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Daniel Glattauer – Die spürst du nicht

Die Bobos und der Pool. Ein eigentlich idyllischer Familienurlaub in der Toskana entwickelt in Daniel Glattauers neuem Roman Die spürst du nicht weitreichende Konsequenzen. Daraus entsteht ein Roman, der ein bisschen zu moralinsauer und zu harmlos ist, um wirklich zu überzeugen.


Die spürst du nicht – mit diesem Argument nehmen die befreundeten Familien Binder und Strobl-Marinek das Flüchtlingsmädchen Aayana mit in ihren Sommerurlaub in einer Villa in der Toskana. Besonders Sophie Luise, die große Tochter der Familie Strobl-Marinek hat sich die Begleitung des Urlaubs durch das Flüchtlingsmädchen ausbedungen.

Da kommt ihr das zarte dunkelhäutige Mädchen, das neben ihr kauert und ihr schüchtern über die Schulter schaut, wie gerufen. Aayana ist ein Flüchtlingskind aus Mogadischu. Vor vier Jahren, als Aayana zehn war, floh die somalische Familie aus einem Lager in Äthiopien durch die Wüste nach Libyen, wurde ein halbes Jahr später auf die italienische Insel Lampedusa geschleppt und gelangte schließlich nach Österreich, wo alle vier nach vergleichsweise kurzer Zeit Asyl bekamen, ihre Eltern, ihr zwei Jahre älterer Bruder Abdulaziz und Aayana selbst.

Daniel Glattauer – Die spürst du nicht, S. 8 f.

Nach viel hartnäckiger Überzeugungsarbeit erhält die Grünen-Nationalrätin und überzeugter „Gutmensch“ Elisa Strobl-Marinek schließlich äußerst widerstrebend die Erlaubnis von Aayanas Eltern, das Kind mit in das schicke Feriendomizil zu nehmen. Doch vor Ort kommt es zur Katastrophe, wovon Glattauer schon im ersten Kapitel seines Romans erzählt. In einem unbeobachteten Moment begibt sich Aayana abends an den Pool der italienischen Villa, wo das junge Mädchen ertrinkt.

Eine folgenreiche Tragödie im Sommerurlaub

Daniel Glattauer - Die spürst du nicht (Cover)

Es ist eine Tragödie, deren Auswirkungen Glattauer im Lauf der folgenden Kapitel ausführlich schildert und die Dynamiken, die aus dem Unglück erwachsen, in den Blick nimmt. Während man zunächst wie betäubt den Urlaub abbricht und sich wieder nach Österreich begibt, dringt die Kunde von dem Unglück besonders bedingt durch die Prominenz des aufstrebenden Polittalents Elisa Strobl-Marinek schnell an die Öffentlichkeit.

Die Presse berichtet, die Internetforen glühen, schnell schießen die Spekulationen ins Kraut. Zwar kann man dank der richtigen Kontakte der Hautevolee (oder eben „Bobos“, wie es der im Buch verwendete schöne Austriazismus ausdrückt) die Untersuchungen der italienischen Behörden schnell abhaken, doch ganz so einfach lässt sich die Affäre nicht abbinden. Denn plötzlich zieht Aayanas Familie vor Gericht und klagt auf eine Summe von 200.000 Euro für den Verlust ihrer Tochter und den dadurch erlittenen Schockschaden. Das befeuert die Berichterstattung rund um die private Tragödie der Nationalrätin noch einmal zusätzlich, die darüber die rätselhafte Verwandlung ihrer Tochter zu lange Zeit ignoriert – mit verhängnisvollen Folgen.

Ein gesellschaftskritischer Roman, der scheitert

Die spürst du nicht will ein großer gesellschaftskritischer Roman sein, der sowohl private Tragödie als auch gesellschaftliche Debatten in den Blick nehmen möchte. Dafür fehlen Glattauer aber die Mittel, obwohl er sich bemüht, die rund um den Fall entspinnenden Dynamiken und Bewegungen mithilfe verschiedener literarischer Gestaltungsmittel einzubinden.

So weist der Text Interviews, Frage- und Antwortspiele, Chats und eine begleitende Kommentierung eines fiktiven Forums auf. Aber hier wie im ganzen übrigen Text macht sich eine Überdeutlichkeit und Künstlichkeit breit, die Glattauers Text einiges von seiner Wirkung nimmt. Die Chats ähneln eher einem gekünstelten Gespräch am Marktstand denn einem wirklichen Internetforum.

Jeder, der in letzter Zeit zu einem beliebigen Aufregerthema (Heizdebatten, Asylrecht, Rammstein, etc) einen Blick in ein Forum oder eine Social Media-Plattformgeworfen hat, der wird wissen, dass man gerade im digitalen Raum längst nicht mehr auf eine derart gesittete, dialogische und dann auch noch orthografisch korrekten Variante miteinander kommuniziert, wie es der Österreicher in seinem Roman simuliert:

P37: Wieso werden die Namen im Bericht nicht geschrieben, wenn sie ohnehin schon bekannt sind?

A1: Weil es bei uns das Recht auf Schutz der Privatsphäre gibt.

A1a: Das gilt aber nicht für „Personen des öffentlichen Interesses“, also für Promis.

A1b: Blödsinn. Natürlich gilt das auch für die! Wenn das Ereignis nichts mit dem Job zu tun hat, ist und bleibt es Privatsache und muss geschützt werden.

A2: Manche Medien halten sich daran, manche nicht. Die sich daran halten sind die Depperten. Wenn ein Name einmal im Netz steht, dann ist es eh schon wurscht, dann wissen’s eh alle.

P133 Die Strobl-Marinek tut mir leid. Ich mag die. Sie ist eine der wenigen Echten bei den Grünen, mit Ecken und Kanten! Wäre interessant, was da genau passiert ist mit dem Flüchtlingskind.

A1: Machen überall Scherereien, die Flüchtlinge!! (Vorsicht: Ironie.)

A2: Die kann sich ihre politische Karriere jetzt abschminken.

A2a: Wieso? Das ist ein persönliches Unglück und hat nichts mit Politik zu tun.

A3: Von einer als zukünftige Umweltministerin gehandelten Person erwarte ich mir schon, dass sie ihre unmittelbare Umwelt so weit überblicken kann, dass nicht ein Kind quasi neben ihr im Swimmingpool ertrinkt.

A3a: Reden S’nicht so g’scheit daher. Wir wissen ja noch gar nicht, wie es dazu gekommen ist.

Daniel Glattauer – Die spürst du nicht, S. 45

Tell, don’t show

Alles in diesem Roman ist überdeutlich und weist klar auf die moralische Auslegung, zu der uns der Autor lenken will. Möchte man es auf einen griffigen Slogan bringen, dann liegt Die spürst du nicht das Motto Tell, don’t show zugrunde. Seine Charaktere werden weniger durch Handlung als durch eine klare Attribuierung gezeichnet und auch die Kapitel tragen in ihren Inhalt mit faden Überschriften wie Pierre versteckt sich, Mama kann weinen, Oskar kocht Curry oder Verfahren eingestellt demonstrativ zur Schau.

Auch die Pointe des zweiten Erzählstrangs um die durch eine Art von Cyber-Grooming immer weiter abstürzende Sophie Luise ist abgesehen vom künstlichen Chat-Ton zwischen zwei Jugendlichen in seiner ganzen Anlage zu deutlich überzeichnet, als dass die schlussendliche Aufklärung der Identität des mit der Politikertochter chattenden Pierre wirklich überrascht. Alles folgt einer klaren Erzählidee, die wenig Raum für Zwischentöne und authentische Dialoge der recht einfach gezeichneten Figuren lässt.

Wären die literarischen Mittel Glattauers raffinierter, hätte aus Die spürst du nicht ein gesellschaftskritischer, unbequemer und gut beobachteter Roman werden können. So ist dem Ganzen ein Gefühl der Überdeutlichkeit und offen zutage tretenden Moral zueigen, der spätestens im rechtschaffenen Schlussplädoyer vor Gericht meine Sympathien verspielt, wenn er allzu moralinsauer und mitleidheischend dem Leser oder der Leserin alles vorbuchstabiert, ohne auf die Mündigkeit der Leser*innen zu setzen. So wird für mich daraus leider eine enttäuschende Angelegenheit.


  • Daniel Glattauer – Die spürst du nicht
  • ISBN 978-3-552-07333-3 (Zsolnay)
  • 304 Seiten. 25,00 €
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42 Grad und es wird noch heißer

Wolf Harlander – 42 Grad

36 Grad und es wird noch heißer, so geht der Refrain des Sommerhits von 2Raumwohnung. Was aber, wenn es wirklich noch heißer wird und keine Abkühlung in Sicht ist? Dieses Szenario entwickelt Wolf Harlander in seinem Öko-Thriller 42 Grad. Der Journalist skizziert in seinem Buch den kurzen Weg von der Ordnung ins Chaos. Blockbuster-Literatur mit Schwächen, aber durchaus auch Realitätsbezug.


Was passiert eigentlich, wenn es in Deutschland immer heißer wird? Wenn der Klimawandel fortschreitet und die Wasserversorgung nicht mehr gewährleistet werden kann? Aus dieser Prämisse heraus ist 42 Grad entstanden. Darin erzählt Harlander von einem Hitzesommer, der ganz Europa in die Knie gehen lässt. Ausgangspunkt sind die Erlebnisse mehrerer Figuren über ganz Deutschland verteilt.

Da ist ein Hydrologe, der bei einem Unfall auf der Autobahn nahe Freiburg ein gefährliches Absinken des Grundwasserspiegels bemerkt. Eine Datenanalystin, die bei ihren Recherchen feststellt, dass Europa auf eine dramatische Wasserknappheit zusteuert. Ein Spezialist für Wasserversorgung, der zu mehreren mysteriösen Zwischenfällen in Wasserwerken in Nizza, Dresden und anderswo beordert wird. Oder ein THW-Mitarbeiter, der es mit einer Reihe gefährlicher Waldbrände zu tun bekommt. Alle diese Figuren müssen schnell feststellen, dass da etwas in Deutschland und in der ganzen Europäischen Union vorgeht, das die Gesellschaft an den Rand des Kollaps zu bringen droht.

Eine Ökothriller in der Tradition von Elsberg und Co.

42 Grad ist ein Öko-Thriller in der Tradition von Marc Elsberg und Andreas Eschbach. Während sich diese beiden Autoren mit dem Verschwinden des Stroms (Marc Elsberg Blackout) oder dem Ende des Benzins (Andreas EschbachAusgebrannt) beschäftigten, ist es nun bei Harlander eben das Wasser, das verschwindet. Wie schnell ein solcher Mangel eine Gesellschaft ins Chaos stürzt, das exerziert der Journalist hier durch.

Wolf Harlander - 42 Grad (Cover)

Seinen beruflichen Hintergrund als Journalist kann er dabei allerdings nicht verbergen. Dieser scheint in vielen Erklärdialogen zu den Themen Wasseraufbereitung, Gesteinsschichten oder Funktionsweisen von Wasserkraftwerken auf. Auch sind die Figuren doch holzschnittartig geraten und sind eher Funktionsträger, denn wirklich glaubhafte Figuren. Die Handlung und der Plot stehen im Vordergrund, eine plastische Skizzierung des Personals fällt da hintenüber. Hacking löst alle Probleme und trotz geschlossener Grenzen zu reisen oder unterzutauchen ist im Buch auch kein großes Problem. Ebenso verweisen die klar gezogenen Fronten zwischen Gut gegen Böse in ihrer Schematik auf den klar auf Unterhaltung und Effekt angelegten Charakter des Buchs.

Es ist ja eine starke Grundidee, die 42 Grad zugrundeliegt. Durch die arge Schablonenhaftigkeit von Plot und Figuren wird diese Idee leider etwas gemindert. Persönlich hätte auch auf die angelegte Liebesgeschichte, den Terrorismus-Twist oder die so manches Mal an ein B-Movie erinnernde Action und Dialoge im Buch nicht gebraucht. Da man bei der Lektüre von Harlanders Thriller aber wirklich etwas lernt und gut sich auch Bezüge zur Gegenwart in Pandemiezeiten ergeben, sei dieses Buch allen Spannungsfans mit Einschränkungen empfohlen. Nur ein Glas Wasser sollte man sich während der Lektüre besser neben den Stuhl im Schatten stellen. Man wird es brauchen.


  • Wolf Harlander – 42 Grad
  • ISBN: 978-3-499-00046-1 (Rowohlt Polaris)
  • 528 Seiten. Preis: 15,00 €
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Emily Ruskovich – Idaho

Mit dem Debütroman Idaho der jungen Autorin Emily Ruskovich (Deutsch von Stefanie Jacobs) ist es ein bisschen wie mit dem Basteln eines Würfels. Wohl jeder hat schon einmal im Mathematikunterricht oder bei ähnlichen Gelegenheiten einen solchen Würfel entwerfen müssen. Zunächst wird der Grundriss auf Papier gezeichnet, die Laschen vorbereitet und ausgeschnitten. Anschließend wird das platte Gebilde gefalzt, geklebt und Stück für Stück zusammengefügt, sodass aus dem planen Grundriss am Ende ein dreidimensionales Objekt entsteht. Mit Ruskovich‘ Buch verhält es sich ähnlich, denn ähnlich wie beim Basteln muss auch hier im Buch der Leser einige Arbeiten erledigen, ehe sich das Kunstwerk ganz entfaltet.

Dabei sind die Grundflächen des erzählerischen Würfels bei Emily Ruskovich verschiedene Jahre und Figuren. Sie entscheidet sich nämlich gegen eine chronologische Erzählweise und die Fokussierung auf eine Person – stattdessen erzählt sie multiperspektivisch und deckt eine Zeitspanne von 1973 bis 2025 ab. In deren Mittelpunkt steht Wade, ein Mann aus Idaho, der bei einer Katastrophe alles verloren hat, was man verlieren kann.

Während des Holzmachens ermordet seine Frau Jenny aus heiterem Himmel seine Tochter May mit einem Beil. Wades zweite Tochter June kann fliehen und entkommt in die dichten Wälder Idahos – und bleibt verschwunden. Aufgerollt wird diese Katastrophe, das Davor und Danach durch mehrere Figuren; mal forscht Wades zweite Ehefrau Ann in der Geschichte ihres Mannes, mal wird die Geschichte aus Sicht einer Zellengenossin in Jennys Gefängnis erzählt. Stück für Stück puzzelt sich für den Leser so die Wahrheit über jenen schicksalhaften Tag in der Natur Idahos zusammen.

Vergessen und Erinnern

Das Großartige an Idaho ist nun die doppelte Erzählweise, die Ruskovich wunderbar zur Anwendung bringt. Denn neben der Katastrophe ist das zweite bestimmende Thema des Buchs die Erinnerung. Nach dem Schicksalsschlag entgleitet Wade nämlich allmählich die Erinnerung. Er rutscht in eine Form der Demenz ab. Seine zweite Frau Ann muss mitansehen, wie er immer wieder Aussetzer erleidet und zunehmend die Kontrolle über sein Leben und seine Vergangenheit verliert:

„Aber dann spürt sie in seinen verletzlichsten, würdelosesten Momenten ab und zu, dass die Ereignisse seines Lebens noch nicht ganz verloren sind, dass jener eine Nachmittag, an den sich nicht mehr erinnert, immer noch in in ihm ist, ihn ausfüllt. Verschwunden ist nur die konkrete Textur seiner Erinnerungen, nicht das Gefühl. Allmählich vermischt sich alles, verschwimmen die Linien, bleibt nur ein Gedankenort ohne Gestalt. Aber es gibt immer noch einen Mittelpunkt, ein Datum und eine Zeit, um die herum sich das zunehmend Gleichförmige sammelt und anordnet. Manchmal weiß er alles. Kennt die Namen von May und June. Weiß vom Brennholz und vom Pick-Up. Manchmal erwischt ihn die Erinnerung selbst wie eine herabsausende Axt, so scharf und präsent, dass er glaubt, es wäre erst gestern geschehen.“

Ruskovich, Emily: Idaho, S. 264

Die junge Amerikanerin zollt diesem Vergessen und Erinnerung nun Tribut, indem sie ihren Roman so erzählt, wie auch die Erinnerung funktioniert – nämlich nicht chronologisch, sondern in Schlaglichtern. Immer wieder kommen Fragmente aus der Vergangenheit ans Tageslicht und bilden so langsam das erzählerische Ganze.

Neben den Figuren und der behutsamen Annäherung an die Geschichte weiß auch die im Buch omnipräsente Natur zu überzeugen. Gelungen fängt Emily Ruskovich das Gefühl ein, was es bedeutet, in den Bergen und in der rauen Natur ein Leben zu verbringen. Ihre Charaktere sind überlebensgroß, besitzen psychologische Tiefe und bewegen sich in einem Umfeld, das erzählerisch gut funktioniert. Ein starkes Debüt von einer Autorin, von der man noch einiges erwarten darf!

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Franzobel – Das Floß der Medusa

Sehenden Auges ins Verderben

Franzobel traut sich mit seinem neuen Roman etwas – er entwirft ein barockes, schon fast überbordendes Gemälde in Schriftform. Dreh- und Angelpunkt ist der Untergang der Medusa, eines großen Schiffes, das von Frankreich aus eigentlich den Senegal ansteuern sollte. Doch Egoismus, Verblendung und Geltungssucht sorgen dafür, dass aus dem Unternehmen schnell ein Desaster wird und sich ein Reigen der Eitelkeiten und Hybris entwickelt.

Vor der Küste Afrikas läuft der Master auf die Arguin-Sandbank auf. Der Kapitän rettet sich mit der Oberschicht auf die zu klein skalierten Rettungsboote – doch für 200 Menschen wird die Medusa zur Falle und sie schaffen es nicht von Bord. Man behilft sich kurzerhand, indem man aus den Schiffsteilen ein Floß für die restlichen Passagiere zimmert und mithilfe dieses Floßes die afrikanische Küste erreichen will. Der Plan ist gut, die Seewelt allerdings noch nicht bereit dafür. So treten schon bald die Schwächen des Plans zu Tage – und auf dem Floß entfesselt sich ein Überlebenskampf.

Franzobel erzählt seine Medusa-Parabel eng am historischen Kontext entlang (so versichert er dies zumindest im Nachwort seines fast 600 Seiten dicken Schmökers – bei allem detailliert geschilderten Kannibalismus an Bord der Medusa möchte ich mir den Begriff Schinken ersparen). Als besonderen Kniff dieses im 19. Jahrhundert spielenden Romans ist die Sprache Franzobels allerdings gar nicht historisch. Immer wieder flicht er postmoderne Manierismen ein. Der Erzähler wendet sich direkt an den Leser, korrigiert sich manchmal selbst und Besetzungsvorschläge für die Charaktere liefert Franzobel auch gleich selbst mit (von Lino Ventura bis Scarlett Johannsen reichen die Ideen des Österreichers). Dies sprengt manchmal wohltuend, manchmal irritierend den Fluss der Geschichte auf und sorgt für die nötige ironische Brechung, die dem Floß der Medusa gut zu Gesicht steht.

Mit großer Lust und Verve betrachtet Franzobel auch die Ausscheidungen und Auswüchse, als der Firnis der Zivilisation immer fadenscheiniger wird (an dieser Stelle sei nur an die Operation des Juden Kimmelblatt oder an das nutritive Treiben auf dem Floß erinnert, bei dem der Österreicher den Lesern nichts erspart).  Doch gelingt ihm auch, den Spagat zwischen Derbheit und möglichen Zumutungen zu halten und das Erträgliche nicht zu überreizen. Auch wenn der Roman nach der Schilderung des Schiffbruchs ebenfalls von einer kleinen Flaute erwischt wird, so trägt sich die Geschichte doch dann auch durch einige Sprünge und Szenenwechsel gut ins Ziel.

Das gelingt auch deshalb so gut, weil Franzobel wunderbare Stützpfeiler für sein Epos gefunden hat – die einzigartigen Figuren. Franzobel verleiht dem wirklich überbordenden Personaltableau eine formidable Gestalt. Alle Charaktere werden gut eingeführt und erhalten unverwechselbare Gesichter, Marotten und Schicksale (Clutterbucket! Schmaltz! Charlieee! Die Lafitte-Schwestern!). Wie sich diese Figuren auf dem Schiff bewegen, welche Welten dort aufeinanderprallen und wie man gemeinsam sehenden Auges ins Verderben steuert, das ist große Kunst und fürwahr eine ganze Zivilisation in nuce.

In meinen Augen ist Das Floß der Medusa ein wirkliches Epos, ein fantastischer Wurf und ein barock-modernes Drama, das weit über seinen historischen Kontext hinausweist. Völlig zu Recht ist das Buch für den Deutschen und nun auch für den Bayerischen Buchpreis nominiert. Ein Sieg wäre dem Buch zu gönnen!

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Noah Hawley – Vor dem Fall

Netflix-Afficionados könnte der Name dieses Autors schon bekannt vorkommen – denn als Headautor ist Noah Hawley für die grandiosen beiden Staffeln der Serie Fargo verantwortlich, die lose auf dem legendären Film der Coen-Brüder basiert. Auch für die Serie Bones-Die Knochenjägerin steuerte der amerikanische Drehbuchschreiber Skripte bei. Nun liefert Hawley als Autor auf dem deutschen Buchmarkt sein zweites Buch ab- Vor dem Fall heißt der Titel.

Vor dem Fall von Noah Hawley

Vor dem Fall von Noah Hawley

Darin erzählt er von einem Flugzeugabsturz, dessen Vorgeschichte und dessen Konsequenzen. Ein Privatjet mit einem Newsmogul und dessen Familie sowie weiteren illustren Gästen an Bord, stürzt auf dem Weg von Martha’s Vineyard nach New York ab. Den Absturz haben nur der per Zufall an Bord befindliche Maler Scott Burroughs und der Sohn des Newsmoguls überlebt, den Scott in einem Akt übermenschlicher Anstrengung stundenlang durch das Wasser zieht und damit rettet. Die Medien stürzen sich schon bald auf Scott und den Jungen und beleuchten den Hintergrund des Malers und ergehen sich in dubiosen Spekulationen.

Währenddessen bedrängen Scott auch die Ermittlungsbehörden, die erfahren wollen, was an Bord der Maschine wirklich geschah. Doch die Erinnerungen von Scott sind durch den Unfall wie ausgelöscht. Erst allmählich drängen diese Erinnerungen den Wrackteilen des Flugzeugs gleich an die Oberfläche.

Mit Vor dem Fall ist Noah Hawley ein toll komponierter Roman gelungen, der durch seine geschickte Montage die Spannung über die 446 Seiten zu tragen weiß. Stück für Stück enthüllt der Autor die Wahrheit, auch indem jede der an dem Flug beteiligten Personen eine eigene Rückblende erhält, wie z.B. die Stewardess oder der Leibwächter des Newsmoguls. Immer neue Facetten treten so zutage und machen das Bild des Absturzes immer runder. Daneben flechtet Hawley auch noch Bildbetrachtungen von Werken ein, die Scott Burroughs gemacht hat und erzählt in Rückblenden von dessen Leben. Dies ist handwerklich mehr als sauber gelungen – man merkt dem Buch deutlich Hawleys Herkunft vom Film an. Durch diese außergewöhnliche Montage und die filmische Erzählweise wird Vor dem Fall zu etwas besonderem und verdient eine Lektüre!

 

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