Wie dem eigenen Vater nahekommen, wenn dieser nur noch mit dem Lid eines seiner beiden Augen kommunizieren kann? Der Erzähler Yunus versucht in Deniz Utlus Roman Vaters Meer ganz einzutauchen in den Lebensstrom seines Vaters, der diesen einst aus Mardin in der Türkei bis nach Hannover führte.
Ich bleibe bei dem, was ich weiß, vertraue den Bildern, die mir mein Vater geschenkt hat, von denen ich dachte, es seien wenige, aber dann war da ein Meer der Bilder und Momente: Geschenke meines Vaters an mich, der Ursprung.
Deniz Utlu – Vaters Meer, S. 251
Dieses Meer an Bildern und Momenten, Yunus taucht darin ganz tief ein. Er, dessen Namen im Türkischen Delfin bedeutet, und der damit das Meer schon im Namen trägt, spürt in Deniz Utlus Roman seinem Vater nach und dem, was diesen zu jenem Mann machte, der heute zurückgeworfen auf eine minimale Mitteilungsmöglichkeit durch Blinzeln im Pflegeheim ans Bett gefesselt liegt.
Er will ihm nahekommen und seinen Weg von Mardin inmitten der türkischen Provinz bis nach Deutschland nachzeichnen, der ihn – natürlich – mit einem Schiff übers Meer nach Hamburg und von dort später nach Hannover brachte. Die Ehe mit Yunus‘ Mutter, die acht Jahre Einsamkeit vor der Begegnung mit ihr, Jugend, Ankommen in Deutschland, eine erste Ehe, das Studium, Krisen und andere entscheidende Momente lässt der Erzähler im Laufe dieses Buch achronologisch passieren. Unterbrochen wird der Text von Reflektionen über das Verhältnis von Sohn und Vater – und Gutachten und Korrespondenzen, die den bürokratischen Kampf um das medizinische Wohl des kranken Vaters dokumentieren.
Der zweimalige Fall des Vaters
Er, der einst im Gespräch mit seinem Sohn schon die Gewissheit äußerte, wenn es um den Eingang ins Paradies ginge, würde er von der haudünnen Linie stürzen, über die man den Zutritt dorthin erhalte, er ist nun wirklich gefallen – und das gleich zweimal. Ein erster Infarkt in seiner Heimat in der Türkei folgte dann ein zweiter Fall, der ihn nun als das körperliche Wrack zurücklässt, der nur noch mit einem Augenlid kommunizieren kann. Ähnlich wie der auch im Buch Erwähnung findende Jean-Dominique Bauby, der in Schmetterling und Taucherglocke ebenfalls seine Lebenserinnerungen als Locked-In-Patient per Morsecode über das Augenlid diktierte, kann sich der Vater nun nur noch per Buchstabentafel in kleinen Sätzen und Anweisungen äußern.
Und so ist Utlus Text der Versuch, den Verfall des Vaters des Erzählers mit dessen Leben zu verbinden, all die kleinen und großen Abzweigungen nachzuvollziehen, die ihn aus der Türkei nach Deutschland und nun bis ins Krankenbett brachten – und um ihm nahezukommen, das eigene Leben und Werden mit dem des Vaters zu vergleichen.
Ich will mich nur an das erinnern, was mir mein Vater mitgegeben hat, wenn ich über ihn nachdenke. Mein Vater, als Erzähler, der er war , beschrieb die Dinge, wie sie sich angefühlt haben, und nicht zwingend, wie sie geschehen waren – gerade darin fühlte ich mich ihm nah, im Erzählen und Erinnern.
Deniz Utlu – Vaters Meer, S. 248
Das Meer als treffende Metapher
Das Meer ist dabei eine großartige Metapher, kann es doch verbinden und trennen. Kostbar sind Yunus Momente wie etwa ein gemeinsamer Urlaub in Vaters Heimat in Kizkalesi, in dem das gemeinsame Schwimmen im Meer zum verbindenden Element zwischen Vater und Sohn wird. Ebenso wie das Meer aber auch Menschen Kontinente und Menschen trennt, so sind es immer wieder auch Szenen der Distanz und der Fremdheit, sowohl im Leben des Vaters in der Fremde in Hannover als auch Distanz zwischen Vater und Sohn.
Deniz Utlu gelingt es, dieses Verbindende und Trennende gut herauszuarbeiten. Vaters Meer steht dabei in der Traditionslinie gleich zweier Genres oder literarischer Formen, die in den letzten Jahren zunehmend populär wurden. Da ist zum Einen die Tradition des migrantischen Blicks auf das Leben in Deutschland, in die sich neben großartigen Erzählungen wie Fatma Aydemirs Dschinns jüngst auch durch den Büchnerpreis an Emine Sevgi Özdamar und den Preis der Leipziger Buchmesse an Dinçer Güçyeter für dessen Deutschlandmärchen nun auch Deniz Utlus Erzählung einfügt. Den gesellschaftlichen Neuanfang in der Fremde in Hannover, die Verbindung mit der türkischen Heimat, die stete Sehnsucht und Verbundenheit mit dem eigenen Erbe, sie ist Vaters Meer eingeschrieben.
Zum anderen steht Utlus Buch auch in der Tradition der zahlreichen Vaterschaftsbücher, die von Christian Dittloff über André Hille bis zu – thematisch ähnlich gelagert und auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stehend – Necati Öziri, der in Vatermal einen ähnlichen Komplex auf etwas reduzierte Art und Weise bearbeitet. Die Prägung durch den Vater, die Kontinuitäten oder die Emanzipation von tradierten Rollenbildern und Verhaltensweisen, all das sind Themen von Vaters Meer, ebenso wie diese Buch natürlich auch die neue Beziehung zwischen Mutter und Sohn ohne die Gestalt des Vaters zeigt.
Divergierende Wertungen
Ebenso wie man diese zwei Traditionslinien ausmachen kann, so gibt es auch in der Bewertung des Romans zwei Richtungen in Form sehr divergierende Pole, die mich noch einmal neugieriger auf das Buch gemacht haben. So nahm Deniz Utlu mit einem Romanauszug am Bachmannpreises 2023 teil, bei der er als letzter Teilnehmer aus seinem Manuskript zum Buch las. Die Urteile der Jury waren dabei überwiegend ablehnend, die Sprachlosigkeit des Vaters würde nicht auf sprachlicher Ebene sondern nur auf inhaltlicher Ebene verhandelt, die Konventionalität des Erzählens und die Monotonie waren dort geäußerten Vorwürfe an den Text, die den Romanauszug damit aus dem Feld der Wettbewerber schlugen.
Ganz anders nun die Bewertung angesichts des abgeschlossenen Textes, der viel Lob in den Feuilletons hervorruft und sogar für den Bayerischen Buchpreis nominiert wurde. Und auch ich neige in meinem Urteil über Vaters Meer deutlich letzterer Position zu. In meinen Augen ein wirklich gelungener Roman, der deutsch-türkische Biografien ebenso wie das Zusammenkommen und Auseinanderdriften einer Familienkonstellation neben der Sprachlosigkeit und dem Abschied einer prägenden Vaterfigur verhandelt – und das auf literarisch überzeugende Weise, indem Deniz Utlu immer wieder starke Bilder für seine Erzählung findet und seinen Roman in verschiedenen Erzähltraditionen verortet.
- Deniz Utlu – Vaters Meer
- ISBN 978-3-518-43144-3 (Suhrkamp)
- 384 Seiten. Preis: 25,00 €