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Mario Desiati – Spatriati

Rastlos bezüglich der eigenen Identität, rastlos bezüglich des Lebensziels, rastlos bezüglich der Bindung, rastlos bezüglich des Lebensortes und des eigenen Platzes im Leben. In seinem preisgekrönten Roman Spatriati zeigt Mario Desiati die Rastlosigkeit eines jungen Mannes, der in seinen Jugendtagen in Claudia eine Freundin findet, deren Beziehung zueinander aber auch eines bleibt – rastlos.


Es ist ein Wort, das sich kaum übersetzen lässt: Spatriati. Die Rastlosigkeit, die Unruhe und Bindungslosigkeit schwingt in diesem Wort mit, wie Mario Desiati bei der Vorstellung seines Buchs im Rahmen der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Herbst erklärte. Die Ruhelosen, die Außenseiter, die Spinner und nicht ganz in die Norm passenden Menschen werden im apulischen Dialekt so bezeichnet. In Desiatis Roman erklärt es der Erzähler wie folgt.

„Zurückgekehrt, aber immer noch spatriato“, sagen sie, eine Anspielung darauf, dass ich keine Frau, keine Kinder und auch keinen festen Job habe, dass ich immer auf gepackten Koffern sitze. Ich bin ein Verlorener. Ein Unbehauster, zumindest in ihrem Weltbild. Einer meiner wenigen Freunde ist etwas umsichtiger und bezeichnet mich als scapulèta, was ein bisschen besser ist als spatrièta, man verwendet den Ausdruck für Rinder, die sich von ihrem Joch befreien.

Mario Desiati – Spatriati, S. 240

Dass der Erzähler sonderlich sesshaft wäre, sowohl in Bezug auf seinen Platz im Leben als auch seinen Platz in einem sozialen Gefüge, man könnte es wirklich nicht behaupten. Denn dieser Francesco „Frank“ Veleno, der im kleinen Ort Martina Franca im Südosten Italiens aufwächst, bekommt das Unvollständige, das Unperfekte schon qua Familienstatus mit auf den Lebensweg gegeben.

Aus Apulien nach Berlin

Ich heiße Francesco Veleno, ich bin das einzige Kind von Elisa Fortuna und Vincenzo Veleno, zweier ehemaliger Amateursportler, die sich bei einer Folge von Spiel ohne Grenzen ineinander verliebt und mich in der Hoffnung großgezogen hatten, ich würde sie eines Tages aus dem rätselhaften Unglück erlösen, mich in die Welt gesetzt zu haben.

Noch war ich weit entfernt von der Erkenntnis, dass viele Beziehungen lediglich „aus Gründen der Staatsräson“ aufrechterhalten werden, wie Claudia es einmal ausdrücken sollte. Und dank ich würde ich zudem begreifen, dass es keine noch so zwingende Staatsräson gab, die drei derart unterschiedliche Menschen dazu verpflichtete, zusammenzuleben, es sei denn, es ginge darum, eine Strafe abzusitzen.

Mario Desiati – Spatriati, S. 7

Die Tradition der unorthodoxen und dysfunktionalen Beziehung überträgt sich bei ihm auch auf sein Leben, wie Desiatis Roman zeigt. Doch Halt verheißt dem durchs Leben Taumelnden die Freundschaft mit Claudia, die schon in Schulzeiten ihr Außenseitertum verbindet. Doch könnte da noch mehr sein zwischen den beiden – oder fühlt er sich doch zu Männern hingezogen, wie es eine erste Begegnung in der Sakristei der örtlichen Kirche verheißt? Alles ist spatriati – unscharf, quecksilbrig, fluide.

Dynamische Beziehungen und unklare Verhältnisse

Anziehung und Eifersucht, Distanz und Nähe, über die ganzen Jahre seit dem ersten Kontakt, es verbindet die beiden Menschen – und auch ihre Eltern. Denn Francescos Mutter pflegt eine Affäre mit Claudias Vater, eine weitere Verbindung in dem Netz, in dem sich die beiden jungen Italiener*innen befinden.

Auch ein Wegzug Claudias aus Apulien nach Mailand, während Francesco gleichzeitig vor Ort in Apulien verharrt, löst die Bindung nicht, im Gegenteil. Später werden beide nach Berlin und durch die Nachtclubs wie das Berghain oder den KitKat-Club ziehen. Affären mit Männern und Frauen, ein mehr als nur chaotisch zu nennendes und von Mario Desiati explizit geschildertes Liebesleben, doch keine Klarheit, wie man zueinander eigentlich wirklich stehen will. Es ist alles reichlich dynamisch in ihren Leben.

Ähnlich wie Vincenzo Latronico in seinem (jüngst mit einer Nominierung beim International Booker Prize geehrten) Roman Die Perfektionen spürt auch Desiati hier in großen Passagen der Rastlosigkeit italienischer Expats in der deutschen Hauptstadt nach. Auch wenn Claudia und Francesco weit entfernt von der oberflächlichen Perfektion und Sorglosigkeit von Latronicos Figuren Anna und Tom sind, so verbindet das Dasein als Spatriati sie alle doch auch irgendwie.

Neben der Rastlosigkeit und Ratlosigkeit über die Macht der Anziehung ist Spatriati auch ein Buch, das von Literatur gesättigt ist. Besonders Claudia ist eine leidenschaftliche Leserin, die in Zitaten von Alba de Céspedes bis zu den Werken von Maria Marcone, Naomi Klein, Italo Calvino oder Banana Yashimoto viel Identifikationsräume für sich ausmacht – und Mario Desiati lässt die Leser*innen in vollen Zügen daran teilhaben.

Fazit

Spatriati erkundet eingehend das Lebensgefühl der Orientierungslosigkeit, sowohl im zwischenmenschlichen, als auch auf ganze Leben bezogen. Die sexuelle Identität ist hier genauso unscharf auszumachen wie das Verhältnis, in dem die Figuren zueinander stehen.

Übersetzt durch Martin Hallmannsecker ist Mario Desiatis Roman in Italien bereits mit dem Premio Strega ausgezeichnet worden und lässt sich nun auch im Deutschen dank der vorzüglichen italophilen Arbeit des Wagenbach-Verlags entdecken.


  • Mario Desiati – Spatriati
  • Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker
  • ISBN 978-3-8031-3368-7 (Wagenbach)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €

Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend

In ihrem zweiten Roman dringt Deniz Ohde tief in das komplizierte Beziehungsgeflecht zweier Menschen ein, die nicht wirklich mit, aber auch nicht ohne sich können. Ich stelle mich schlafend ist das Porträt einer Beziehung zwischen Symbiose und Folie á deux.


„Alles weg“. Mit diesen Worten blickt der Wirt Ante auf eine Brache, die sich als erstes Bild in der Ouvertüre von Deniz Ohdes Roman darbietet. Einst stand auf dieser Brache ein Haus, das von Yasemin bewohnt wurde. Doch dieses Haus ist nicht mehr, was Ante und Yasemin bei ihrer gemeinschaftlichen Betrachtung der Leerstelle feststellen.

Und was siehst du jetzt, Yasemin? Sie sprach zu sich, vor der Brache stehend: Du kannst dich noch so weit vorbeugen, noch so sehr deine Stirn gegen den Drahtzaun drücken, als schautest du durch ein Schlüsselloch, in den verstaubten Mülltonnenverschlägen wirst du nichts erkennen, die Steine sprechen nicht, wofür soll ein zerstörtes Haus ein Zeichen sein?

Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend, S. 18

Auch wenn Yasemin für sich noch nach einer Ausdeutung des zerstörten Hauses als Symbol sucht: Deniz Ohde liefert auf den folgenden gut 220 Seiten eine eindrückliche Antwort auf diese Frage. Denn ebenso wie dieses Haus erst zerstört wurde und dann verschwand, erging es auch der Beziehung von Yasemin zu Vito.

Aufwachsen in der Vogesenstraße

Dieser wuchs als Nachbar von Yasemins Familie in der Vogesenstraße auf. Schon früh übte der Junge mit dem Kurt Cobain-Poster an den schwarzgestrichenen Wänden seines Zimmers eine große Anziehung auf Yasemin aus. Ihrer Freundin Immacolata, Tochter einer religiösen Familie und ebenfalls Nachbarin in der Vogesenstraße, beschrieb sie ihr Aufeinandertreffen sogar als schicksalhaft, Zeichen eines größeren Plans.

Eines flüchtigen Blickes würdigte Vito sie, und Yase legte alles hinein. Sie hatte einmal gelesen, wenn man der Liebe seines Lebens in die Augen sehe, dann spiegelten sich alle nachfolgenden Generationen darin. Genau das passierte ihr – so erzählte sie es Imma – am elften Januar um sieben Uhr siebenundzwanzig, sieben Wochen vor ihrem vierzehnten Geburtstag. Ganz merkwürdig sie das Licht in seine Augen gefallen, die aus der Ferne dunkel schienen, aber mit dem Einfall der Sonne aufleuchteten wie eine Glasmurmel, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie braun oder grün oder golden sei.

Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend, S. 41

Doch selbst wenn für Yasemin die Begegnung Schicksal und planhaft war, so folgte das Miteinander keinem solchen Plan. Anfängliches Desinteresse, später eine lose Beziehung mit diesem Mann, den weder Yasemin noch sonst irgendwer wirklich zu fassen bekommt. Auch eine deutlich solidere Beziehung mit einem Mann namens Hermann kann Yasemin nicht von ihrer Faszination und der Anziehung zu Vito kurieren, der von der Bildfläche verschwindet, um Jahre später in Bad Kissingen wieder zu Yase zu finden.

Eine Anziehungskraft, der man sich nicht widersetzen kann

Für sie, die sie als Tochter zweier Erwachsener „aus einem Willensbruch gezeugt wurde“, wie es in Ohdes Roman heißt, ist dieser unergründliche Vito ein Anziehungspunkt, dem sie sich nicht entziehen kann und auch nicht will. Hier findet sie zur Ruhe, obschon Vito immer wieder verschwindet, Anflüge fast manische Verhaltens an den Tag legt, auch vor Kleinkriminalität nicht zurückschreckt.

Deniz Ohde - Ich stelle mich schlafend (Cover)

Gerade der Widerspruch der ordentlichen, in einem Kaufhaus arbeitenden Yase und des selbstzerstörerischen, unergründlichen und sprunghaften Vito ist es, der dieses Paar irgendwie zusammenhält – bis hin zur Katastrophe.

Tief taucht Deniz Ohde in dieses komplizierte Beziehungsgeflecht und das Seelenleben ihrer Heldin Yase ein. Wie schon in ihrem ersten Roman Streulicht verzichtet Deniz Ohde dabei auf eine allzu konkrete Verortung ihres Handlungsortes und verleiht damit ihrem Roman einen universellen Charakter.

Die Vogesenstraße als Ort des Aufwachsens von Yasemin, Immacolata und Vito bleibt schemenhaft. Es handelt sich um eine Stadt, die nicht näher benannt wird. Später fällt einmal der Name von Bad Kissingen als Handlungsort, recht viel mehr an Realia bekommen wir aber nicht zu lesen. Dafür ist die Ausstattung dieser Straße und ihres Umfelds umso universeller. Die Wohnungen, die mal voller Nippes und mal Nagelstudio sind. Heruntergekommene Spielplätze, Wohnblöcke und mit Händen zu greifende Vernachlässigung. Später dann die Enge und Kargheit der Wohnung, die sie im Haus vor der Kneipe des Wirts Ante bezieht: die Trostlosigkeit dieser Umgebung ist universell, das Seelenleben ihrer Heldin umso spezieller.

Eine Beziehung zwischen Symbiose und Folie á deux

Das jugendliche Schwärmen, der „Zauber“, der Vito und Yasemin zusammengeführt haben muss, die Unmöglichkeit, dieser Prägung zu entkommen, dazu noch die Metapher des Schlafs, die sich in vielfacher Ausprägung in diesem Roman findet. Deniz Ohde beschreibt eine graue, traurige und manchmal geradezu toxischer (Beziehungs-)Welt, in der auch andere Menschen und Partner Yase nicht aus ihrer kindlichen Disposition für Vito befreien können und von der sie sich auch nicht befreien lassen will.

Das Miteinander dieser beiden Figuren ist mal Symbiose, im Großteil scheint es aber eher einer Folie á deux zu entsprechen, die in einer entsprechenden Finalhandlung enden wird, ja sogar muss. Da nutzt es auch nichts, die Augen zu schließen und sich schlafend zu stellen. Das Aufwachen in dieser Zweierbeziehung wird ein umso dramatischeres sein – und das nicht nur für Yase. Denn die Gewalt gegen Frauen, die Verachtung von deren Bedürfnissen ist ebenfalls ein Thema, das sich durch Ich stelle mich schlafend zieht.

Fazit

Freude beim Lesen bringt das alles nicht. Vielmehr muss man sich wirklich auf diese graue, wenig hoffnungsstiftende Welt einlassen wollen, in die uns Deniz Ohde hier mitnimmt. Zwischen Clownsnippes, Wohnkomplex, Kurt Cobain-Poster und beengten Räumen ist Ich stelle mich schlafend ein konsequent ausgeführtes, stilistisch gut umgesetztes Porträt einer verhängnisvollen Beziehung, in die Deniz Ohde tief vordringt und die trotz aller psychologischen Tiefenbohrung letzten Endes doch nicht ganz zu ergründen ist.


  • Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend
  • ISBN 978-3-518-43170-2 (Suhrkamp)
  • 248 Seiten. Preis: 25,00 €