Monthly Archives: März 2020

Tom Hillenbrand – Qube

Tom Hillenbrand ist einer der spannendesten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Egal ob Kulinarik-Krimi (die Xavier-Kieffer-Reihe), historischen Abenteuerroman (Der Kaffeedieb) oder Sci-Fi-Thriller. In allen Sparten erstaunlich originell und stilsicher erzählt der Journalist seine Geschichten und schafft es, immer glaubwürdige Kosmen zu schildern. Sein neues Buch macht da keine Ausnahme. Mit Qube geht es zurück in die Zukunft, die er schon in Drohnenland und Hologrammatica beschrieb.


Wir schreiben das Jahr 2091. Dank der Hologrammtechnik sieht alles auf den ersten Blick tadellos aus. Fassaden und Innenräume lassen sich in Sekundenschnelle je nach Geschmack gestalten. Der Klimawandel hat zur Verödung ganzer Landstriche und Regionen geführt. Das Weltall ist von den unendlichen Weiten zum unendlichen Ressourcenlager degradiert worden. Wer reich genug ist, kann sein Gehirn digitalisieren und sich dann in jeden beliebigen Wirtskörper transferieren lassen. Diese schöne neue Welt hat, wie schon zuvor in Hologrammatica beschrieben, allerdings ihre Abgründe.

Auf diese Abgründe ist auch der Enthüllungsjournalist Calvary Doyle gestoßen. Seine Recherchen kann er allerdings nicht mehr vollenden. Denn durch einen Kopfschuss wäre er um ein Haar ums Leben gekommen. Doch die Kugel verfehlt die wichtigsten Bereiche in Doyles Hirn um Haaresbreite. Dank der Quant-Technologie kann sich Doyle in einen neuen Körper laden. Die Erinnerung an die entscheidenden Tage und damit die entscheidenden Erkenntnisse seiner Recherche sind allerdings verloren.

Der Fall des Journalisten lässt bei der UNANPAI-Behörde die Alarmglocken schrillen. Denn die Behörde überwacht alles, das mit Künstlicher Intelligenz zu tun hat. Deren Direktor setzt Fran Bitter auf den Fall des fast ermordeten Enthüllungsjournalisten an. Womit hat sich dieser beschäftigt und wer will diese Erkenntnisse unter Verschluss halten? Fran Bitter beginnt mit den Ermittlungen, die sie von der Erde bis zu den äußersten Grenzen des Erdorbitgürtels führen. Offenbar hat jemand aus der Hologrammtica noch einige Rechnungen offen…

Von der Erde bis ins All

Tom Hillenbrand beweist mit Qube einmal mehr, was Literatur kann. Komplett neue Welten erfinden, eine mögliche Zukunft realistisch beschreiben und unsere Realität einfach ein oder zwei Einstellungen weiterdrehen. Ihm gelingt eine Weltenschöpfung, die so plausibel wie erschreckend ist. Geschlechter und Körper haben keine Definitionsmacht mehr, vielmehr ist alles in dieser mit Hologrammen überkleisterten Welt Schein. Mit Fran Bittner stellt Hillenbrand ein*e faszinierende, genderfluide Held*in den den Mittelpunkt. Je nachdem in welchen Körper sie sich bei ihren Ermittlungen hochlädt, ist sie mal Mann, mal Frau. Eine faszinierende Leseerfahrung.

Und auch ansonsten kann Hillenbrands Hologrammatica-Universum weiterhin überzeugen. Im Vergleich zu Band 1 weitet er die Welt und die Komplexität seines Plots noch einmal aus. So sind es im Großteil des Buchs vier Erzählstränge, die parallel nebeneinander herlaufen. Erst zum Ende hin verweben sich die Erzählfäden und ergeben das Gesamtbild. Das kann bei manchem Leser schon phasenweise für etwas Verwirrung sorgen, besonders, wenn man den Vorgängerband nicht gelesen hatte. Abhilfe schafft bei der Vielzahl des technischen Vokabulars aber auch ein angehängtes Glossar.

Wer Science-Fiction skeptisch gegenübersteht, könnte mit diesem trotzdem glücklich werden. Auch ich selbst, der ich in diesem Genre normalerweise alles andere als zuhause bin, wurde hier gut unterhalten. Vor allem, weil das Buch im Kern immer noch ein Krimi ist. Die Handlung wird mit geschickt gesetzten Cliffhangern immer wieder vorangetrieben und weist einige erzählerische Volten auf. Die Kreativität und Schöpfungsfreude Hillenbrand ist mehr als beachtlich, dank der man auch den etwas klischeehaft geratenen Bösewicht gerne verzeicht. Am Ende steht mit Qube eine wirklich packendes Leseerlebnis, das ich hiermit gerne weiterempfehle!


  • Tom Hillenbrand – QUBE
  • ISBN 978-3-462-05440-8 (KiWi)
  • 560 Seiten. Preis: 12,00 €
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Meine Leipziger Buchmesse daheim

Wäre, wäre, Fahrradkette, wie der große Philosoph und Fußballversteher Lothar Matthäus einst bemerkte. Da hat man das Zimmer und die Bahnfahrt für die Leipziger Buchmesse schon gebucht. Die Presseakkreditierung ist auch durch und die Termine ausgemacht. Interviews, Verlagsbesuche, Diskussionen: der Zeitplan steht. Und dann das: Absage der Leipziger Buchmesse, zum ersten Mal in der Geschichte. Danke Coronavirus!

Eine unerwartete Lücke tut sich auf im Kalender – was soll man da machen? Nachdem auch noch offiziell das Rahmenprogramm Leipzig liest abgesagt wurde, entschied ich mich, die Reise nach Leipzig nicht anzutreten. Schade drum, besonders, da ich diesen literarischen Frühlingsjahrgang für ausgesprochen stark erachte.

Aber wenn ich schon nicht zur Buchmesse komme, dann will ich sie wenigstens in einer Form hier auf dem Blog stattfinden lassen. Ich habe mich entschlossen, hier als kleine Übersicht in meinen Augen wichtige Titel dieses Frühjahrs vorzustellen. Da eine solche Buchmesse ja auch immer ein soziales Get-together ist, wollte ich das Element des Miteinander über Bücher-Redens hier auf dem Blog ein bisschen nachbilden. Dafür versammele ich hier Besprechungen anderer Blogger*innen sowie ein paar eigene Rezensionen. Hoffentlich kann euch diese Auswahl auch ein bisschen inspirieren.

Nationale Literatur

Tobias vom Blog Buchrevier über den neuen Roman Die rechtschaffenen Mörder von Ingo Schulze.

Fräulein Julia über Irina Liebmanns Die große Hamburger Straße.

Meine Besprechung des aktuellen und gesellschaftlich relevanten Debüts von Cihan Acar: Hawaii

Marina alias Nordbreze hat eine Rezension zum neuen Buch von Kathrin Wessling verfasst. Der Titel des Buchs lautet Nix passiert.

Wolfgang Schneider auf Deutschlandfunk Kultur über Leif Randts neue Kreation Allegro Pastell.

Petra vom Blog Literaturreich ist mit der Bloggerin und Trauerbegleiterin Jasmin Schreiber in den Marianengraben abgetaucht.

Marcus schreibt für das Bücherkaffee und hat Christoph Kloebles neuen Roman Das Museum der Welt gelesen.

Jan Drees laß das Debüt Tauben leben von Paula Czienskowski und bespricht es auf Lesen mit Links.

Internationale Literatur

Hauke Harder vom Blog Leseschatz über Delphine de Vigans Dankbarkeiten.

Um das Buch Der Anhalter von Gerwin van der Werf kümmert sich Mareike vom Blog Bücherwurmloch.

Der Isländer Ragnar Helgi Olafsson hat ein Buch mit dem schönen Titel Handbuch des Erinnerns und Vergessens verfasst. Birgit vom Blog Sätze & Schätze hat es besprochen.

Tobi vom Blog Lesestunden hat sich das Buch Eisfuchs von Tanya Tagaq näher angeschaut.

Constanze schreibt auf Zeichen & Zeiten über ihre Lektüre von Ben Smiths Buch Dahinter das offene Meer.

Ich habe mit großer Begeisterung Liz Moores Krimi und Gesellschaftspanorma Long Bright River gelesen.

Die Klappentexterin kümmert sich um Sigrid Nunez‚ vielbesprochenes Werk Der Freund.

Eine Wiederentdeckung ist der bei Dörlemann erschienene Roman Die Berglöwin von Jean Stafford. Auf dem Hotlistblog wurde dieser besprochen.

Sachbücher

Lena vom Blog Wortgelüste über das Buch Sie hat Bock von Katja Lewina.

Alexandra vom Blog Bücherkaffee über Patrik Svenssons Das Evangelium der Aale

Hilma af Klint – noch nie gehört? Der Beitrag von Isabella auf Novellieren ändert das.

Und noch nicht von mir besprochen aber ganz oben auf meiner Liste in Sachen Nächster Titel: Kübra Gümüsay mit Sprache und Sein.


So viel erst einmal zu Titeln, über die ich auf anderen Blogs gestoßen bin und die ich mir auf der Buchmesse sicherlich einmal genauer angeschaut hätte. Jetzt müssen wir das halt digital nachholen. Welche Bücher sind eure Titel des Frühjahrs? Was hat euch begeistert oder abgeschreckt? Lasst es mich wissen!

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Kakerlakack

Ian McEwan – Kakerlake

Lieber Ian McEwan,

was war das denn bitte? Mit diesem Buch hast du dir leider überhaupt keinen Gefallen getan. Eindrucksvoll beweist du, dass eine gute Absicht noch lange kein gutes Buch ausmacht. Immerhin ist dir das Kunststück gelungen, ein Buch mit Verfallsdatum zu produzieren, das schon wenige Monate nach dem Erscheinen deutlich überschritten ist.


Sicher, ich kann dich verstehen. Dieses Theater um den Brexit, du warst von Anfang an dagegen. Dieser Wahnsinn, den Verbleib in der EU und alle komplexen Abwägungen einfach an eine simple Ja-Nein-Abstimmung zu binden. Und dann auch noch das Theater, das folgen sollte. Remain-Kampagnen, Busse versehen mit offenkundigen Lügen, dutzendfach verschobene Abstimmungen. Brexiteers versus Remainers, Chaos im Unterhaus, sogar ein politisch motivierter Mord. Auch du magst dir verwundert die Augen gerieben haben. Diese Nation, die sich da gerade fröhlich selbst zerlegt, sie soll einst über den halben Erdball geherrscht haben? Schwerlich vorstellbar angesichts dieses Chaos, das die Insel erfasst hatte.

Was aber tun? Erst einmal zur Feder gegriffen und die Unterschrift unter einen offenen Brief gesetzt. Immerhin, John Le Carré, Vivienne Westwood oder Tom Stoppard taten das auch. Über 300 prominenter Brit*innen protestierte gegen den Austritt aus der EU. Aber hat es etwas gebracht? Man sieht es ja recht deutlich.

Das Buch als Protest

Dir war klar, dass es damit nicht getan sein kann. Deine Motivation hat dir dein Diogenes-Verlag auch prominent auf die Rückseite deines Buchs gedruckt: Was kann ein Schrifsteller in diesen Zeiten nur tun? Schreiben! So deine Erkenntnis. Das mag schon alles richtig sein. Aber doch bitte um himmelswillen nicht dieses Buch!

Gewiss, du warst wütend. Und eine Satire war dir früher doch schon einmal gut von der Hand gegangen. Warum also nicht auch jetzt? Und Material war ja auch in Übermaße vorhanden. Eine Nation, die austreten will, aber nicht mehr vor und zurück kann. Eine Regierung, voll mit Exzentrikern und Rücktritten im Wochentakt. Und dann erst dieser Premierminister. Ein Hasardeur, ein Spieler, ein clownesker Eliteschulen-Absolvent, der sich gerne als Mann des Volkes mit wirrem Haar und eigenwilligen Ansichten produziert.

Also die Feder gespitzt und drauflosgeschrieben. Einen wirklichen Plan hattest du allerdings nicht, wie mir nach der Lektüre deines mit viel guten Willem auf 140 Seiten und von Bernhard Robben hurtig ins Deutsche übersetzten Machwerks scheint. Gewiss, du hast dich von Franz Kafka inspirieren lassen. Die Verwandlung, einmal anders herum. Eine Kakerlake, die sich dann in den britischen Premierminister verwandelt. Und dann auch noch der Name. Jim Sams, damit es auch wirklich jeder versteht. Sams – Samsa. Klare Sache! Und fast alle anderen Mitglieder deines Kabinetts – auch eigentlich Kakerlaken. Ja witzig! (Das war jetzt Ironie meinerseits. Nein, ich finde es nicht sonderlich witzig. Der PM eine Kakerlake? Ist das wirklich dein Niveau, der du in wirklich schwarzem Humor einen Nobelpreisträger lügen und täuschen oder eine einen Säugling aus dem Mutterbauch heraus Intrigen beobachten ließt?)

Ein Kessel voll Buntes

Dass diese Idee gerade einmal für ein paar Seiten und einige witzige Sätzen reichen würde, das ging dir dann selbst auf. Also flugs noch ein paar andere Themen hineingezimmert. Eine vogelwilde Theorie namens Reversalismus, die du im Stil eines BWL-Einführungsseminar seitenlang erklärst (für alle Taten, die man verrichtet, muss man Geld errichten. Für alle Erwerbungen hingegen gäbe es Geld). Dann noch ein bilateraler Konflikt mit Frankreich um ein versenktes Fischerboot im Ärmelkanal. Anschließend eine Prise Parodie auf den anderen twitterenden Hasardeur im Weißen Haus und auf Frau Merkel geschrieben. Dann noch ein bisschen übers Abstimmungsverhalten im britischen Unterhaus referiert. Zack fertig, schon ist die Kakerlake fertig.

Dass ein Kessel Buntes voller halbgarer Ideen noch kein Buch ausmacht, das sollte doch auch dir aufgegangen sein? In deiner Kakerlake knirscht es nicht im Er-zäh-lgefüge, nein, es ist schon komplett zusammengebrochen. Platteste Figuren, ein nicht vorhandener Erzählbogen, vier völlig disparate Kapitel, die zwischen Kafka-Adaption, Brexit-Parodie und Shakespeare’schem Intrigenstandel irrlichtern.

Gewiss, an der Realität des Brexits konntest du eigentlich nur scheitern. Das monatelange Chaos, dem man immer fassungsloser beiwohnte. Die Spektakel im Unterhaus voller Oooooorda! und Medien, die in die Brosche einer Verfassungsrichterin seitenweise größte Geschichten hineininterpretierten.

Wie da noch eine vernünftige Satire schreiben, zudem dir auch dein Verlag und das immer näher rückende Datum einer der finalen Brexit-Abstimmungen im Nacken saßen. Aber hättest du es doch einfach gelassen oder das Buch in deine Schreibtischschublade oder einen diskreten Ordner auf deinem Arbeits-PC-Desktop verschoben.

Warum dieses Buch?

So ist Die Kakerlake ein Tiefschlag in deinem Schaffen, ein Buch, das sich in deinem sonst so beeindruckenden Oeuvre ausnimmt wie eine Burger vom Vortag gegenüber einem 3-Sterne-Menü in einem guten Restaurant.

Und nur damit wir uns nicht falsch verstehen: ich weiß es auf alle Fälle zu schätzen, wenn sich exponierte Persönlichkeiten aus dem Bereich der Kultur für etwas einsetzen und einstehen. Aber man sollte auch immer die Wahl seiner Mittel bedenken. So nützt auch eine Satire nichts, wenn sie unlogisch, stumpf und völlig durchschaubar daherkommt. Und vielleicht hättest du sie auch vorher verfassen sollen, als die Abstimmung zum Brexit offensichtlich wurde, als nachher in dieser Form zu lamentieren.

Oder um es kurz zu machen. Lieber Ian, bitte sieh mir es nach: aber ich kann von deinem Buch nur abraten. Du hast so großartige Bücher geschrieben, da sollte über diesen literarische Rohrkrepierer (das Wort Schnellschuss kommt mir zu harmlos vor) ein gnädiger Mantel des Schweigens gebreitet werden.

Diesmal empfehle ich viel lieber ein anderes Buch, das gelungen die Entstehung des Brexits und die Verwerfungen in den sozialen Schichten Großbritanniens nachzeichnet. Ein Buch, das stark in Sachen Analyse ist, ohne den moralischen Zeigefinger zu heben oder sich zu einfachen Schlüssen verleiten zu lassen.

Der Verfasser des Buchs trägt den Namen Jonathan Coe, das Buch heißt Middle England, wurde von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs ins Deutsche übertragen und erscheint im Folio-Verlag. Diese um Welten bessere Alternative zur deiner Kakerlake wollte ich unbedingt noch an dieser Stelle erwähnt haben.

Bitte sieh mir meine offenen Worte nach, aber es war mir ein Anliegen!

Dein Marius

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Cihan Acar – Hawaii

Vier Tage und die Welt steht Kopf. Beziehungsweise Heilbronn. Aber in diesem Buch kommt das letzten Endes auf das Gleiche heraus. Cihan Acars Debüt „Hawaii“ über einen jungen Mann zwischen den Welten und eine Stadt im Ausnahmezustand. Ein politischer Flaneurroman, der punktgenau hineinblickt, in die Verwerfungen unserer Gesellschaft.


Es sind vier Tage im Sommer, die Cihan Acar in seinem Flaneurroman beschreibt. Alles beginnt dabei eigentlich ganz harmlos. Es ist eine dieser Hochzeiten, auf denen man eigentlich gleich wieder gehen sollte. Man kennt kaum jemanden, die Hälfte der Gäste ist schon betrunken und irgendwie gehört man nicht hierher. Auch Kemal fühlt sich etwas deplaziert auf jener Hochzeit, auf der er sich zu Beginn des Buchs wiederfindet. Doch nicht nur auf dieser Hochzeit fühlt er sich fehl am Platz. Auch im wahren Leben weiß er eigentlich überhaupt nicht, wo er hingehört.

Aufgewachsen im migrantisch geprägten Stadtteil Hawaii in Heilbronn war es früh sein Fußballtalent, das ihn aus dem Gros seiner Mitschüler*innen heraushob. So schmiss er die Schule kurz vor dem Abitur, wurde in der Türkei Fußballprofi und ruinierte bei einem Verkehrsunfall sein Bein. Nun ist er mit 21 Jahren wieder in Deutschland zurück. Von den Hawaiianern ebenso misstrauisch beäugt wie von den „normalen“ Deutschen da draußen. Irgendwo zwischen zwei Welten steckend, nirgends wirklich daheim.

Es gärt in Heilbronn

Cihan Acar - Hawaii (Cover)

So beschließt er bei der eingangs geschilderten Hochzeit, einfach zu gehen. In der Folge lässt er sich durch Heilbronn treiben, besucht seine Eltern, Spielhallen und wird Zeuge, wie etwas in der Gesellschaft kippt. Denn jene Hundstage im Juli, die Acar in seinem Buch beschreibt, steigen einigen Heilbronner*innen zu Kopf. So gärt es schon lange in der Bevölkerung, aber in jenen Tagen brechen die Gräben zwischen „Biodeutschen“ und „Migranten“ endgültig auf. Auf der einen Seite die Vereinigung HWA, kurz für Heilbronn Wach Auf. Sogenannte besorgte Bürger, rassistisch, gewaltbereit und bereit für den großen Clash. Auf der anderen Seite die Kankas, eine Gruppe zumeist türkischer Jugendlicher, die sich gegängelt und in dieser Gesellschaft nicht repräsentiert fühlen. Beide Gruppen prallen am Ende der vier Tage aufeinander. Und Kemal wider Willen mittendrin in diesem Clash der Kulturen. Cihan Acar inszeniert diese Konfrontation aufrüttelnd, realitätsnah und weckt Erinnerungen an ähnliche Vorkommnisse in Chemnitz.

Cihan Acar [(c) Robin Schimko]

Die große Stärke von Cihan Acars Roman sehe ich in dieser Realiätsnähe. In Zeiten, in denen Rassismus und Extremismus auf immer krassere Art und Weise um sich greifen, ist Hawaii ein Kommentar der Gegenwart. Er weckt Verständnis für die Probleme von Menschen mit Migrationshintergrund und thematisiert die Frage migrantischer Idenität auf nachvollziehbare Art und Weise. Leider ist ausgerechnet Acars Titelheld für mich ein weitestgehend belangloser Pappkamerad.

Schulabbrecher, Fußballstar, Millionär, dann gescheitert Heimkehrender. Kemal als Ich-Erzähler fehlen für meine Begriffe leider die Brüche und die Reibungspunkte, die eine interessante Persönlichkei ausmachen. So darf Kemal zwar in der Tiefgarage mit seinem geschrotteten Auto plaudern wie weiland Macbeth mit dem Geist Banquos. Das macht aus ihm aber lange noch keine Figur mit Tiefgang. Zudem ist die Sprache in Hawaii für mich auch nur durchschnittlich zu nennen.

Wie ist „Hawaii“ zu bewerten?

So gilt es für mich, zwei Seiten abzuwägen. Da sind zum einen die Figuren, allenvoran Kemal, denen es an Tiefe gebricht. Eine interessante Biografie oder einigermaßen komplexe Charaktere haben sie alle nicht. Auf der anderen Seite schafft es Cihan Acar aber auch wirklich gut, trotz oder vielleicht gerade wegen der Schablonenhaftigkeit seiner Figuren, gesellschaftliche und politische Themen in Hawaii zu verhandeln. Die Aktualität, mit der Acar Verwerfungen in unserer Gesellschaft beschreibt, ist nach Chemnitz und Hanau kaum zu übertreffen. Und aufgrund dieser Unmittelbarkeit, die Acar in Hawaii gelingt, bin ich doch geneigt, dieses Buch als äußerst gelungen zu bewerten, trotz aller Einwände, die ich habe. Ein hochaktueller, politischer Flaneurroman, der zeigt, das Heilbronn literarisch deutlich mehr als nur das Käthchen bietet.


  • Cihan Acar – Hawaii
  • ISBN 978-3-446-26586-8 (Hanser Berlin)
  • 256 Seiten, 22,00 €

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Literatur-Soiree mit Ingo Schulze

Heute auf den Tag vor einhundert Jahren wurde die Stadtbücherei Augsburg gegründet. Ein Umstand, für den ich sehr dankbar bin, schließlich versorgen mich die Bücherei und ihre Zweigstellen nicht nur mit den neuesten Medien, sondern auch mit Lohn und Brot. So ein runder Geburtstag muss natürlich auch gefeiert werden. Morgen und am Samstag geschieht das dann. Am Freitag nur für geladene Gäste, am Samstag dann aber für alle Augsburger*innen. Am Abend findet nämlich wieder eine Literatursoiree in Zusammenarbeit mit der Augsburger Allgemeine statt.

Gast ist diesmal der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Ingo Schulze. Wikipedia zählt über 20 Ehrungen auf, die Schulze im Laufe seiner Schrifststellerkarriere sammeln konnte. So zählt der Brecht-Preis der Stadt Augsburg zu einer seinen vielen Auszeichnungen. Im Jahr 2007 konnte er den Preis der Leipziger Buchmesse erringen. Dieses Kunststück könnte ihm auch dieses Jahr wieder gelingen (wenngleich die Messe und damit auch die Preisverleihung ja erst einmal abgesagt wurden). Mit seinem Roman Die rechtschaffenen Mörder ist er auch in diesem Jahr wieder für den Preis nominiert. Am 07.03.2020 wird er aus diesem Roman in der Stadtbücherei vorlesen und nachher im Gespräch Auskunft über das Buch und sein Schreiben geben. Sicherlich hoch spannend, denn die Kurzbeschreibung seines neuen Romans klingt wie ein Kommentar zum Rechtsdrift unserer Gesellschaft:

Ingo Schulze – Die rechtschaffenen Mörder

Wie wird ein aufrechter Büchermensch zum Reaktionär – oder zum Revoluzzer? Eine aufwühlende Geschichte über uns alle.

Norbert Paulini ist ein hoch geachteter Dresdner Antiquar, bei ihm finden Bücherliebhaber Schätze und Gleichgesinnte. Über vierzig Jahre lang durchlebt er Höhen und Tiefen. Auch als sich die Zeiten ändern, die Kunden ausbleiben und das Internet ihm Konkurrenz macht, versucht er, seine Position zu behaupten. Doch plötzlich steht ein aufbrausender, unversöhnlicher Mensch vor uns, der beschuldigt wird, an fremdenfeindlichen Ausschreitungen beteiligt zu sein. Die Geschichte nimmt eine virtuose Volte: Ist Paulini eine tragische Figur oder ein Mörder?


Im Anschluss an die Lesung gibt es dann wieder einen Literarischen Salon. Mit Kurt Idrizovic von der Buchhandlung am Obstmarkt und Stefanie Wirsching von der Augsburger Allgemeinen diskutiere ich über folgende drei Neuerscheinungen des Bücherfrühlings. Kontroverse Meinungen sind zu erwarten!

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