Mehr zum Buch haben unter anderem Sören Heim, Katharina Herrmann und Alexander Carmele auf ihren Blogs geschrieben.
- Tonio Schachinger – Echtzeitalter
- ISBN 978-3-498-00317-3 (Rowohlt)
- 368 Seiten. Preis: 24,00 €