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Mario Desiati – Spatriati

Rastlos bezüglich der eigenen Identität, rastlos bezüglich des Lebensziels, rastlos bezüglich der Bindung, rastlos bezüglich des Lebensortes und des eigenen Platzes im Leben. In seinem preisgekrönten Roman Spatriati zeigt Mario Desiati die Rastlosigkeit eines jungen Mannes, der in seinen Jugendtagen in Claudia eine Freundin findet, deren Beziehung zueinander aber auch eines bleibt – rastlos.


Es ist ein Wort, das sich kaum übersetzen lässt: Spatriati. Die Rastlosigkeit, die Unruhe und Bindungslosigkeit schwingt in diesem Wort mit, wie Mario Desiati bei der Vorstellung seines Buchs im Rahmen der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Herbst erklärte. Die Ruhelosen, die Außenseiter, die Spinner und nicht ganz in die Norm passenden Menschen werden im apulischen Dialekt so bezeichnet. In Desiatis Roman erklärt es der Erzähler wie folgt.

„Zurückgekehrt, aber immer noch spatriato“, sagen sie, eine Anspielung darauf, dass ich keine Frau, keine Kinder und auch keinen festen Job habe, dass ich immer auf gepackten Koffern sitze. Ich bin ein Verlorener. Ein Unbehauster, zumindest in ihrem Weltbild. Einer meiner wenigen Freunde ist etwas umsichtiger und bezeichnet mich als scapulèta, was ein bisschen besser ist als spatrièta, man verwendet den Ausdruck für Rinder, die sich von ihrem Joch befreien.

Mario Desiati – Spatriati, S. 240

Dass der Erzähler sonderlich sesshaft wäre, sowohl in Bezug auf seinen Platz im Leben als auch seinen Platz in einem sozialen Gefüge, man könnte es wirklich nicht behaupten. Denn dieser Francesco „Frank“ Veleno, der im kleinen Ort Martina Franca im Südosten Italiens aufwächst, bekommt das Unvollständige, das Unperfekte schon qua Familienstatus mit auf den Lebensweg gegeben.

Aus Apulien nach Berlin

Ich heiße Francesco Veleno, ich bin das einzige Kind von Elisa Fortuna und Vincenzo Veleno, zweier ehemaliger Amateursportler, die sich bei einer Folge von Spiel ohne Grenzen ineinander verliebt und mich in der Hoffnung großgezogen hatten, ich würde sie eines Tages aus dem rätselhaften Unglück erlösen, mich in die Welt gesetzt zu haben.

Noch war ich weit entfernt von der Erkenntnis, dass viele Beziehungen lediglich „aus Gründen der Staatsräson“ aufrechterhalten werden, wie Claudia es einmal ausdrücken sollte. Und dank ich würde ich zudem begreifen, dass es keine noch so zwingende Staatsräson gab, die drei derart unterschiedliche Menschen dazu verpflichtete, zusammenzuleben, es sei denn, es ginge darum, eine Strafe abzusitzen.

Mario Desiati – Spatriati, S. 7

Die Tradition der unorthodoxen und dysfunktionalen Beziehung überträgt sich bei ihm auch auf sein Leben, wie Desiatis Roman zeigt. Doch Halt verheißt dem durchs Leben Taumelnden die Freundschaft mit Claudia, die schon in Schulzeiten ihr Außenseitertum verbindet. Doch könnte da noch mehr sein zwischen den beiden – oder fühlt er sich doch zu Männern hingezogen, wie es eine erste Begegnung in der Sakristei der örtlichen Kirche verheißt? Alles ist spatriati – unscharf, quecksilbrig, fluide.

Dynamische Beziehungen und unklare Verhältnisse

Anziehung und Eifersucht, Distanz und Nähe, über die ganzen Jahre seit dem ersten Kontakt, es verbindet die beiden Menschen – und auch ihre Eltern. Denn Francescos Mutter pflegt eine Affäre mit Claudias Vater, eine weitere Verbindung in dem Netz, in dem sich die beiden jungen Italiener*innen befinden.

Auch ein Wegzug Claudias aus Apulien nach Mailand, während Francesco gleichzeitig vor Ort in Apulien verharrt, löst die Bindung nicht, im Gegenteil. Später werden beide nach Berlin und durch die Nachtclubs wie das Berghain oder den KitKat-Club ziehen. Affären mit Männern und Frauen, ein mehr als nur chaotisch zu nennendes und von Mario Desiati explizit geschildertes Liebesleben, doch keine Klarheit, wie man zueinander eigentlich wirklich stehen will. Es ist alles reichlich dynamisch in ihren Leben.

Ähnlich wie Vincenzo Latronico in seinem (jüngst mit einer Nominierung beim International Booker Prize geehrten) Roman Die Perfektionen spürt auch Desiati hier in großen Passagen der Rastlosigkeit italienischer Expats in der deutschen Hauptstadt nach. Auch wenn Claudia und Francesco weit entfernt von der oberflächlichen Perfektion und Sorglosigkeit von Latronicos Figuren Anna und Tom sind, so verbindet das Dasein als Spatriati sie alle doch auch irgendwie.

Neben der Rastlosigkeit und Ratlosigkeit über die Macht der Anziehung ist Spatriati auch ein Buch, das von Literatur gesättigt ist. Besonders Claudia ist eine leidenschaftliche Leserin, die in Zitaten von Alba de Céspedes bis zu den Werken von Maria Marcone, Naomi Klein, Italo Calvino oder Banana Yashimoto viel Identifikationsräume für sich ausmacht – und Mario Desiati lässt die Leser*innen in vollen Zügen daran teilhaben.

Fazit

Spatriati erkundet eingehend das Lebensgefühl der Orientierungslosigkeit, sowohl im zwischenmenschlichen, als auch auf ganze Leben bezogen. Die sexuelle Identität ist hier genauso unscharf auszumachen wie das Verhältnis, in dem die Figuren zueinander stehen.

Übersetzt durch Martin Hallmannsecker ist Mario Desiatis Roman in Italien bereits mit dem Premio Strega ausgezeichnet worden und lässt sich nun auch im Deutschen dank der vorzüglichen italophilen Arbeit des Wagenbach-Verlags entdecken.


  • Mario Desiati – Spatriati
  • Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker
  • ISBN 978-3-8031-3368-7 (Wagenbach)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €

Gaea Schoeters – Das Geschenk

Wenn die Elefanten an der Spree grasen, dann handelt es sich um den neuen Roman von Gaea Schoeters. In Das Geschenk denkt sie die letztjährige Nachricht einer potentiellen Abgabe von 20.000 Elefanten aus Botswana an Deutschland weiter und strickt daraus eine Politsatire, die viele Debatten dieser Tage berührt und die auch an Schoeters ersten Überraschungserfolg Trophäe anschließt.


Im vergangenen Jahr avancierte der Roman Trophäe der belgischen Autorin Gaea Schoeters zum veritablen und vielbesprochenen Bestseller. Darin stellte sie die Frage nach dem Verhalten von Europäern in Afrika und führte eindringlich die moralischen Fragen und Konsequenzen ihres Tuns dort in Bezug auf die Trophäenjagd vor Augen. Das Geschenk schließt nun gewissermaßen an dieses Werk an, steht auch hier das Verhältnis von Europäern und Afrikanern im Mittelpunkt.

Zunächst allerdings steht erst einmal ein Elefant in der Spree in Berlin.

Der Elefant steht am Flussufer. Zögerlich prüft er mit der Rüsselspitze das Wasser, das kälter ist als sonst. Kurz lässt er unbehaglich die Ohren rotieren und schaut sich um, als würde er irgendwas oder irgendwen suchen. Er stößt ein leises, tiefes Grollen aus, erhält aber keine Antwort. Erneut widmet er sich dem Wasser, beschnüffelt die Oberfläche, entrollt seinen Rüssel vollständig, taucht die Spitze unter und saugt die kühle Flüssigkeit auf. Wirft dann den Kopf in den Nacken, führt die Rüsselfinger zum Mund und trinkt gierig. So bleibt er stehen – mit der Spitze im Mund und genüsslich geschlossenen Augen hinter den sanft zitternden Wimpern.

Gaea Schoeters – Das Geschenk, S. 11

Schon hier zeigt sich die Beschreibungskraft und Beobachtungsgabe, die Schoeters Schreiben kennzeichnet (das abermals gekonnt von Lisa Mensing aus dem Niederländischen übersetzt wurde).

Detailliert entwirft Schoeters ihre Welten – was in Trophäe für den Kontinent Afrika galt (was insofern wirklich bewundernswert ist, dass Schoeters aufgrund der Corona-Restriktionen selbst gar nicht dort war und nur intensiv recherchierte), gilt nun auch für das politische Berlin. Denn bei einem in der Spree badenden Elefanten bleibt es nicht. Schnell tauchen weitere Elefanten in der Bundeshauptstadt auf, die dort für Chaos sorgen und nicht nur verkehrstechnisch, sondern vor allem politische Landschaft der Hauptstadt und des ganzen Landes durcheinanderwirbeln.

Elefanten aus Botswana für Berlin

Gaea Schoeters - Das Geschenk (Cover)

Die Elefanten sind die Revanche des botswanischen Präsidenten, der damit als fiktive Figur das vollzieht, was seine reale Entsprechung Mokgweetsi Masisi im vergangenen Jahr nur ankündigte. Aufgrund eines strengeren Einfuhrgesetzes für Jagdtrophäen drohte dieser, Deutschland 20.000 Elefanten zu schenken, da sein Land die sein Land ohnehin schon unter einer Elefantenplage leide und das geplante Gesetz die Lage noch verschärfe. Und so macht Masisis fiktiver Doppelgänger ernst und lässt die Elefanten in Berlin frei.

Damit beginnt die Politsatire, in der Schoeters ausführlich durchdekliniert, was das Auftauchen der Elefanten verändern könnte. Dass der Reichstag ebenso wie der Fernsehturm bald von Pflanzen überwuchert wird und die Elefanten neue Koordinierungen in der Verkehrsplanung erfordern, ist nur ein Aspekt dieses Gedankenexperiments. Vor allem zielt Schoeters auf die politischen Implikationen ab, die das Auftauchen der Elefantenhorden in der Hauptstadt verursacht.

Während sich Bundeskanzler Winkler als strategischer und ruhiger Planer präsentieren will, gibt die Invasion der Dickhäuter dem populistischen Treiber Fuchs weiter Auftrieb, der gegen die Elefanten, vor allem aber gegen den Bundeskanzler und dessen Kurs in Sachen Elefantenkrise agitiert.

Während man sich in Berlin „Wir schaffen das!“ sagt und nach allgemeinverträglichen Wegen zum Umgang mit den umherziehenden Horden sucht, schieben sich die Behörden die Verantwortung zu, werden neue Ministerien geschaffen und versucht jeder der Protagonisten in der Krise seinen eigenen Vorteil zu erlangen. Das ist ebenso knapp wie gut beschrieben und bietet viel Anknüpfungspunkte an die heiß diskutierten Problemlagen unserer Tage.

Welche Bedeutung hat der Umweltschutz und welchen Preis ist man für ihn zu zahlen bereit? Wie managt man allgemeinverträglich eine Krise neu ankommender Bewohner dieses Landes, seien es hier die Elefanten oder im wahren Leben Geflüchtete aus Krisengebieten? Wie umgehen mit Populisten und Diskurszündlern? Und welche Verantwortung hat der reiche Süden gegenüber dem Globalen Süden?

Für die Kürze von unter 150 Seiten steckt Das Geschenk voller aktueller Fragen und ist obendrein noch höchst unterhaltsam. Freilich, so krass und ethisch herausfordernd wie Trophäe ist dieses Buch nicht, das im besten Sinne eher wie eine Fingerübung wirkt, eine kleine Nachricht jenseits des großen Nachrichtengeschäfts einmal konsequent durchzudenken.

Fazit

Und doch bleibt sich Gaea Schoeters auch hier treu und liefert viel Nachdenkenswertes im Gewand einer schnellen Politsatire, die durch eine genaue Zeichnung politischer Dynamiken unserer Tage besticht – und zudem neu nachdenken lässt über unsere manchmal so schizophrene Haltung gegenüber Umweltschutz, Neokolonialismus sowie die Dynamiken im politisch-medialen Diskurs, der unsere Gegenwart prägt.


  • Gaea Schoeters – Das Geschenk
  • Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing
  • ISBN 978-3-552-07574-0 (Zsolnay)
  • 144 Seiten. Preis: 22,00 €

Susan Barker – Old Soul

Aufgepasst bei dieser Fotografin! Denn wenn in Susan Barkers Roman ein Lichtbild von einer mysteriösen Fotografin angefertigt wird, kann es schnell passieren, dass man sich im Bann dunkler Mächte wiederfindet und plötzlich alle Organe und Äußeres im Körper spiegelverkehrt angeordnet sind. Mit Old Soul liefert die britische Autorin einen spannend komponierten Beitrag zum Genre des Horrorromans ab.


Es ist eine verblüffende Duplizität der Ereignisse, die eine zufällige Begegnung am Flughafen von Kansai in Japan zutage fördert. Denn eigentlich wollen der Grundschullehrer Jake und die Bankangestellte Mariko einen Flug nach Amsterdam erreichen, doch nichts da. Sie verpassen ihren Flug und treffen sich, verbunden durch das Erlebnis, zu einem Abendessen, um sich die Zeit bis zum Abflug am nächsten Tag zu vertreiben.

Im Lauf dieses Abendessens stoßen sie dabei auf eine erstaunliche – oder besser gesagt erschreckende Gemeinsamkeit. Denn sie beide haben geliebte Menschen verloren, beide scheinen in den Wahnsinn abgeglitten zu sein, bei beiden fanden sich nach dem Tod ihr Inneres wie Äußeres spiegelverkehrt angeordnet – und beide waren zuvor einer Fotografin begegnet.

Invertierte Körper, alte Seelen

Susan Barker - Old Soul (Cover)

Diese Offenbarung führt zu weiteren Erkenntnissen. Denn Mariko hinterlässt Jake einen Hinweis auf ihre Schwägerin Sigrid, die er in ihrer Wohnung in Marzahn aufsucht. Diese liefert ihm weitere Hinweise auf die Begleitumstände des Todes von Hiroji, ihrem Mann und Marikos Bruder.

Damit ist Jake fast in so etwas wie einen Kaninchenbau gefallen. Denn bei seiner Suche stößt Jake auf immer weitere Spuren solcher geheimnisvoller Todesfälle – und eine Fotografin, die bei diesen Todesfällen stets eine Rolle zu spielen scheint. Selbst über Jahrzehnte und Kontinente hinweg ist es immer wieder das gleiche Muster, das bei seinen Recherchen zutage tritt. Eine mysteriöse Fotografin, ein Abgleiten in den Wahnsinn, wahlweise Verschwinden oder ein Tod mit invertiertem Innerem und Äußeren.

Diese Spurensuche Jakes, die sich in sogenannten Zeugnissen ausdrückt, in denen Menschen via Gespräch oder Tagebücher von ihren Erfahrungen mit dem Verlust geliebter Menschen berichten, ergänzt Susan Barker mit immer wieder eingeschobenen Passagen, die in den sogenannten Badlands spielen. Hier ist es ein junges Mädchen namens Rosa, das die Bekanntschaft mit einer Fotografin gemacht hat. Diese soll Rosa für deren spirituellen Youtube-Kanal porträtieren. Eigentlich hat die Fotografin aber ganz anderes im Sinn, wie sich schnell unter der glühenden Sonne dort in der Wüstenlandschaft zeigt.

Warum hast du keine Angst?

Ich lebe schon zu lange und habe zu viel gesehen, um mich zu fürchten.

Wie alte bist du denn? Fünfunddreißig?

Um die dreihundert. Ich bin eine alte Seele.

Das Mädchen greift lachen nach der Flasche. Wow. In dreihundert Jahren hast du bestimmt eine Menge erlebt.

Na ja… Kriege, Hungersnöte, Völkermord. Das banale, nie endende Schauspiel menschlicher Grausamkeit und Habgier.

Susan Barker – Old Soul, S. 194

Von Berlin-Marzahn bis New Mexico

Marzahn, Osaka oder die Wüste New Mexicos sind die Schauplätze, an die Susan Barker uns Leser*innen mitnimmt. Egal ob Zeit oder Ort – in allen Episoden zeigt sich das Gespür der Autorin für die jeweilige Atmosphäre und die genauen Milieuschilderungen, die von Bambuswäldern in Japan bis zum Underground in der DDR reicht. Auch Menschen und deren kreative Umgebung weiß Susan Barker hervorragend zu zeichnen, etwa eine Bildhauerin, deren Kunst die Autorin glaubhaft zu vermitteln weiß oder ein Künstler, der mit dem DDR-Staat hadert und dessen Kunst jenen Schrecken zutage fördern wird, dem auch anderen Figuren später noch begegnen werden.

Dieser Sinn für die präzise Zeichnung der jeweiligen Milieus und die dort herrschende Atmosphäre, verbunden mit stilistischer Varianz (souverän von Volker Oldenburg übersetzt) und schon fast globalem Anspruch verbindet das Schreiben Barkers mit dem ihres britischen Landsmannes Hari Kunzru. Dessen von einer ähnlichen Atmosphäre für Schauplätze und dem damit verbundenen Plot getragenes Schreiben, etwa in seinem Werk Götter ohne Menschen, das in einer ähnlich kargen Wüstenlandschaft spielt, Red Pill, das ebenfalls die DDR zum Thema hat oder sein Bestseller White Tears, in dem der Horror auch erst noch tapsig und später umso wirkungsvoller zutage tritt.

Bis hin zur großen Action und dem Showdown reicht dieses durchdacht komponierte Buch

Literarisch versiert erzählt, klug komponiert und mit einem hervorragenden Gespür für Stimmungen und das Abgründige ist Old Soul ein Beispiel, wie gelungen Horrorliteratur heutzutage aussehen kann. Der Suhrkamp-Verlag hat mit Autorin und auch der Aufmachung des Buchs wirklich einen Griff getan. Gerne mehr von diesem kosmopolitischen, literarische hochwertigen Grusel!

Eine weitere Meinung zu Old Soul gibt es auf dem Blog Lust auf Literatur und bei Literatur leuchtet.


  • Susan Barker – Old Soul
  • Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
  • ISBN 978-3-518-47474-7 (Suhrkamp)
  • 390 Seiten. Preis: 24,00 €

Steffen Schroeder – Der ewige Tanz

In seinem neuen Roman Der ewige Tanz entdeckt Steffen Schroeder die Zeit vor hundert Jahren als die eigentlich moderne. Er erzählt vom Leben der Tänzerin Anita Berber und zeigt, dass ihr Leben deutlich mehr bedeutete, als nur die skandalumwitterte „Nackttänzerin“ zu sein. Dabei zeigt Schroeder einmal mehr große Einfühlungs- und Beschreibungskunst.


Ist das wirklich die Zeit vor ziemlich genau hundert Jahren oder doch eigentlich unsere Gegenwart, die Steffen Schroeder hier beschreibt? Theorien und Forschungen zum Dritten Geschlecht werden entwickelt, in Berliner Clubs trifft sich die äußerst lebendige queere Szene, die Kirche hingegen kämpft mit Nachwuchsproblemen und der spätere Ehemann von Anita Berber weiß, wie zukunftsweisende Mobilität aussieht:

„So betrunken, wie du bist, wirst du deinen Wagen, wenn du überhaupt einen hast, wohl kaum angekurbelt bekommen.“

„Ich muss nicht kurbeln! Ich fahre einen Lloyd, ein Elektromobil, um genau zu sein. Da muss man zum Anlassen nur den Knopf drücken. Das lästige Schalten entfällt ebenfalls, man braucht kein explosives Benzin, alles läuft ohne Gestank oder Abgaswolken. Selbst betrunken fährt man mit Leichtigkeit und lautlos durch die Welt. Demnächst wird sich das Elektromobil durchsetzen, alles andere wäre absurd.“

Steffen Schroeder – Der letzte Tanz, S. 83

Nun gut, auch ein Säkulum später scheint der vollständige Siegeszug der Elektromobilität hierzulande noch absurd – aber in den immer wieder aufscheinenden Parallelen zwischen der Vergangenheit und Heute macht Steffen Schroeder bewusst, was für eine im wahrsten Wortsinn moderne und zukunftsweisende Zeit es war, damals in Berlin.

Erinnerungen im Bethanien-Krankenhaus

Steffen Schroeder - Der ewige Tanz (Cover)

Für Anita Berber ist zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht mehr viel mit Zukunft. Denn sie liegt sterbenskrank in einem Bett im Bethanien, dem von Diakonissinnen betriebenen Krankenhaus. Dort laboriert sie an einer Tuberkulose und erhält ab und an Besuch aus ihrer Vergangenheit. Vor allem taucht sie dort aber ein in die Erinnerungen an ein Leben, welches die ganze Fülle des irdischen Daseins ausschöpfte.

Steffen Schroeder zeigt Anita Berber als einen Prototyp des gefallenen Stars, der den Weg zum Gipfel des Ruhms und den anschließenden Abstieg in die Bedeutungslosigkeit noch vor allen Hollywood-Starlets unserer Tage vollzog. Dabei greift er weit aus, geht zurück bis in die Kindheit der 1899 in Leipzig geborenen Frau. Die kindliche Verbundenheit mit ihrer Großmutter, die weltanschauliche Offenheit des vaterlosen Haushalts, die Karriere der Mutter als Variétésängerin in Berlin und die Distanz zu ihr, all das wirkt auf die junge Anita ein und prägt sie.

Von Berlin nach Wien auf den Gipfel des Ruhms – und wieder hinunter

Später wird sie in mittelmäßigen Filmen mit bezeichnenden Titeln wie Yoshiwara, die Liebesstadt der Japaner, Die vom Zirkus oder Ja, wenn der Strauß an Walzer spielt! mitspielen und eigene Tanzchoreografien entwickeln. Als syrische Göttin Astarte zeigt sie Ausdruckstänze und performt zur Musik von Debussy und Co. Besonders die fast hüllenlose Darstellung ist neu und befeuert die Aufmerksamkeit für ihr Schaffen auf den Bühnen Berlins.

Die Freundschaft zum flamboyanten Tänzer und Dichter Willi Knoblich alias Sebastian Droste führt sie dann zu ganz neuen Lebensstationen. Nicht nur, dass der junge Mann aus gutem Hause zum neuen Tanzpartner von Anita wird. Engagements führen sie nach Wien, auf den Höhepunkt ihrer künstlerischen Karriere. Sebastian bringt sie aber auch mit dem „Koko“ und Morphium in Kontakt, woraufhin sich eine fatale dolie a deux zwischen den beiden entwickelt, die sie vom Gipfel des Ruhms wieder hinabführen wird, wenn die Säle wieder kleiner und die Engagements spärlicher werden.

„Wir werden das Leben tanzen, so, wie wir es empfinden. Selbstverständlich auch mit seinen Schattenseiten; wir werden das Verderben tanzen und den Tod.“

Heller musterte sie ohne jegliche Gemütsregung.

„Und die Krankheit“, fügte sie rasch hinzu. „Die werden wir auch tanzen.“

Er nickte kaum spürbar.

„Wir werden auch die Überwindung der Krankheit tanzen“, setzte sie nach. „Wir werden das Übersinnliche tanzen und die Spiritualität , aber auch das Versinken im Rausch. Wir werden den ganzen Irrsinn dieser aus den Fugen geratenen Welt tanzen.“

Dabei riss sie ihre stark geschminkten Augen auf, und Heller zuckte zusammen.

„Wir werden tanzen, wie in Wien noch nie getanzt wurde“, flüsterte sie.

Steffen Schroeder – Der ewige Tanz, S. 154

Anita Berbers Leben im Rausch

Ein Hochstaplerleben im Rausch, Wohnen in den besten Hotels der Stadt, der verglühende Ruhm, Liebe im Rausch, Eifersucht und vielfacher Schmerz, oder kurzum: ein Duo infernale, das sich gegenseitig in den Abgrund zieht: all das zeigt Steffen Schroeder in seinem Werk und stellt nach seinem Roman über die Physiker um Max Planck zur Zeit des Nationalsozialismus einmal mehr seine Fähigkeit zur Einfühlung in seine Figuren unter Beweis. Welche Umstände Anita Berbers Charakter formten, wie steil der Weg auf den Gipfel des Ruhms hinauf – und noch steiler fast den Weg hinab war, es lässt sich aus Der ewige Tanz erfahren und fast fühlen.

Anita Berbers Suche nach Anerkennung, die Hingezogenheit zu Männern und Frauen in der Offenheit Berlins oder dem starren Wiener Gesellschaftsleben, das alles zeichnet Schroeder nachvollziehbar und sehr plastisch nach.

Nicht zuletzt zeigt er auch den Tanz als Mittel der Befreiung und der Verarbeitung von Schmerz und erfahrenem Leid, womit der Roman zu einem vielschichtigen Porträt einer ebenso vielschichtigen Frau wird, die eben so viel mehr als nur die „Nackttänzerin“ war, wie sie der Boulevard taufte.

Wenn sie tanzte, schien ihr alles möglich. Dann schien die Musik Besitz von ihr zu ergreifen, und ihr Körper begann, sich von ganz alleine zu bewegen. Dann war sie nur dem Klang hingegeben und dem, was der Klang mit ihr machte. Dann schwanden die Grenzen zwischen ihrem Innenleben und der Außenwelt, sie wurden eins.

Steffen Schroeder – Der ewige Tanz, S. 130

Fazit

Voll mit Figuren der Kulturgeschichte wie Lovis Corinth, Otto Dix und Fritz Lang ist Der ewige Tanz das einfühlsame Porträt einer komplexen Künstlerpersönlichkeit. Steffen Schroeder lässt die Atmosphäre Berlins und Wiens in der Zwischenkriegszeit seinem Roman wieder aufleben und zeigt, dass Anita Berber viel mehr war als eine skandalumwitterte Künstlerin.

Ein toll komponierter, sprachlich überzeugender und in puncto Figurenzeichnung sowie überzeugender Roman ist es, der hier Steffen Schroeder einmal mehr gelungen ist!


  • Steffen Schroeder – Der letzte Tanz
  • ISBN 978-3-7371-0204-9 (Rowohlt)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €

Ricarda Messner – Wo der Name wohnt

Was bleibt von einem Namen, wenn man stirbt? Wenn das Zuhause aufgelöst und das Klingelschild abgelöst wird, das einst vom Namen kündete? Ricarda Messner lässt ihre Protagonistin in Wo der Name wohnt in einen Trauer-, aber vor allem einen Erinnerungsprozess eintreten, während sie die Wohnung ihrer Großmutter leert. Mögen die physischen Spuren auch schwinden, so werden sie doch durch das Erzählen konserviert. Nur die Bewahrung des Namens, er stellt sich als das wahre Hindernis heraus.


Welch bürokratischer Akt ein Namenswechsel sein kann, das erfährt der geneigte Leser in Ricarda Messners Debüt Wo der Name wohnt eindrücklich. Denn die verschiedenen Kapitel ihres Buchs werden durchs bestes Amtsdeutsch eingeleitet, in dem erklärt wird, welche Notwendigkeiten für und welche Gründe gegen einen Namenswechsel sprechen. Immer wieder unterbrechen und strukturieren diese bürokratischen Einschübe die sonst so angenehm dahinfließende und mit fremdsprachigen Bruchstücken durchsetzte Sprache Messners und holen zurück auf den Boden juristischer Tatsachen.

Die Verwaltungsgebühr für die Änderung von Familiennamen beträgt gem. §3 Satz 1 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 07.01.1938 (Reichsgesetzblatt I S. 12/Bundesgesetzblatt III Nr. 401-1-1), in der jeweils aktuellen Fassung – NamÄndVo 2,56 bis 1022,00 €

Ricarda Messner – Wo der Name wohnt

Bemühungen um die Bewahrung eines Namens

Der Grund für diesen behördlichen Schriftverkehr begründet Messners Erzählerin schon auf den ersten Seiten dieses schmalen Romans. Denn die namenlose Erzählerin ist darum bemüht, den Namen ihrer verstorbenen Großmutter anzunehmen, um so die Erinnerungen an das familiäre Erbe wachzuhalten und zu bewahren.

Und irgendwo zwischen den beiden Häusern, ich zählte während der Wohnungsauflösung zum ersten Mal die Schritte, überkam mich eine Sehnsucht. Ich wollte den Nachnamen wieder tragen, sehnte mich nach ihm wie nach Großmutters Gesicht, das ich nicht mehr sehen würde. Es waren ungefähr vierzig Schritte von Tür zu Tür.

Ricarda Messner – Wo der Name wohnt, S. 14

Einst lebte sie in der Wohnung des Hauses Nummer 37, ihre Großmutter quasi nebenan im Haus, das die Nummer 35 trägt.

Nun blickt die Erzählerin zurück. Auf das Ausräumen der Wohnung, die eigene Geschichte und die Risse, die sich nicht nur in Großmutters Wohnung, sondern auch der familiären Biografie zeigen. Denn die Familie Levitanus ist nicht das, was man im rechten Dumpfdeutsch aktuell als „biodeutsch“ bezeichnet. Vielmehr ist sie Teil der fünfundzwanzig Millionen Menschen in Deutschland, die einen Migrationshintergrund besitzen. Und dieser im Falle der Erzählerin ein durchaus illustrer.

Migration nach Deutschland

Ricarda Messner - Wo der Name wohnt (Cover)

So reisten die Mutter und Großmutter 1971 aus Lettland als Staatenlose nach Deutschland ein und begannen hier ein neues Leben. Schon mehrfach zählten Neuanfang und Anpassung zu den erforderlichen Fähigkeiten, die die Familie Levitanus beweisen musste.

Beim sogenannten Rigaer Blutsonntag überlebte die Großmutter das Rigaer Ghetto, in dem lettische Jüdinnen und Juden getötet wurden, um Platz für deutsche Jüdinnen und Juden zu schaffen. Auch ihr Großvater floh 1941 vor den herannahenden Deutschen, ganze 4200 Kilometer maß seine Fluchtroute. Später studierte er in Moskau, die Großmutter musste als Staatlose 1971 mit ihrer Tochter aus Lettland in der damaligen Sowjetunion fliehen.

Sprachfetzen, Gerichte, Rituale sind es, die über das Lebensende der Großmutter mit 95 Jahren hinaus blieben und die die Erzählerin in ihrem Erinnern bewahrt. Eine besonders große Rolle für sie nimmt der Familienname ihrer Großmutter ein. Er ist es, der als abstrakter und doch konkreter Besitz die Flucht überstand und nun zum Orientierungspunkt der Erzählerin wird. Ihn möchte sie mit ihrer Namensänderung bewahren und so die Erinnerungen an die familiäre Identität wachhalten.

Es sind die Erinnerungen, plötzlich aufblitzenden Gedanken und die in der Familie gesprochenen Sprachen und Wortfetzen, die sie in ihren Erinnerungen wachruft und damit auch noch einmal tief in die eigene Familiengeschichte zwischen Baltikum und Deutschland, Flucht und Neuanfang, Judentum und familiären Erbe vordringt. Doch in Reiner Geistesarbeit verharrt dieses Erinnern nicht. Auch physisch leistet die Erzählerin diese Arbeit. So sondert sie nicht nur den großmütterlichen Besitz aus, der eng mit den Erinnerungen verknüpft ist, auch begibt sie sich auf familiäre Spurensuche, die sie bis nach Lettland und damit auch gewissermaßen wieder an den Anfang ihrer Geschichte zurückführt.

Fazit

Wo der Name wohnt ist ein reduzierter Familienroman, der vom Ende und den Erinnerungen her den familiären Bezug denkt und der den Rissen in den Biografien nachspürt. In Zeiten, in denen Migration verteufelt und Einwanderung zur Mutter aller Probleme erklärt wird, zeigt Richarda Messner, was Migration und Ankommen eigentlich bedeutet. Dass man das 20. Jahrhundert und seine Geschichte bis in unsere Gegenwart hinein gar nicht ohne migrationsbedingte Brüche denken kann, das lässt sich aus Wo der Name wohnt eindrücklich erfahren.

Der Mitbegründerin und Herausgeberin des Flaneur-Stadtmagazins gelingt mit ihrem Roman ein ruhiger und knapper Roman, der das in der Gegenwartsliteratur kaum behandelte Schicksal lettischer Juden in den Blick nimmt. Ihr Debüt passt sich auch gut in die Riege junger Suhrkamp-Autor*innen ein, die mit ähnlichem sprachlichen Zugriff den Beziehungen zu Eltern und Großeltern oder dem jüdischem Familienerbe nachspüren.

Weitere Meinungen zu Ricarda Messners Buch gibt es unter anderem auf dem Blog Poesierausch.


  • Ricarda Messner – Wo der Name wohnt
  • ISBN 978-3-518-43232-7 (Suhrkamp)
  • 170 Seiten. Preis: 23,00 €