Category Archives: Kriminalroman

Mörderischer Fischfang

Jock Serong – Fischzug

Dauphin im Bezirk Victoria ist ein verschlafenes Nest an der Südküste Australiens. Abgesehen vom wöchentlichen Football-Match und Band-Abenden im lokalen Pub ist hier nichts los. Die Haupteinkommensquelle stellt die Fischerei da. Besonders die Abalonen entpuppen sich als sprudelnde Einnahmequelle. Wer die Lizenz zum Fischen dieser Meeresfrüchte hat, der hat eigentlich ausgesorgt. Solche Lizenzen sind Millionen wert und für die Besitzer sehr erträglich. Der Handel mit den auch unter dem Namen Seeohren bekannten Delikatessen floriert.

Alles eigentlich doch recht unspektaktulär. Doch nun hat sich ein Mord ereignet. Auf einem Boot wurde ein junger Fischer ermordet. Zwei konkurrierende Fischer sind dringend tatverdächtig. Für den Staatsanwalt reist Charlie Jardim nach Dauphin. Dieser ist in Melbourne in Ungnade gefallen, seine Partnerin ist drauf und dran, ihn zu verlassen. Nun also Dauphin, wo er seine eigenen Recherchen beginnt. Warum musste der junge Fischer sterben? Kann auch der Drogenhandel eine Rolle spielen?

Ein beachtenswertes Debüt

Fischzug ist das Debüt von Jock Serong. Neben seiner Tätigkeit als Autor ist Serong auch als Anwalt tätig, kennt also das im Roman geschilderte juristische Handwerk aus erster Hand. Auch lebt und arbeitet er wie Charlie Jardim in Fischzug in Victoria an der Südwestküste der Insel. Für den Roman wurde dem Australier im Jahr 2015 der Ned Kelly-Award für das beste Debüt zugesprochen. Eine Ehre, die im Jahr zuvor beispielsweise Candice Fox für Hades erhielt. Auch Jane Harper und Alan Carter zählen zu den Preisträgern, deren Debüts auf diese Weise ausgezeichnet wurden.

Jock Serong -Fischzug (Cover)

Gute Gesellschaft also, in der sich Jock Serong da befindet. Und sein Roman macht auch klar, warum Fischzug dergestalt prämiert wurde. Ihm gelingt in seinem Buch ein wirklich runder Erstling, der in mehreren Punkten überzeugt. Da ist der Held Charlie Jardim, der kein geschliffener und polierter Charakter ist, sondern durchaus seine weniger positiven Seiten nicht versteckt (besonders eindringlich hier sicher die Szene mit dem Auto und dem Känguru, für die es eines starken Magens bedarf).

Dann ist es aber auch die Atmosphäre in dem Dorf, in dem man sich die verfeindeten Familien gegenseitig und alle Charlie misstrauen. Diese Welt zeichnet Serong genauso gekonnt wie die unter Wasser. Und dann ist da auch noch der Plot, der genau das richtige Maß zwischen komplex und überschaubar hält. Das zwischen Ermittlungsarbeit und Justizdrama changierende Drama kann wirklich überzeugen. Ohne große Schwächen ist dies einmal mehr ein Buch mit dem richtigen Plot, der dazu passenden Sprache und einer Länge, die mit knapp 300 Seiten genau passend ist.

Eine tolle Entdeckung aus Australien

Eine weitere fabelhafte Entdeckung aus Australien, die Wolfgang Franßen und dem Polar-Verlag da geglückt ist. Auch die Übersetzung von Robert Brack ist stimmig und gibt die nuancenreiche Welt in Victoria gut im Deutschen wieder.

Einzig und alleine die Frage bleibt, warum man dem Buch kein schöneres oder aussagekräftigeres Cover spendiert hat. So bleibt diese mondbeschienene See für sich genommen etwas unspezifisch und wenig attraktiv. Mehr Mut bei der Cover-Gestaltung – dieser Inhalt verdient es!

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Arne Dahl – Vier durch Vier

Skandinavien-Krimis boomen nach wie vor in allen Dareichungsformen. Egal ob Serie (Die Brücke oder The Valhalla-Murders) oder als Buch. Die Nachfrage nach düsteren, verschachtelten Krimis ist ungebrochen. Und ein Autor, der diese Nachfrage besonders gut befriedigen kann, ist der Schwede Arne Dahl. Eigentlich heißt er Jan Arnald, der große Erfolg kam dann aber mit seinem Pseudonym. So schuf der Schwede die zehnbändige Reihe um die schwedische A-Gruppe und das OPCOP-Quartett über eine supranationale europäische Spezialeinheit.

Im Januar 2016 begann Dahl eine neue Reihe. Diesmal im Fokus: zwei ehemalige schwedische Polizisten. Er, Sam Berger, von der Kriminalpolizei. Sie, Molly Blom, vom schwedischen Nachrichtendienst SÄPO. Schon im ersten Band der Reihe wurden sie beide zu Parias, die sich fortan als Privatermittler durchschlugen. Hatte die Reihe im zweiten Band mit dem verworrenen Fall Sechs mal Zwei einen klaren Durchhänger, stabilisierte sich Dahl dann wieder mit Band Drei. Übrigens ein Phänomen, das auch im OPCOP-Quartett auftrat, bei dem Band Zwei Zorn der schwächste der Reihe ist.

Nun liegt mit Vier durch Vier der -Überraschung! – vierte Band der Reihe vor. Diesmal steht eine besondere Entführung im Mittelpunkt des Buchs.

Eine besondere Entführung

Nachdem sich Molly am Ende des letzten Bandes von Sam distanziert hatte, geht dieser seinem Broterwerb als Privatermittler zunächst alleine nach. Versicherungsbetrug und Sitzungen bei einer Psychologin. So sieht der Tagesablauf des ehemaligen Polizisten aus, bis er von seiner Therapeutin in eigener Sache angeheuert wird. Eine ihrer Patientinnen wurde entführt. Und da die Entführer keine Polizei wollen, erscheint ihr Sam als der richtige Mann für den Job.

Arne Dahl - Vier durch Vier (Cover)

Doch es gibt Unstimmigkeiten. Je weiter Sam (bald auch wieder mit Molly an seiner Seite) ermittelt, umso unklarer wird die Lage. Warum wurde die junge Frau entführt? Und wer hat ein Interesse an ihrem Verschwinden? Je knapper die Zeit wird, umso verwirrter wird Sam. Worum geht es bei dieser Entführung wirklich?

Arne Dahl gelingt es in diesem Buch, dem schon wirklich auserzählten Entführungstopos neue Seiten abzuringen. Denn mit dieser Entführung setzt eine Geschichte ein, deren Spuren bis zur russischen Mafia in Schweden und Mollys Vergangenheit als Undercover-Ermittlerin führen.

Vier durch Vier besitzt Drive, geizt einmal mehr nicht mit blutigen Schilderungen, hat einen ungewöhnlichen Plot und sticht aus dem üblichen Skandinavien-Serienkiller-Gros heraus. Man muss sich doch auch wundern, wie es Arne Dahl gelingt, bei seinem Output von einem Buch pro Jahr immer noch solche frischen Krimis zu entsinnen, die neue Pfade gehen. Und obwohl Vier durch Vier ja schon drei Vorgängerbänden mit einem vorsischtig gesprochen komplexen übergreifenden Erzählkonstrukt hat, kann man diesen Krimi auch gut alleine für sich lesen. Den größten Erkenntnisgewinn in Sachen Beziehungen und Charakterentwicklungen hat man freilich, wenn man auch die vorhergehenden Bücher liest. Aber auch für sich funktioniert Vier durch Vier erstaunlich gut (was bei Dahl ja sonst nicht immer der Fall ist).

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Abgesoffen in Venedig

Wolfgang Schorlau/Claudio Caiolo – Der freie Hund

„Was siehst du, Morello?“

„Eine Sanduhr, Signor Vice Questore.“

„Du siehst Venedig, Morello. Die Touristen rieseln morgens in die Stadt hinein und abends wieder hinaus. Manchmal bleiben sie eine Nacht, manchmal zwei, selten drei, kaum jemals vier. 30 Millionen Touristen rieseln in die Stadt. Jahr für Jahr. Und sie lassen Geld bei uns. Viel Geld. Geld, von dem letztlich auch dein Gehalt bezahlt wird.“

„Ich verstehe, Signor Vice Questore“

Schorlau Wolfgang/Caiolo, Claudio: Der freie Hund, S. 37

Es scheint ein Gesetz zu geben, was das Schreiben von Regionalkrimis anbelangt. Die Ermittler oder respektive die Ermittlerinnen, die in einer touristisch attraktiven Region (Camargue, Venedig, Provence, etc.) ermitteln, werden immer gegen ihren Willen dorthin strafversetzt. Immer. Sie stoßen vor Ort auf Widerstände im Team, bekommen es mit einem Mord zu tun, lösen diesen dann restlos auf und bleiben dann doch in der Region hängen, da sie sich in Land und Leute verliebt haben. Der Grundstein ist gelegt für mindestens fünf Fortsetzungsromane, ehe der Boom dann irgendwann versandet.

Wolfgang Schorlau/Claudio Caiolo - Der freie Hund (Cover)

Diesem güldenen Regelwerk für Regionalkrimis folgen auch Wolfgang Schorlau und Claudio Caiolo bei ihrer Zusammenarbeit namens Der freie Hund. Ihr Komissar heißt Antonio Morello, stammt aus Sizilien und ermittelte dort gegen die Mafia. Diese Ermittlungen brachten ihn in Gefahrt, sodass er nach Venedig strafversetzt wurde. Dort fremdelt er nun gewaltig, bekommt es mit Widerständen und neuen Kolleg*innen zu tun und hat auch bald einen ersten Mordfall, in dem er ermitteln muss. Ein junger Mann wurde mit mehreren Messerstichen ermordet. Er stand einer Bewegung vor, die sich gegen Kreuzfahrtschiffe in Venedig einsetzte. So muss der freie Hund nun ran und sich durch die Palazzos und Kanäle Venedigs ermitteln. Und das was das güldene Regelwerk des Regionalkrimis angeht, so verrät man wohl nicht zu viel, wenn man künftig mit weiteren Einsätzen für Morello rechnet.

In meinem Falle könnte ich darauf gut verzichten. Denn Der freie Hund kommt kaum über das Niveau der lieblos gemachten ARD-Länderkrimis hinaus. Da ist schon die mehr als fragwürdige Entstehungsgeschichte dieses Buchs, die mich stutzen ließ. Wenn dann das Produkt des italienisch-deutschen Duos wirklich überzeugen könnte. Aber das kann es zu keiner Minute.

Kein Klischee wird ausgelassen

Da sind zum Einen schon einmal die Figuren, die sich größtenteils lesen, wie sich ein Deutscher halt so die Italiener*innen respektive die Venezianer*innen vorstellt. Die Haute-Volee hat natürlich einen Dogen im Stammbaum und residiert in einem Palazzo, Kammerzofe inklusive. Der Kommissar ist ein eigensinner Sturkopf aus dem Süden, der bei seinem ersten Arbeitstag bei der Verfolgung eines Taschendiebs (wir sind ja in Venedig, nicht wahr) ins Wasser plumpst. Statt zum Vice Questore (den man natürlich immer mit Dienstrang anspricht) geht es dann aber erst mal zu Espresso und Gebäck ins Caffé. Frauen werden gerne über ihr Aussehen eingeführt, die eigenständig denkende Kollegin ist dann natürlich eine „Amazone“.

Wer so etwas lesen will, bitte. Ich glaube aber, dass wir 2020 schon etwas über diese Klischees hinaus sind, die selbst Donna Leon für ihre Krimis zu abgegriffen wären.

Passagen, die sich lesen, als hätten die Autoren einen halben Wikipedia-Artikel abgetippt, nachdem eine Figur das entsprechende Schlagwort im Dialog in den Raum stellt. Offensichtliches, dass dann aber extra noch einmal ausbuchstabiert wird, als hielte man seine Leser*innen für dumm.

„Eigentlich wollte er über Nacht bleiben. Dann hat er es sich aber anders überlegt.“ Ihre Stimme klingt plötzlich gepresster und schneller. Sie blickt einen winzigen Augenblick zur Seite.

Sie lügt.

Schorlau Wolfgang/Caiolo, Claudio: Der freie Hund, S. 37

Das findet sich neben hölzernen Dialogen und Szenen wie aus einer Aperol Spritz-Werbung en masse im Buch.

Zudem ist auch die Ausgestaltung der Figuren alles andere als stimmig (wenn sie denn überhaupt mal so etwas wie etwas Ausgestaltung und Tiefe erhalten). Bestes Beispiel ist Morello, der zuvor dem organisierten Verbrechen auf der Spur war und dementsprechend mit der modernen Verbrechenswelt und modernen Polizeiarbeit vertraut sein sollte.

Allerdings ist er bass erstaunt, als ihm in der Rechtsmedizin eine Frau gegenübersteht. Man stelle sich das einmal vor! Eine Frau, die Rechtsmedizin studiert hat. Und das im 21. Jahrhundert. Das lässt den freien Hund staunen. Genauso wie der Taschendieb, mit dem Morello zuvor noch etwas Fangen in den Gassen Venedigs gespielt hat. Dieser bittet den Kommissar dann um eine Büroklammer. Als er dem Hund dann offenbart, dass er damit gerne die Handschellen aufnesteln möchte, ist Morello wieder einmal erstaunt. Sapperlott! So ein kleptomanischer Tausendsassa.

Hier muss man sich wirklich fragen, ob einen die Autoren dieses klischeesatten Machwerks für dumm halten wollen. Anzunehmen ist es leider. Und da ich Bücher nicht mag, die mich für dumm verkaufen wollen, bin ich beim nächsten Einsatz des freien Hundes nicht mehr dabei. Ein überflüssiges und liebloses Buch, das man sich hätte sparen können. Und die Lektüre dessen sowieso.

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Angie Kim – Miracle Creek

Von den kleinen Lügen, die Großes bewirken, erzählt Angie Kim in ihrem Roman Miracle Creek. Ein Gerichtsroman darüber, was Lügen auslösen können und wie weit man gehen sollte, um die Wahrheit hinter dem Berg zu halten.


Eine Lüge kann manchmal wie ein Streichholz sein. Es bedarf nur eines kleinen Reibens über die Zündfläche, und das Streichholz steht in Flammen. Und wenn man damit nicht aufpasst, kann am Ende ein ganzes Haus in Flammen aufgehen. Und das alles nur mit einer ursprünglich ganz winzigen Aktion.

Angie Kim - Miracle Creek (Cover)

Ein Streichholz ist es auch, das im Roman Miracle Creek (Übersetzung von Marieke Heimburger) eine Katastrophe auslöst. Dieses Miracle Creek ist eigentlich ein typisches amerikanisches Durchschnittskaff, in dem nichts passiert. Doch plötzlich ist alles anders. Das Gericht tagt, Elizabeth Ward muss sich vor der Justiz verantworten. Der Vorwurf: sie hat bei einer sogenannten HBO, einer Hyperbaren Oxygenierung, also einer Sauerstoffbehandlung bei Überdruck in einer abgeschlossenen Kammer, Feuer gelegt. Zwei Menschen sind dadurch zu Tode gekommen, darunter Elizabeths eigener Sohn, der sich während des Feuers in der Kammer befand. Die Spurenlage ist eindeutig. Schon lang trug sie sich mit dem Gedanken, die Therapie abzubrechen. Zudem verzweifelte sie des Öfteren an ihrer Rolle als Alleinerziehende mit einem autistischen Sohn. Für die Öffentlichkeit steht es schon vor dem Prozess fest: Elizabeth ist ein Monster, eine Mutter, die ihren eigenen Sohn durch Brandstiftung getötet hat. Alles klar also?

Mitnichten. Denn dass das mit der Wahrheit eine komplizierte Angelegenheit ist, das zeigt sich in Miracle Creek schon bald. Nachdem uns Angie Kim im Prolog an der Katastrophe teilhaben lässt, die sich in der Scheune in Miracle Creek ereignete, als die HBO-Druckkammer und mit ihr die Patienten in Flammen aufging, geht es dann im Hauptteil des Buchs um die Gerichtsverhandlung. Auf der Anklagebank sitzt Elizabeth, die sich mit ihrer Rolle als Schuldige abgefunden hat. Staatsanwälte, Richter, Verteidigung, alle sind bereit, um über sie Recht zu sprechen. Sogar eine Hinrichtung als Schuldspruch steht im Raum.

Lügen über Lügen

Doch dann beginnt Angie Kim damit, die verschiedenen Lagen aus Lüge, die sich um die Wahrheit gruppiert haben, langsam abzutragen. Auf Basis des Gerichtsprozesses kommen verschiedene Personen zu Wort. Da ist der Arzt, der mit den zwei Müttern und ihren autistischen Kindern in der Druckluftkammer saß. Da ist die koreanische Familie, die die Druckluftkammer und Scheune eigentlich betreuen sollte. Elizabeth selbst ist auch Teil der Wahrheit. Je weiter die Befragungen durch den Staatsanwalt und die Verteidigerin voranschreiten, umso klarer zeigt sich, dass in Miracle Creek gar nichts klar ist. Wie in einer Rückwärts-Kamerafahrt gelangen wir als Leser*innen von Angie Kim angeleitet langsam vom Scheunenbrand bis zurück zum Streichholz, das die Katastrophe auslöste.

Jede Figur hat ihre eigenen Geheimnisse. Untreue, Missgunst, Hoffart – die sieben Todsünden könnte man in diesem kleinen amerikanischen Kaff wunderbar durchexerzieren. Geschickt schafft es Angie Kim, die Widersprüche im Verhalten und die großen und kleinen Lügen Stück für Stück zu enthüllen. Eingeteilt in die vier Prozesstage wechselt sie immer wieder die Perspektiven und behandelt eine Vielzahl an Themen. Die Bewahrung der eigenen Identität in einem fremden Land, Anpassung, die Rolle als Mutter, der Wunsch nach Kindern – das alles sind Themen, die in Miracle Creek angerissen werden. Den inhaltlichen Schwerpunkt bilden in meinen Augen aber Missverständnisse und Lügen im Miteinander, die Kim uns zeigt.

Im Strudel der Unwahrheiten

Er versuchte mehrfach, Marys Blick zu fangen, sie zu warnen, ihm nicht zu widersprechen, aber sie starrte weiter auf den vollen Teebecher. Als Pak fertig war, herrschte längeres Schweigen, dann sagte Young: „Du hast nichts weggelassen? Das ist wirklich die ganze Wahrheit?“ Ihre Miene war gefasst, aber in ihrer Stimme schwang ein leises Flehen mit, eine Traurigkeit, umhüllt von verzweifelter Hoffnung, und er wünschte, er könnte sagen, selbstverständlich hatte er nichts ausgelassen, sie würde ihn doch kennen, sie wüsste doch, dass er kein Mann war, der für Geld das Leben anderer Menschen aufs Spiel setzte.

Aber das sagte er nicht. Manche Dinge waren einfach wichtiger als Ehrlichkeit, selbst der eigenen Frau gegenüber. Er sagte „Ja, das ist die ganze Wahrheit.“ und redete sich ein, dass es nur zu ihrem Besten war. Denn die wirkliche Wahrheit würde sie nicht verkraften.

Kim, Angie: Miracle Creek, S. 457

Angie Kims Buch ist ein Gerichtsthriller, aber auch ein Familienroman, der trotz des klassischen Settings näher an Celeste Ng als an John Grisham ist. Natürlich hält sie mit immer neuen Enthüllungen und Twists die Geschichte am Laufen. Aber im Kern ist Miracle Creek in meinen Augen ein Familiendrama, das eindringlich die möglichen Konsequenzen von fehlender Kommunikation und psychologischen Eigendynamiken belegt. Ein Blick tief hinein in einen Strudel aus Unwahrheiten und Lügen, der sich spannend und psychologisch glaubhaft liest.

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Streets of Philadelphia

Liz Moore – Long bright river

Manchmal hält die Programmplanung der Verlage die ein oder andere Überraschung bereit. So jüngst auch beispielsweise bei C.H. Beck. Am gleichen Tag erscheinen die Bücher zwei junger englischsprachiger Autorinnen, die sich beide um zwei Schwestern, deren Aufwachsen und die Frage nach dem familiären Zusammenhalt drehen. Während die Kanadierin Alix Ohlin aus der Ausgangslage einen ruhig erzählten Bilderbogen um ihre zwei Schwestern strickt, erzählt Liz Moore in Long bright river ihre Geschichte im Gewand eines Gesellschaftsroman mit starkem kriminalliterarischen Einschlag (übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann).

Die dunklen Seiten Philadelphias

Sie wandelt dabei auf den Spuren Dennis Lehanes. Ähnlich wie er sein Detektivduo Kenzie/Gennaro einst in den Straßen Bostons ermitteln ließ, schickt nun Liz Moore ihre Heldin Michaela „Mickey“ Fitzpatrick in Philly auf Streife. Sie ist als Streifenpolizistin im Revier Kensington tätig. Dieses Kensington könnte allerdings auch Gotham heißen, so düster und dreckig scheint dort alles. Die Kaufkraft ist verschwindend gering, Drogen, Kriminalität und Prostitution bestimmen das Straßenbild. Mickey beschreibt ihren Wohn- und Einsatzort so:

Das heutige Kensington wird von zwei Hauptverkehrsadern durchzogen: Front Street, die am Ostrand der City nach Norden führt, und Kensington Avenue – meist bloß die Ave genannt, eine mal freundliche, mal verächtliche Bezeichnung, je nachdem, wer sie benutzt –, die an der Front Street beginnt und in einem Schwenk nach Nordosten verläuft. (…)

Große Stahlträger stützen die Bahnlinie, blaue Pfeiler im Abstand von zehn Metern, sodass die ganze Konstruktion aussieht wie eine riesige und bedrohliche Raupe, die über dem Viertel hängt.
Die meisten Transaktionen (Drogen, Sex), die in Kensington stattfinden, fangen auf einer dieser beiden Hauptstraßen an und enden auf einer der vielen kleineren Straßen, die sie kreuzen, oder noch
häufiger in den verlassenen Häusern oder auf leeren Grundstücken, von denen es in den Seitenstraßen und Gassen des Viertels jede Menge gibt. Entlang der größeren Straßen finden sich Nagelstudios,
Imbissbuden, Handy-Läden, Mini-Märkte, Ramschläden, Elektroläden, Pfandhäuser, Suppenküchen, andere gemeinnützige Einrichtungen und Bars. Etwa ein Drittel der Ladenfronten ist verriegelt
und verrammelt.

Moore, Liz: Long bright river, S. 15

Tatsächlich ist der erste Vorschlag, den man beim Googlen nach „Kensington, Philadelphia“ erhält, der Terminus Drogen. Es folgen dann noch die Begriffe „Crime“ und „Crime Rate“. Die Bildersuche erbringt dann ein ähnliches Ergebnis. Bezeichnend auch eine Bilderstrecke des Fotografen Dominick Reuter, der den Stadtteil und seine Bewohner porträtiert hat.

Screenshot der Google-Suchanfrage

Zwei Schwestern im Moloch

In diesem Moloch versieht Mickey ihren Dienst. Ihr alter Partner, mit dem sie ein hocheffizientes Team bildete, ist im Krankenstand. Deshalb bekommt Mickey einen neuen Kollegen zugeteilt, mit dem sie durch die Straßen Kensingtons patrouillieren soll. Doch nachdem sich eine Chemie zwischen den beiden nicht so recht einstellen will, ist Mickey bald wieder alleine auf Streife.

Schon auf den ersten Seiten des Romans stolpert die junge Frau über die Leiche einer strangulierten Prostituierten. Es wird nicht die einzige Leiche bleiben. Offenbar macht ein Serientäter Kensington unsicher. Und Mickey hat allen Grund zur Furcht: denn nicht nur sie arbeitet in den Straßen Kensingtons. Auch ihre Schwester Kacey ist auf den Straßen des Molochs als Prostituierte tätig. Schwer drogenabhängig verkauft sie sich an ihre Freier, um Geld für den nächsten Schuss zu verdienen. Verschiedene Therapieversuche sind gescheitert und so bleibt für Mickey nur, aus der Ferne über ihre Schwester zu wachen.

Dadurch besitzt die Suche nach dem Serientäter für Mickey eine ganz eigene Brisanz. Auf eigene Faust versucht sie Nachforschungen anzustellen – und muss auch erkennen, dass ihre eigenen Kolleg*innen nicht unbedingt immer eine weiße Weste haben. Und dann ist plötzlich auch noch Kacey verschwunden. Ist auch sie ein Opfer des Killers geworden?

Ein Buch mit vielen Themen

Long bright river ist ein Buch, das viele Themen anschneidet und behandelt. Allein: bright, also glänzend, ist nichts davon. Da ist zum einen die Geschichte von Mickey und Kacey, die Liz Moore in einigen Rückblenden erzählt. Wie es kam, dass die eine der Schwestern drogenabhängig und die andere zur Polizei ging, das dröselt Moore langsam auf. Auch der Kampf von Mickey um ihre süchtige Schwester spielt eine Rolle, der (mit einer überraschenden Volte) von Moore nachvollziehbar geschildert wird.

Zum anderen ist das Buch auch großartiger feministischer Cop-Thriller. Ähnlich wie es zuletzt Melissa Scrivner Love in Lola (Suhrkamp-Verlag) gelang, Kriminalliteratur, Feminismus und Inneneinsichten von Drogenkartellen zusammenzubringen, schaffte es nun Liz Moore, sich in das Genre des Cop-Thrillers mit einer weiblichen Perspektive einzuschreiben.

Eigentlich sind die Helden der einschlägigen Autor*innen von Michael Connelly, Joseph Wambaugh bis Richard Price immer Männer. Polizisten, die die Straßen (un)sicher machen, manchmal hart am Rande der Legalität, oftmals auch darüber hinaus. Testosterongeladen, desillusioniert, männerbündlerisch- so kennt man diese Cops. Frauen nehmen in den Büchern zumeist nur statistische Rollen ein. Doch hier betritt mit Mickey Fitzpatrick nun eine Heldin die Bühne, die etwas anders ist.

Neben den Ermittlungen in den Straßen Philadelphias ist es auch die Trennung vom Vater ihres Kinders und ihre Existenz als Alleinerziehende, die sie umtreibt. Die finanziellen Sorgen, die prekäre Betreuungssituation ihres Sohnes, die überfordernde Sorgearbeit, das rissige familiäre Netz – glaubhaft beschreibt Liz Moore, wie Mickey zwischen diesen Anforderungen zerrieben zu werden droht.

Long bright river ist nicht zuletzt auch ein Buch über die Opioid-Krise und die verhängnisvolle Sucht eines ganzen Landes, die sich in Brennpunkten wie Kensington manifestiert. So kommen Menschen aus dem ganzen Mittleren Westen in dieses Stadtviertel, da sie hier die Strukturen für den Drogenkonsum sowie günstige Preise für Heroin und Co. vorfinden.

Gesellschaftspanorama, Krimi, Porträt einer zerrissenen Frau

Natürlich ist Moores Buch ein Krimi, das steht außer Frage. Aber darüber hinaus interessiert sich die Autorin eben auch für die gesellschaftlichen Umstände in Kensington, die symptomatisch für die USA sind. Der gigantische Drogenmissbrauch, die kaum vorhandenen Aufstiegschancen – wer will, kann viel Gesellschaftskritik in diesem Buch erkennen, das eben auch eine Milieustudie ist. Und nicht zuletzt spielt auch die Seelenlage Mickeys eine große Rolle, die glaubhaft über die Kindheit bis in die Gegenwart hinein entwickelt wird. Was es bedeutet, in einer „sozial schwachen“ Familie aufzuwachsen und die eigene Schwester an die Drogensucht zu verlieren, hier wird es nachvollziehbar geschildert.

Diese Mickey Fitzpatrick ist eine durch und durch glaubwürdige Heldin. Auch der von Liz Moore ersonnene Kriminalfall ist dicht dran an der Realität. Hier schaut eine Autorin auf die Abgründe, die die Hochglanz-Millionenmetropolen zweifelsohne auch bereithalten. Große feministische Krimikunst und gelungene Milieustudie aus Übersee.

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