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Rebecca F. Kuang – Yellowface

Was, wenn der größte schriftstellerische Erfolg der Laufbahn gar nicht aus der eigenen Feder stammt? Rebecca F. Kuang lässt in ihrem neuen Roman Yellowface eine junge Autorin am Literaturbetrieb verzweifeln, ehe sie in den Besitz eines Manuskripts gelangt, das ihr den großen Durchbruch beschert. Doch wie lange kann das gutgehen, sich mit fremden literarischen Federn zu schmücken?


Romane und Kinofilme über Schriftsteller, die sich fremde Werke aneignen, gibt es in rauer Menge. Im Kino konnte man im Jahr 2012 beispielsweise Bradley Cooper in Der Dieb der Worte dabei beobachten, wie er ein zufällig gefundenes Manuskript als das seine ausgab und damit großen Erfolg erzielte.

Martin Suter ließ in seinem Roman Lila, Lila ebenfalls einen erfolglosen Schriftsteller über ein verheißungsvolles Manuskript stolpern, das dieser in der Schublade eines alten Nachttischs fand. In der Folge des (mit Daniel Brühl in der Hauptrolle ebenfalls fürs Kino adaptierten) Romans verhedderte sich der junge Schriftsteller zusehends in seiner eigenen Geschichte.

Der erzählerische Stoff des Materialdiebstahls und der Aneignung eines fremden Werks ist also kein ganz neues Material, das sich Rebecca F. Kuang für ihren Roman Yellowface ausgesucht und verarbeitet hat. Dadurch, dass sie den ethischen Fall eines Manuskriptdiebstahls allerdings um eine ethnische Komponente erweitert, gelingt ihr ein sehr gegenwärtiger Roman, der von aktuellen Diskursen ebenso wie vom elitären Literaturbetrieb erzählt.

Eine erfolglose Schriftstellerin erzählt

Vorgebracht wird das alles in einem sehr umgangssprachlichen, von Jasmin Humburg treffend aus dem Englischen übersetzten Tonfall. Hier erzählt eine junge Frau namens June Hayward, der man gleich abnimmt, dass es mit ihren Romanen bislang noch nicht so wirklich hat klappen mögen. Denn der Tonfall der Ich-Erzählerin, er gleicht weniger dem einer ambitionierten und literarisch versierten Autorin mit breitem Sprachrepertoire denn einer Umgangssprache, die man im informellen Gespräch unter Freunden pflegt.

Rebecca F. Kuang - Yellowface (Cover)

Eine solche Freundin oder besser Bekannte gibt es auch tatsächlich in Junes Leben. Ihr Name: Athena Liu.

Seit Studientagen in Yale halten die beiden jungen Frauen Kontakt und tauschen sich regelmäßig aus. Im Gegensatz zu June ist die asiatischstämmige Athena aber eine erfolgreiche Autorin, die vom kreativen Schreiben gut leben kann. Jeder Roman aus ihrer Feder wird erfolgreicher als der vorhergehende – und so ein Deal mit Netflix für Athena auch nur ein weiterer Schritt auf der Karriereleiter, die für sie im Gegensatz zu June nur eine Richtung kennt, nämlich nach oben.

Plötzlich aber bietet sich für junge Autorin DIE Gelegenheit, selbst nach den literarischen Sternen zu greifen. Der Anlass dazu ist allerdings ein tödlicher. Denn bei der abendlichen Feier des Netflix-Vertrags erstickt Athena an einem Pancake – und June nutzt die Gunst der Stunde, um sich eines noch nicht fertigen Romanmanuskripts Athenas zu bemächtigen, ehe der Rettungsdienst eintrifft.

Per Yellowface zum literarischen Durchbruch?

Diese gestohlene Geschichte über das chinesische Arbeiterkorps, das im Ersten Weltkrieg von den Alliierten ausgehoben und verheizt wurde, ist ein Meisterwerk, wie June schnell erkennt. Nach einigen Umarbeitungen und gestalterischen Akzentuierungen bietet June das Manuskript über ihren Agenten an und erfährt plötzlich das, was ihr zuvor das ganze schriftstellerische Leben bislang versagt war, nämlich ein durchschlagender Erfolg.

Kritiker, Blogger, der Buchhandel – alle reißen sich um June Buch, die für das Buch über das Arbeiterkorps der besseren Marktgängigkeit wegen ihren Namen in Juniper Song abgeändert hat.

Doch diese Erfolgsgeschichte steht auf höchst tönernen Füßen und schon bald mehren sich kritische Stimmen aus der Verlagsbranche, der Kritik und den sozialen Medien, die den plötzlichen literarischen Erfolg von June in Zweifel ziehen. Wie kommt eine junge amerikanische, offensichtlich überhaupt nicht chinesischstämmig Frau dazu, sich so mit der Geschichte des Chinesischen Arbeiterkorps zu beschäftigen, noch dazu wenn sie nicht einmal ein Wort chinesisch spricht? Hat hier eine weiße amerikanische Frau kulturelle Aneignung betrieben und sich diesmal statt Blackfacing per Yellowface einen Erfolg erschlichen? Oder ist es noch schlimmer und das Buch stammt in Wahrheit gar nicht von ihr, wie es erste Stimmen im Internet insinuieren? Die Zweifel an June wachsen.

Literaturbetriebsroman und Hochstapler-Satire

Rebecca F. Kuangs Roman betrachtet und hinterfragt die Mechanismen des Literaturbetriebs auf spannende Art und Weise und erzeugt bei der Lektüre viele Fragen. Wo fängt überhaupt eine eigene schöpferische und kreative Leistung an? Wie weit darf man in seinem Streben nach literarischer Anerkennung gehen und welche Ausschlusskriterien des Buchmarkts machen es Schriftsteller*innen schwer? Und wer darf denn überhaupt worüber erzählen, wo beginnt kulturelle Aneignung und was darf Kunst?

Yellowface beschreibt sehr gegenwärtige Diskurse und Debatten, die auch hierzulande in Ansätzen geführt werden. Eindrücklich zeigt Rebecca F. Kuang, wie sich der Misserfolg auf dem Buchmarkt anfühlt und wie schwierig es sein kann, dort Fuß zu fassen, wenn einen Verlag, Kritik und der Buchmarkt nahezu ignorieren. Dass Juniper eine larmoyante, selbstgerechte und bisweilen recht anstrengende Erzählerin ist, gehört da genauso zum Konzept wie die „einfache“ Sprache, die den Spagat zwischen der mediokren Autorin und Ich-Erzählerin und der gar nicht mediokren Autorin Rebecca F. Kuang gelungen schafft.

Ich werde immer die Schriftstellerin sein, die Athena Lia um ihr Vermächtnis brachte. Die verrückte, neidische, rassistische weiße Frau, die das Werk einer Asiatin stahl.

Rebecca F. Kuang – Yellowface, S. 377

Das trägt Züge einer nachtschwarzen Satire, eines Literaturbetriebsromans und natürlich auch einer Hochstaplererzählung á la Patricia Highsmith in sich. Diese Mischung kam in den USA bereits sehr gut an, wo das Buch auf TikTok als auch bei den großen Verlagshäusern sehr präsent war und im Vereinigten Königreich gar den neu initiierten Preis des Amazon Best Book of the Year gewann.

Und auch für Deutschland ist ein ähnlicher Erfolg nicht ausgeschlossen, bietet das Buch doch abgesehen von den Komponenten, die in visuellen Medien wie TikTok oder Instagram Erfolg verheißen (markantes Coverdesign, trendiger Farbschnitt inklusive, passendes Merchandising) auch inhaltlich viel Anschlussfähigkeit.

Diese stilistisch vermeintlich einfache und höchst unterhaltsame Geschichte wirft über ihr plaudriges und manchmal larmoyantes Parlando hinaus durch ihre ethnische Komponente auch viel ethische Fragen auf. Der kritische Blick auf den Buchmarkt in seiner ganzen Undurchlässigkeit ist mit kleinen Einschränkungen ebenso auf die Verhältnisse hierzulande übertragbar und in Sachen Debattenton nähern wir uns ja auch inzwischen das ein ums andere Mal den im Buch karikierten Auseinandersetzungen an. Insofern dürfte Rebecca F. Kuang auch hierzulande ein großer Erfolg beschieden sein.

Fazit

Mit Yellowface stellt Rebecca F. Kuang einmal mehr ihre stilistische und thematische Wandelbarkeit unter Beweis und erzählt die Geschichte einer kulturellen Aneignung im Milieu des Buchmarkts. Ihr gelingt eine nachtschwarze Satire, die von den Mechanismen des Buchmarkts ebenso erzählt wie von der Skrupellosigkeit ihrer Erzählerin, die uns hier in diese (hoffentlich nicht geklaute) Geschichte hineinlockt. Ein großer und leicht zugänglicher Lesespaß, der seine ganze ethische Dimension langsam entfaltet.


  • Rebecca F. Kuang – Yellowface
  • Aus dem Englischen von Jasmin Humburg
  • ISBN 978-3-8479-0162-4 (Eichborn)
  • 383 Seiten. Preis: 24,00 €
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Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz

Das Geheimnis großer Literatur

Was macht ihn aus, den guten Stil? Worauf kommt es an, was unterscheidet den Könner vom mittelmäßigen Autor beziehungsweise die Könnerin? Michael Maar wählt in seinem umfangreichen Stilführer die einzig erfolgsversprechende Herangehensweise: die der Subjektivität. Schon zu Beginn macht Maar klar, dass guter Stil genauso wie die Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Dennoch versucht er sich an einer Unterscheidung von gutem und schlechtem Stil und rückt dabei sowohl die Makro- als auch die Mikroebene des Stils in den Blick

Herzstück des Romans ist das Porträt von 50 prägenden Stilist*innen der deutschen Sprache. Bewusst konzentriert sich Maar nur auf deutschsprachige Autor*innen (die Tücke der Übersetzung von Stil in eine andere Sprache streift er zu Beginn kurz). Einsetzend in der Weimarer Klassik beginnt die Reise durch die fiktive Bibliothek, macht einen Abstecher zu den österreichischen Autor*innen und endet dann in der Gegenwart bei Wolfgang Herrndorf und Clemens J. Setz.

Was macht guten Stil aus?

Michael Maar - Die Schlange im Wolfspelz (Cover)

Um diese Bibliothek herum gruppiert Maar einige Kapitel in dem er sich mit dem Handwerkszeug für guten Stil auseinandersetzt. Was ist Stil und was versteht der Autor darunter? Von der Interpunktion bis hin zum gelungenen Nebeneinander von Hypo- und Parataxen reichen die Betrachtungen des Germanisten, die immer nachvollziehbar und klar argumentierend sind. Was macht eine Metapher zu einer gelungenen? Warum klingen manche Dialoge so furchtbar hölzern, andere wieder geistreich und mitreißend? Und was hat es mit der titelgebenden Schlange im Wolfspelz auf sich?

Auch einen Kürzestausflug zur Lyrik erlaubt sich Maar und stellt fest, dass diese ja fast die Essenz von Stil beinhaltet. Durs Grünbein, Ann Cotten, Jan Wagner und Monika Rinck werden in den Blick genommen und ihre lyrischen Produktionen genau untersucht. Ein vergnüglicher Ausflug in die Welt der Erotik und des Todes schließt sich an, ehe die Auflösung der beiden Literaturquiz und ein umfangreiches Literaturverzeichnis mit bibliographischen Angaben dieses monumentale Buch abschließen

Mit Leidenschaft und Humor

Um gleich einmal die von Michael Maar so klug genutzte subjektive Herangehensweise auch für diese Besprechung in Anspruch zu nehmen: die Lektüre von Die Schlange im Wolfspelz macht einfach große Freude. Michael Maar argumentiert klar und nachvollziehbar. Auch ist er professionell genug, manche Entscheidungen über den jeweiligen Stil auch dem Leser selbst zu überlassen oder eigene ambivalente Urteile zuzulassen (so etwas bei Hans Henny Jahnn).

Auch ist er so frei, die jeweilige Handschrift der gerade besprochenen Stilistin oder des Stilisten sanft zu imitieren, zu umspielen und so die jeweiligen Merkmale in den eigenen Text zu überführen. Das ist manchmal ironisch, mal kalauernd, mal schmunzelnd, aber immer respektvoll. Ein Beispiel für alle diese Merkmale zugleich findet sich in folgendem Paragraph, der sich mit der Prosa Arno Schmidts auseinandersetzt:

Wir behalten uns vor, die Prosa des späten Schmidt bei aller genialischen oder genitalischen Interessantheit letztlich partiell entsetzlich zu finden. Sein Mädchen- und Frauenbild ist es in jedem Fall. Räusper: Phall

Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz, S. 521

Mit einer Faszination für das Entlegene

Schön auch neben dem Humor, der in jeder dieser über 650 Seiten steckt, ist die Leidenschaft Michael Maars für das Entlegene, das Apokryphe. Neben allem Erwartbaren (Thomas Mann, Brigitte Kronauer, Martin Mosebach) überrascht er immer wieder. So lobpreist er etwa die Prosa Hildegard Knefs:

Wie blaß dagegen die gerühmte Kunstprosa Christa Wolfs. Sakrileg! Aber wir stehen hier und können nicht anders: für Knefs Memoiren gäben wir die ganze Kassandra.

Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz, S. 394

Auch andere schon wieder fast vergessene Autor*innen wie Wilhelm Raabe, Unica Zürn, Alexander Lernet-Holenia oder Ulrich Becher lässt er seine Aufmerksamkeit zuteilwerden und macht Lust auf ihre (Wieder)Entdeckung. Wie ein guter Lehrer macht er neugierig, reist manche Erzählungen an, ergeht sich aber nicht in ausufernden Inhaltsreferaten oder ähnlich Unarten. Vielmehr sind seine Porträts der Autor*innen wirkliche Kurzporträts, pointiert und konzise. Sie machen Lust auf eine weitere Beschäftigung mit den jeweiligen Schreibenden.

Immer wieder illustriert er seine Geschmacksurteile mit passenden Zitaten aus entsprechenden Werken und nutzt auch das Stilmittel des Vergleichs, um die jeweiligen Besonderheiten seiner Autor*innen herauszuarbeiten. So stellt er beispielsweise eine Wasserfallszene aus dem Zauberberg von Thomas Mann der aus dem Oeuvre Heimito von Doderers – jenem „austriakischen Kaktus“, so Maar – gegenüber.

Evident gelingt es ihm, Übereinstimmungen oder Unterschiede im Stil so herauszuarbeiten. Auch zeigt er, warum man Felix Salten zugleich als Verfasser des Bambis und der Josefine Mutzenbacher zuordnen darf (an den Satzzeichen sollt ihr ihn erkennen!). Hätte man Michael Maar als Deutschlehrer in der Schule gehabt, die Literaturbegeisterung hätte um sich gegriffen. Viele Lektüretrauma hätten vermieden und unzählige Schüler*innen über das Schulende hinaus zu Leser*innen gemacht werden können. Ein Jammer!

Mit keinem Anspruch auf Vollständigkeit

Auch macht Maar keinen Hehl aus der Tatsache, dass sein Buch keinen umfassenden Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. So formuliert er am Ende seines Buchs:

Als der Pfiff der Trillerpfeife ertönte, die letzten Türen geschlossen wurden und die Lokomotive langsam in Richtung Verlagshaus losdampfte, verblieb noch ein Grüppchen Passagiere im Wartesaal Daß es Droste-Hülshoff, Horváth, Hebbel, Mörike, Nestroy, von Keyserling, Jonson, Kempowski, Dürrenmatt, Rühmkorf, Serner und ein paar andere nicht mehr auf den Zug geschafft haben, ist zu bedauern und keineswegs ihre Schuld.

Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz, S. 545

Dieser Zustand ist natürlich bedauerlich. Aber einerseits lässt er sich mit der passenden Lektüre leicht beheben. Und andererseits gibt er Hoffnung auf einen Nachschlag, von dem man gerne noch hätte.

Fazit

Dieses Buch ist ein Sachbuch auf höchstem Niveau. Kenntnisreich, anregend, humorvoll. Michael Maar gelingt es hier unnachahmlich, Lust auf Literatur zu machen. Diese Reise durch die Welt der deutschen Literatur ist ein Erlebnis. Was man alles mit Sprache anfangen kann, hier wird es einem beim Lesen offenbar. In die Hände dieses kundigen Reiseleiters kann man sich ohne Sorgen begeben. Überraschungen, Kurzweil, Begeisterung. All das erwartet einen auf den vielen hundert Seiten dieses Buchs. Es ist anregend, geistessprühend, kurzweilig, bestechend klar im Urteil. Und es zeigt, wie beglückend das Leben als Leser*in sein kann.

Dass Die Schlange im Wolfspelz für den ersten Deutschen Sachbuchpreis nominiert wurde, begrüße ich sehr. Maars Buch verdient alle Ehre und viele weitere begeisterte Leser*innen. Denn wer hier keine Lust auf Literatur bekommt, dem ist auch nicht mehr zu helfen!

  • Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz
  • ISBN 978-3-498-00140-7 (Rowohlt)
  • 656 Seiten. Preis: 34,00 €
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Idra Novey – Wie man aus dieser Welt verschwindet

Am 4. Dezember 1926 erhielt die Sekretärin der Autorin Agatha Christie einen Brief. Darin teilte sie mit, dass sie zur Kur nach Yorkshire fahren wolle. Zuvor gab es schon massive Probleme in der Beziehung von Agatha Christie und ihrem Mann. Dieser pflegte Affären und hatte sie über Monate hinweg mit seiner Golfpartnerin betrogen. Als dies aufflog, trat Christie die Flucht an.

Doch in dem Hotel, das sie in ihrem Schreiben angegeben hatte, kam die britische Starautorin nie an. Man fand an jenem 4. Dezember das Auto von Christie am Rande eines Sees, in dem sie in einem ihrer Bücher schon eine Figur umkommen ließ. Auf der Rückbank des Autos befanden sich der Mantel der Autorin, ihr Führerschein sowie ein Koffer. Was war mit Agatha Christie geschehen?

War sie einem Mord zum Opfer gefallen? Hatte Agatha Christie eventuell Suizid begangen? Oder war war alles nur inszeniert, um von dem Gerede über die Beziehung von Christie und ihrem Gatten abzulenken?

Eine großangelegte Suche nach der Autorin setzte ein, in der sogar der Innenminister Stellung bezog. Auch ihre Schriftstellerkollege Arthur Conan Doyle stürzte sich mit Begeisterung in die Suche nach seiner Kollegin. Als leidenschaftlicher Anhänger des Spiritismus befragte er auch ein Medium und erhielt die Botschaft, dass Christie noch am Leben sei.

Schlagzeile über Christies Verschwinden

Tatsächlich fand man die Autorin elf Tage nach dem Eintreffen des Briefs wohlbehalten in einem Hotel in Harrogate. Dort tanzte Agatha Christie Charleston und gab an, sie sei eine Touristin aus Südafrika. Sie blieb auch nach ihrer Enttarnung bei dieser Version. Sie behauptete, an Amnesie zu leiden und nicht zu wissen, was in den entscheidenden elf Tagen passiert sei. Auch in ihrer Autobiographie sparte sie jene elf Tage aus. Bis heute ist nicht ganz geklärt, wie sich der Ablauf des Verschwindens der Autorin ganz genau gestaltete.

Zum Nachteil sollte dieser Trubel der Autorin nicht gereichen. Schließlich sorgte die Episode für einen großen Popularitätsschub und kurbelte die Verkaufszahlen der Bücher von Agatha Christie ordentlich an. Nun war die Schöpferin von Hercule Poirot und Miss Marple zu einer Ikone geworden. Schließlich hätte auch das turbulente Privatleben und diese Episode Teil eines ihrer Kriminalromane sein können …

Eine Autorin verschwindet

An diese Geschichte musste ich denken, als ich Wie man aus dieser Welt verschwindet von Idra Novey (Übersetzung von Barbara Christ) las. Dieser Plot: eine erfolgreiche brasilianische Schriftstellerin verschwindet. Zuvor war sie in einen Baum geklettert, doch dann verlieren sich die Spuren. Niemand kann sich das Verschwinden so recht erklären. Kinder, Verlag, Übersetzerin, sie alle sind ratlos. Die Öffentlichkeit verfolgt begierig die Suche und die Bücher der Autorin erfahren eine ganz neue Nachfrage.

Idra Novey - Wie man aus dieser Welt verschwindet (Cover)

Bis auf die Baum-Episode könnte man in der Erzählung den Namen von Noveys Autorin Beatriz Yagoda und den von Agatha Christie austauschen, die Geschichte würde immer noch funktionieren. Doch wohin hat es Beatriz Yagoda verschlagen? Wie achtzig Jahre zuvor bei Agatha Christie herrscht hier auch zunächst Unsicherheit. Ist die Autorin freiwillig verschwunden, oder ist sie das Opfer eines Verbrechens geworden? Wo liegt das Motiv hinter dem Verschwinden?

In die Suche nach der Autorin und ihrem Motiv bindet Idra Novey vier Charaktere ein, die alle in Beziehung zu der brasilianischen Autorin stehen. Da sind zum einen ihre beiden Kinder, dann ihr Verleger sowie ihre amerikanische Übersetzerin. Diese gehen alle auf ihre eigene Art und Weise den Spuren nach.

In der Konstruktion zeigt sich auch schon die Eigenheit von Idra Noveys Roman. So springt die Autorin immer wieder von Figur zu Figur, gönnt sich für die Erzählung selbst aber nur 266 Seiten. Der geneigte Leser ahnt es schon: hier wirds hektisch, es wird viel angerissen und hingetupft. Ein wirklich erzählerischer Fluss mit ein oder mehreren starken Figur, die sich im Gedächtnis verankern, der entsteht leider durch die erzählerische Knappheit der Anlage nur im Ansatz.

Eine Dichterin schreibt einen Roman

Idra Novey hat sich mit Gedichten und Kurzprosa einen Namen gemacht, so kündet es der Klappentext. Schon mehrere Gedichtbände sind von ihr erschienen, darunter The next country (2008) und Civilian (2011). Diese Verhaftung in der kurzen Form, das merkt man auch Wie man aus dieser Welt verschwindet sehr stark an. Selten reicht ein Kapitel über drei Seiten hinaus; ein immer wieder auftretendes Stilmittel sind Einwürfe. So tauchen E-Mails und Wörterbucheinträge auf, die den Text unterbrechen, so aber auch eine Struktur schaffen. Auch in der Sprache selbst ist viel Poesie und durchaus auch Stilwillen (der für meinen Geschmack manchmal etwas am Ziel vorbeischießt, dies aber nicht in dramatischem Umfang). Man merkt aber schon deutlich, dass Novey in der kurzen Form und Miniatur am stärksten ist.

Auch die Themenfindung des Buches kann man, insofern man das möchte, gut aus der Autobiographie der Autorin ableiten. So stammt Idra Novey zwar nicht aus Brasilien, das im Buch eine zentrale Rolle spielt, aber die in Pennsylvania geborene Autorin übersetzt aus dem Spanischen und Portugiesischen. Eine Portugiesisch-Übersetzerin aus Amerika zur Heldin des Buchs zu machen, das liegt also nahe.

Tatsächlich ist diese Übersetzerin auch der stärkste Charakter. In der pointillistischen Gesamtstruktur des Romans ist Emma Neufeld (so der Name der Übersetzerin) am ehesten das, was man einen Leitfaden nennen könnte. Dass die Übersetzerin mehr oder minder ebenfalls aus Amerika verschwindet, um die verschwundene Autorin zu suchen, das ist für mein Empfinden etwas dick aufgetragen. Aber nun gut, im Roman ist ja alles erlaubt, auch die Dopplung und Engführung der Motive.

Der Roman unterhält, unterfordert nicht, spielt in einem interessanten Umfeld – und dennoch fehlt mir eine Komponente, die aus dem Titel eine wirklich nachhaltige Erzählung gezaubert hätte: und das ist die Metaebene.

Etwas mehr Metaebene wäre schön

Eine Übersetzerin als Heldin, eine Schriftstellerin, deren Spuren gesucht werden. Dabei hätte ich mir Reflektionen zu dem Thema der Übertragung von Sprache und Texte in eine andere Sprache gewünscht. Was bedeutet Übersetzen? Wie wahrt man als Übersetzerin Distanz? Oder ist das am Ende eigentlich nur hinderlich? Kann man besser übersetzen, wenn man der Autorin selbst nachspürt? Was bedeutet überhaupt eine gelungene Übertragung des Textes?

Alles Fragen, die die Geschichte hätte beleuchten können – doch Idra Novey macht für mein Empfinden zu wenig aus diesem Potential. Die Übersetzungstätigkeit von Emma Neufeld ist nur der Aufhänger, die mit Fortschreiten des Buchs kaum eine Rolle mehr spielt.  Vielmehr ist die Suche nach Beatriz Yagoda das treibende Motiv, die Literatur spielt nur eine untergeordnete Rolle. 

Das macht das Buch nicht schlechter, im Gegenteil. Über weite Strecken halte ich Idra Noveys Prosadebüt für sehr gelungen. Nur hätte für mein Empfinden aus dieser Ausgangslage noch etwas deutlich Spannenderes auch auf der Metaebene erwachsen können. So ist Wie man aus dieser Welt verschwindet ein gut gemachter Unterhaltungsroman, der nach Brasilien entführt und bei einigen Leser*innen sicher den Wunsch weckt, ebenso einmal in Brasilien verloren zu gehen. Nicht mehr und nicht weniger.

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