Wo die Flusskrebse singen

Delia Owens – Der Gesang der Flusskrebse

Gerne ist in Rezensionen (meinen eingeschlossen) von atmosphärischen Schilderungen die Rede. Doch was bedeutet das eigentlich? In Delia Owens Debüt Der Gesang der Flusskrebse lässt sich das nahezu in Perfektion beobachten.

Die Hütte lag etwas entfernt von den Palmettopalmen, die sich über Sandwatt bis zu einer Perlenschnur von grünen Lagunen erstreckten, und dahinter, in der Ferne, kam die weite Marsch. Meilenweit widerstandsfähiges Riedgras, das sogar in Salzwasser wuchs, nur unterbrochen von Bäumen, die der Wind nach seinem Belieben gekrümmt hatte. Eichenwald umringte die Hätte auf der anderen Seite und schützte die nächstgelegene Lagune, deren Oberfläche vor Leben schäumte. Salzluft und Möwengeschrei drangen vom Meer durch die Bäume herüber.

Owens, Delia, Der Gesang der Möwen, S. 15

Man meint, förmlich selbst mit durch die Marschlandschaft zu wandern, wenn sie Delia Owens (toll von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann übersetzt) so in Szene setzt. Die Atmosphäre überträgt sich in diesem Buch durch die präzise geschilderten Landschaftsbeschreibungen, die unter anderem den Reiz dieser Erzählung ausmachen. Zusammen mit der jungen Kya durchfährt man Kanäle, beobachtet Flora und Fauna und ist mit ihr weit draußen in der Natur, dort wo die Flusskrebse singen. So hat es ihr zumindest ihre Mutter erzählt, denn erst wenn man sich alleine und ungestört in die Natur begeben hat, dann hört man ihn vielleicht, den Gesang der Flusskrebse, draußen in den Marschen North Carolinas.

In den Marschen North Carolinas

Doch von ihrer Mutter bleibt Kya außer dieser Weisheit wenig. Schon zu Beginn der Geschichte verlässt sie die Familie. Der Exodus der Familienmitglieder setzt sich immer weiter fort, und so bleibt dann nur Kya zusammen mit ihrem jähzornigen Alkoholikervater in jener ärmlichen Hütte zurück, die Delia Owens im Eingangszitat beschreibt. Kyas Kindheit und das Aufwachsen in den Sümpfen erfahren wir in chronologischen Rückblenden, die die Handlung in der erzählten Gegenwart von 1969/70 ergänzen.

Delia Owens - Der Gesang der Flusskrebse (Cover)

Denn in zu dieser Zeit ist die lokale Polizei um die Aufklärung eines eventuellen Mordes bemüht. Chase Andrews, vielversprechendes Sporttalent und Womanizer, liegt tot am Fuße eines Turms in der Marsch. Zwar gibt es keine eindeutigen Beweise, aber die Polizei geht von Mord aus. Und die Verdächtige steht auch schnell fest: die junge Kya, von allen das Marschmädchen genannt. Und so ist man als Leser*in Zeuge, wie der Krimi seinen Ausgang nimmt, der später im Gerichtssaal enden wird.

Es sind also die verschiedensten Zutaten, die Delia Owens in ihrem Debüt verquickt. Ein Krimi, ein Justizdrama, ein Coming-of-Age-Roman, ein Naturbuch. Das dieses Gemisch nicht in seine Einzelteile zerfällt, das ist der Autorin hoch anzurechnen. Mit ihrem Sinn für Atmosphäre kreiert sie einen ganz eigenen Kosmos, der ähnlich dem ist, den William Kent Krueger in Für eine kurze Zeit waren wir glücklich präsentierte.

Eine Überraschung zum Schluss

Für ihre jugendliche Protagonistin findet sie eine stimmige Erzählweise und die Rückblenden belegen die Formung des Charakters von Kya glaubhaft. Die Balance aus Krimihandlung in der Gegenwart und Rückblenden ins Leben des Marschmädchens ist gut austariert. Wenngleich eine der beiden im Buch geschilderten Liebesgeschichten etwas erwartbar bleibt, so fällt das auch dadurch kaum ins Gewicht, da Der Gesang der Flusskrebse dann mit einer Schlusspointe aufwartet, die man so nicht erwartet hätte (zumindest ich tat das nicht). Sie lässt die vorherige Handlung dann noch einmal in einem neuen Licht erscheinen, mehr sei dazu aber nicht verraten.

Auch das spricht ja für das schriftstellerische Vermögen von Delia Owens. Dieses Talent zu fesseln, zu überraschen, den Kopfkino-Projektor bei den Leser*innen anzuwerfen.

Insgesamt ist Der Gesang der Flusskrebse so ein Buch, das packende Lesestunden beschert, das berührt und das mitnimmt in die Marschlandschaften in North Carolina. Mehr kann man von einem Buch wahrlich nicht erwarten. Einer meiner großen Sommerurlaub-Lektüretipps!


Weitere Besprechungen dieses Titels finden sich bei Wortgelüste, Günther Keil und Nicolettantoinetta

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Roy Jacobsen – Die Unsichtbaren

Zwar ist es noch ein paar Monate hin, doch Mitte Oktober findet in Frankfurt wieder die jährliche Frankfurter Buchmesse statt. Gastland ist dieses Mal Norwegen. Grund genug, mir im Vorfeld schon ein paar norwegische Autor*innen anzusehen und mich in der Reihe #norwegenerlesen mit ihren Werken auseinanderzusetzen. Den Anfang macht in dieser Reihe Roy Jacobsen mit seiner Insel-Saga Die Unsichtbaren.

Bei seiner Insel-Saga handelt es sich um drei Bücher, die ab 2013 regelmäßig alle zwei Jahre erschienen. Der C.H. Beck-Verlag hat diese drei Bücher in der Übersetzung von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann unter dem Titel Die Unsichtbaren zu einem Buch zusammengefasst. Jener Titel ist zugleich der des ersten Buchs der Trilogie. De Usynlige, so der norwegische Originaltitel, stand im Jahr 2013 sogar auf der Shortlist des internationalen Booker-Preises.

Leben und Sterben auf Barrøy

Schauplatz dieser Insel-Saga ist das Eiland Barrøy, eine norwegische Schäreninsel. Nicht einmal einen Kilometer an der breitesten Stelle misst die Insel, die beständig von Wind und Meer in den Zangengriff genommen wird. Dort lebt Hans Barrøy als Familienoberhaupt seines Clans. Zusammen mit seinem Vater, Frau und Tochter sowie weiterer Verwandschaft bewirtschaften sie den heimischen Hof und die Insel. Ein paar Schafe, Eiderenten, ein Pferd – mehr gibt die karge Insel nicht her. Die Haupteinkommensquelle der Familie ist der Fischfang, später wird man sich auch an einer reduzierten Milchwirtschaft versuchen.

Diese Insel erlebt man nun auf den folgenden 600 Seiten in Zeiten der Not, in Zeiten der relativen Prosperität. Der Winter bringt das Meer rund um die Insel zum Gefrieren, im Sommer wird die ganze Insel unter Wassermangel ächzen. Kinder werden geboren, Alte sterben. Der Lauf des Lebens, er lässt auf Barrøy sehr gut nacherleben. Dabei schwebt über allem ein ein Gefühl der Entschleunigung und des Wissens um die Unwiderbringlichkeit des Vergangenen.

Ein längst vergangener Takt

Roy Jacobsen - Die Unsichtbaren (Cover)

Roy Jacobsen schafft es vor allem im ersten Buch ganz hervorragend, die verschrobenen Inselbewohner*innen auf Papier zu bannen. Ihre Macken, ihre Sorgen, ihre Nöte – glaubhaft vermittelt der norwegische Schriftsteller seine Figuren an die Leser*innen. In seiner Inselsaga schafft er es, nicht nur das Leben mit seinem längst vergangenen Takt zu schildern, sondern dieses auch erfahrbar zu machen. Eine Besonderheit, die nicht vielen historischen Romanen gelingt.

Leider schafft es Roy Jacobsen nicht, die Dichte und Stringenz aus dem Anfangsteil seiner Saga über die ganze Länge des Buchs zu wahren. Je größer der Exodus von der Insel und je tiefgreifender die Ereignisse (vor allem der Zweite Weltkrieg), umso mehr Längen schleichen sich im Text ein. Vor allem der letzte Teil (Die Augen der Rigel) zerfällt zusehends.

In diesem Teil macht sich Ingrid, die Tochter Hans Barrøys, auf die Suche nach einem Mann, den sie einst angeschwemmt auf ihrer Insel auflas. Zwar beeindruckt die Hartnäckigkeit der Suche Ingrids, mich langweilte sie dann aber auch stellenweise sehr. Zu langatmig sind die Reisen, die Ingrid quer durch Norwegen unternimmt, immer mit viel Verzweiflung, aber wenig Erfolg unterwegs.

Starker Beginn, weniger starke Fortführung

Zwar vermitteln die beiden übrigen Teile der Insel-Saga der Trilogie auch Wissen über die Zeit der norwegischen Besetzung und die Zwangslage Norwegens zwischen den Expansionsbewegungen von Deutschem Reich und Russland (völlig neu war mir etwa die Geschichte des Konzentrationslagers Mysen) – aber dennoch reicht das alles nicht, um eine packende Geschichte zu erzählen. Das ein ums andere Mal ertappte ich mich, als meine Gedanken abschwiffen – und auch das ausufernde Personaltableau benötigt viel Konzentration und Übersicht. Schade, dass hier vonseiten des Verlags die Chance verpasst wurde, ein Personenverzeichnis an den Anfang oder das Endes dieser voluminösen Saga zu setzen. Mir hätte es die Lektüre doch etwas erleichtert.

Aber auch ohne diese Mängel ist Die Unsichtbaren ein Buch, das hervorragend einen Blick ins Leben einfacher norwegischer Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zulässt. Vor allem der erste Teil der Trilogie weiß zu überzeugen (ein Problem, das das Buch ja mit vielen anderen Buch- und Filmtrilogien teilt). Deshalb sei, bei allen Schwierigkeiten, die ich mit dem Buch hatte, die Insel-Saga doch empfohlen. Ein guter Auftakt zu Norwegen erlesen.

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Down Under = Crime Wunder

Chris Hammer – Outback

Während die Buchläden und Krimiregale mit völlig austauschbarer Dutzendware aus Frankreich geflutet werden (Mord in der Provence, Mörderisches Lavandou, Mörderischer Mistral, Tod in der Provence, Provenzalische Verwicklungen, Blutrote Provence, Mörderische Côte d’Azur, Madame le Commissaire, Bruno, Chef de Police, Bretonisches Vermächtnis, und so weiter und so fort; man könnte diese Reihe mit Titeln aus dem Setzkasten noch unendlich fortführen) gibt es gottseidank auch noch andere Trends als Rezept- und Reisebücher mit ein bisschen Mord und Totschlag. Eine Region, die gerade den Takt in Sachen spannender und ungewöhnlicher Krimis angibt, ist Australien. In meinen Augen entwickelt sich Down Under immer mehr zum Crime Wunder.

Zahlreiche Autoren und Autorinnen von der Insel sind es, die das Krimigenre bereichern, darunter unter anderem Candice Fox mit ihrer Crimson-Lake-Serie, Garry Disher oder Alan Carter, der nun gerade mit Marlborough Man eine neue vielversprechende Serie gestartet hat.

Zu diesen Stimmen gesellt sich nun auch Chris Hammer, der mit Outback einen komplexen, spannenden und journalistisch grundierten Thriller aus der Gluthitze des Outback vorlegt. Jener Thriller entführt in das kleine Städtchen Rivers End, das fernab der Zivilisation liegt. Genauso verdorrt wie das ganze Land ist auch das kleine Städtchen selbst. Und das hat seine Gründe.

Eine Wahnsinnstat im australischen Outback

Vor einem Jahr erschoss der junge Pfarrer des Städtchens zielgerichtet fünf Männer vor seiner Kirche. Eine Wahnsinnstat, die Entsetzen und völlige Ratlosigkeit auslöste. Der Pfarrer war beliebt, kein Zeichen hatte auf den Amoklauf hingedeutet. Die Tat sorgte für die landesweite Bekanntheit von Rivers End und seitdem leben die wenigen Menschen dort unter dem Eindruck der Katastrophe. Die meisten Läden sind dicht, es herrscht Landflucht, kaum jemanden zieht es noch in jenes Städtchen im Outback.

Außer Martin Scarsden, einen Reporter, der für den Sidney Morning Herald tätig ist. Er soll ein Feature über das Städtchen und den Amoklauf des Pfarrers schreiben. Denn was immer noch nicht gefunden ist, ist das Motiv des jungen Pfarrers. Warum hat er gerade jene fünf Männner erschossen? Martin tut sich im Dorf um und beginnt nachzuforschen. Dabei stößt er auf einige Geheimnisse, die ihn schon bald überrollen werden wie die vielen Feuerwalzen, die immer wieder im Outback wüten.

Die Suche nach dem Motiv

Viele Thriller kreisen immer um die Frage „Was passiert als nächstes?“. Daraus generieren sie ihre Spannung, da die Handlung immer unvorhersehbar bleibt oder zumindest bleiben will. Chris Hammer geht da anders an die Sache heran. Bei ihm steht das Motiv für die Tat des Pfarrers und die Suche danach im Vordergrund. Mit der Figur von Martin Scarsden hat er dafür eine tolle Figur gefunden, die sowohl durch ihren Charakter als auch ihren Job einen guten Zugriff auf die Erzählstruktur erlaubt. War Scarsden früher als Kriegsreporter im Gazastreifen im Einsatz, hat er sich nun ganz in seinen Auftrag im Outback verbissen.

Dass Chris Hammer selbst eine Vita als Journalist und Korrespondent hat, das lässt sich aus Outback sehr gut herauslesen. Fundiert beschreibt er den Kampf um die nächste Schlagzeile, die Konkurrenz von Fernsehsendern und Printmedien und die Verwicklungen, die solch ein Auftrag mit sich bringen kann. Zwar erscheint die ein oder andere ermittlungstechnische Erkenntnis etwas überzogen (Martin ist ja fast jedes Mal der Polizei voraus und sichert sich entscheidende Erkenntnisse, bevor die Gesetzeshüter auf den Plan treten), aber das ist angesichts des Tempos und des großartig geschilderten Settings gerne verziehen.

Outback ist ein Thriller (übersetzt von Rainer Schmidt), der auch lange nach diesen rekordverdächtigen 40 bis 42-Grad-Tagen noch schwitzen lässt. Eine weitere tolle Krimientdeckung aus diesem Crime Wunder Down Under!

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Berit Glanz – Pixeltänzer

Wenn die digitale Welt in die Welt der Literatur Einzug hält, dann geht das meistens schief. Man denke nur etwa an Dave Eggers The Circle, der über eine plumpe Warnung vor übermächtigen sozialen Netzwerken nicht hinauskam. Die komplexe Welt der Technologisierung und Digitalisierung in überzeugende Prosa zu überführen, das klappt leider in den seltensten Fällen. Der Autor Karl Olsberg etwa sah sich etwa genötigt, sein Debüt Das System bereits neun Jahre später noch einmal neu zu überschreiben, da seine Voraussagen und Fiktionen schon längst von der Realität eingeholt worden waren. Und auch dieses 2016 erschiene Buch Mirror wirkt schon drei Jahre nach seinem Erscheinen wiederum stark veraltet und gestrig. Beim Versuch, Digitales in Prosa zu überführen, ist die Halbwertszeit wohl so hoch wie in keinem anderen Genre.

Wie es besser geht, das zeigt die Autorin Berit Glanz in ihrem bei Schöffling erschienenen Debüt Pixeltänzer. Darin kombiniert sie eine Schilderung aus der Welt der New Economy, eine Schnitzeljagd und die Geschichte eines Künstlerpaares, das heute längst vergessen ist.

Der Auslöser des Ganzen besteht im Download der App Dawntastic. Mit dieser kann man mit einer zufällig ausgewählten Person irgendwo auf dem Erdball kurz telefonieren. Nach drei Minuten unterbricht die App das Gespräch – Rückverfolgung nicht möglich. Auch die Programmiererin Elisabeth, genannt Beta, holt sich diese App. Inmitten ihres tristen Alltags in einem Büro aus der New Economy-Hölle (übermotivierter Teamleiter als Animateur, Team-Building Events und ein Kamerafisch im Büroaquarium) bietet die App Abwechslung und einen Blick über den eigenen Tellerrand. Bei einem Gespräch kommt sie auch in Kontakt mit dem mysteriösen Nutzer Toboggan. Dieser lockt sie in eine Schnitzeljagd hinein, die um das Schaffen eines Künstlerpaares kreist. Diese setzten den Ausbruch aus der bürgerlichen Realität in der Nachkriegszeit des 1. Weltkriegs tatsächlich um.

In Beta wächst der Faszination, mehr über Toboggan und das Künstlerpaar zu erfahren. Sie stürzt sich mit Eifer in die Schnitzeljagd, auf die sie Toboggan schickt. Dabei spürt sie dem Leben und Wirken von Lavinia und Walter hinterher und erfasst langsam die ganze Radikalität, mit der die beiden ihr Leben lebten und ihre Ideale verwirklichten.

New Economy, Apps und Maskentanz

Es ist ein geschickter Kniff von Berit Glanz, die New Economy-Welt mit ihrer ganzen Oberflächlichkeit gegen die Welt von Lavinia und Walter zu schneiden. So zeigen sich Parallelen und und das Ganze bekommt durch diese Zeitsprünge etwas Zeitloses. Etwas, das anderer „digitalen“ Prosa fast durchweg fehlt. Wie in einem Browser springt man immer wieder zwischen den einzelenen Tabs „Beta“ und „Lavinia und Walter“ sowie „Toboggan“ hinterher. Doch es entsteht so über die Tabs hinweg ein faszinierender Hypertext voller Bezüge und Anspielungen.

Und auch wenn die Welt des Berlins der 20er Jahre mit Heinrich Zille, Ballhaus und Yvan Goll zunächst scheinbar so weit weg von Beta erscheint – am Ende von Pixeltänzer kann man die beschriebenen Leben doch durchaus auch kongruent betrachten. Mögen die beiden Künstler in den 20ern auch dem Maskentanz gehuldigt haben – aber ist das irrealer oder versponnener als so manche App, die Menschen heute auf ihren Smartphones installiert haben? Oder was würden Lavinia und Walter zur gegenwärtigen Sitte sagen, sich Hundeschnauzen auf Fotos aufzumontieren oder sich künstlich altern zu lassen?

Wo sich andere Autoren kaum daran wagen, die digitale Welt in ihr Schreiben einzubinden, da geht Berit Glanz in die Vollen. 3D-Drucker, Downloadfortschritte, Hashtags und Hackathons – Betas Welt bildet schriftlich die Komplexität und Vielfalt der digitalen Welt ab. Dies gelingt der Greifswalderin, ohne dass dabei der Lesefluss stockte oder für weniger Digitalaffine das Buch unzugänglich erschiene. Die eigenwilligen Kapiteleinleitungen mit SQL-Schnipseln oder Programmiererklärungen kann man ja auch überlesen. Ich für meinen Teil habe dank Pixeltänzer aber auch nebenbei gelernt, was Monkey und Gorilla Testing beim Programmieren ist.

Glanz‘ Debüt ist innovativ und endlich einmal ein gelungenes Beispiel dafür, wie man Digitales in Prosa überführen kann. Damit ist auch der Gegenbeweis zu den eingangs zitierten Werken geschafft, bei denen der Brückenschlag zwischen Alt und „Neuland“ nicht so recht klappen mochte. Nur auf die Frage der Killers gibt auch Pixeltänzer keine Antwort: Are we human? Or are we dancer?


Weitere Besprechungen zum Buch sind auch bei Bookster HRO und bei Feiner, reiner Buchstoff erschienen. Schaut doch mal vorbei!

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Der Kampf gegen Windmühlen oder Die Rebellion der Cheri Matzner

Tracy Barone schafft mit Das unglaubliche Leben der Cheri Matzner, was die Kunst des Erzählens ausmacht: Sie beschreibt die Leben ihrer Figuren auf eine Weise, die ihre Einzigartigkeit aufzeigt und dennoch über den individuellen Kontext hinausgeht und zur Identifikation einlädt. Dank der gelungenen Übersetzung von Stefanie Schäfer liest sich der deutsche Text genauso flüssig und authentisch wie das amerikanische Original, jedenfalls nachdem man über die ersten drei Kapitel hinaus gekommen ist.


Die Charaktere der Nebenpersonen wirken oft überzeichnet, was anfangs gewöhnungsbedürftig ist und etwas plump wirkt, aber immer besser funktioniert, je weiter man liest. Letztendlich werden gerade dadurch die vielen Einflüsse, die Cheris Leben zu dem machen, was es ist, deutlich sicht- und spürbar. Sie werden dann sogar übertragbar, wenn Personen ihre Motive weniger offensichtlich vor sich hertragen. Die Überzeichnung der Figuren wirkt wie ein Vergrößerungsglas, das die Anknüpfungspunkte der komplizierten gesellschaftlichen Netze, in denen wir uns als Menschen wiederfinden, sichtbar macht.

Cheris ganz persönliches gesellschaftliches und soziales Netz wiederum ist kein bisschen plump beschrieben, sondern wird intelligent und feinfühlig erfahrbar gemacht, zum Beispiel, wenn Barone schreibt, dass Cheri das „hässliche Geheimnis“, dass sie mit ihrem Vater teilt, so lange mit sich herumtrug, „bis es Teil von ihr war, wie ein deformierter Zeh, den sie vergaß, bis sie die Schuhe einer anderen anprobierte“ (145) und damit eine altbekannte Metapher auf eine neue Ebene hebt. Zu ernst wird es aber auch nicht, denn es ist oft urkomisch, wenn die ihren eigenen Verstrickungen hilflos ausgelieferten Charaktere sich hoffnungslos ineinander verhaken, oder wenn Cheri trocken feststellt, das ständige Räuspern ihres Mannes gebe ihr das Gefühl, „mit einem alten Pinguin namens Milton zusammenzuleben“ (140).

Fragwürdige Außengestaltung

Titel, Titelbild und Klappentext machen mit den Roman genau das, was die Gesellschaft mit Cheri macht und wogegen sie so hartnäckig ankämpft: Sie stecken ihn in eine Schublade. „Hier geht es um eine Frau“, schreien Titel und Titelbild. An der Frau auf dem Umschlag fallen als erstes die dunklen, vollen Lippen auf („sie ist sexy und sinnlich“). Die Figur soll wohl geheimnisvoll wirken, denn sie trägt eine Sonnenbrille und ein Tuch um den Kopf. Handelt es sich um Cheri, die Hauptfigur des Romans? Dieser Rückschluss liegt zumindest sehr nahe, auch wenn das Aussehen der Frau auf dem Titelbild wohl eher Cheris Mutter Cici entspricht, von der Cheri sich ihr ganzes Leben lang emanzipieren musste. Cheri, Mitglied in der NRA (National Rifle Association), die Frau, die ihre Vergangenheit bei der New Yorker Polizei nicht loslässt, die sich danach dennoch als internationale Wissenschaftlerin etabliert hat, von ihrer Mutter aber trotz allem immer wieder in „ein kitschiges Kostüm“ (S. 146) gezwängt wird, wie schon zu Kindertagen (und deshalb ist sie laut Klappentext auch noch „rebellisch“)? Ich erkenne sie wenig wieder.

Die Aussage ist: „dieses Buch ist ein Schmöker für Frauen“, der Klappentext sagt „Es geht um eine Frau, die eine Fehlgeburt hat, aber ohne Kind nicht leben kann“ und damit, so wie die Dinge zurzeit liegen auch „für Männer ist dieses Buch nicht interessant, es dient der Unterhaltung von Frauen, die nichts zu tun haben (nicht umsonst gibt es nach wie vor ein ganzes Genre mit Namen „Frauenunterhaltungsliteratur„).

Ein Menschenleben

Dass es in dem Text um so viel mehr geht, um gesellschaftliche Konventionen, die Männer genauso betreffen und einschränken wie Frauen, um strukturellen Sexismus, um Rassismus, um Religion und die daraus resultierende Anfeindungen, um Schuldgefühle und Vergangenheitsbewältigung, dem wird diese Aufmachung nicht gerecht.

Neben der weiblichen Hauptfigur, Cheri, die unabhängig vom Geschlecht als Mensch viel Identifikationspotential bietet, begegnen wir einer Vielzahl männlicher Figuren, bei denen es nicht anders ist. Da ist ein junger Mann, der von seinem Vater darauf getrimmt wird, sportlich und tough zu sein, und der darum kämpft, seine fürsorgliche, väterliche Seite ausleben zu dürfen. Da gibt es beispielsweise eine männliche Figur, die in ihrer Rolle als Versorger so gefangen ist, dass sie es nicht schafft, ihren eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden, oder einen Mann, der beschließt, die Zeit vor seinem Tod selbstbestimmt zu gestalten. Wir erfahren, wie seine Angehörigen und seine Freunde damit umgehen. Barone schreibt über Familie, darüber, was Familie jenseits der biologischen Verwandtschaft ist. Sie wagt sich auf eine unsentimentale aber einfühlsame Weise an schwierige Themen wie Liebe und Verlust heran und sie schafft das alles auch noch, ohne Klischees zu bemühen. Und dennoch geht all das in der Umschlaggestaltung durch den Verlag unter.

Der Kampf gegen Windmühlen

Die Aufmachung ist symptomatisch für eines der Kernprobleme des Literaturbetriebs und zeigt, dass die Annahme Frauen schreiben leichte Unterhaltung (stets romantisch, immer nur romantisch) und Männer schreiben intellektuell über ernste Themen immer noch fortbesteht. Derselbe Text von einem männlichen Autor? Ich bin mir sicher, er hätte einen anderen Titel und ein anderes Titelbild bekommen. Als Autorin kämpft Barone wie so viele andere Kolleginnen gegen Windmühlen: Egal, was sie schreibt, wenn es bei einem großen Verlag erscheinen soll, muss sie in Kauf nehmen, dass es als seichte Unterhaltung abgestempelt wird.


Zur Autorin dieser Zeilen

Lena Kraus schreibt und übersetzt aus dem Englischen und Skandinavischen. Sie setzt sich für Demokratische Bildung ein und durchmisst nicht nur Erzählströme und Flüsse, sondern paddelt auch selbst in ihrer Freizeit in Deutschland und Großbritannien auf zahlreichen Gewässern.

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