Buchhandlungen gibt es viele – und auch an besonderen Orten. Mal sind sie in ehemaligen Kirchen untergebracht, mal in Bahnhöfen, Theatern oder Banken. Aber eine Buchhandlungen, wie man ihr in Heinrich Steinfests neuem Roman Der betrunkene Berg begegnet, die hat man wohl so noch nicht gesehen. Denn bei Steinfest ist es die Buchhändlerin Katharina, die auf nicht weniger als 1765 Metern Höhe auf einem Berg ihre Buchhandlung betreibt mit – natürlich – alpinistischem Buchsortiment. Doch als sie einen Mann im Schnee in der Nähe ihrer Buchhandlung entdeckt, ist es mit der Ruhe vorbei.
Jedes Jahr ist es das gleiche. Die nebenan gelegene Schutzhütte geht in den Winterschlaf und nur Katharina hält alleine auf dem Berg die Stellung in ihrer Buchhandlung. Nach zwei Ehen und zwei Scheidungen und dem infolge der zweiten Scheidung erlangten Kapital hat sie vom Österreichischen Alpenverein eine Winterschutzhütte gepachtet, die sie zur Buchhandlung ausgebaut hat und die ihr Lebensmittelpunkt ist. Sogar Reinhold Messner hat schon einmal aus einem seiner alpinen Bücher dort gelesen, wenngleich es mit Laufkundschaft hier nicht weit her ist.
Besonders im Winter ist die Kundenfrequenz dort oben überschaubar, weswegen Schutzhütte und Buchhandlung schließen. Die Pächter der Hütte begeben sich ins Tal und Katharina sieht dafür im nebenangelegenen Steinhaus nach dem Rechten und nutzt die kalten Tage zwischen den Jahren für eine Inventur ihrer Buchhandlung. Lesen im Sessel, während draußen die Schneeflocken vorbeitreiben, Neusortierung der Bestände und ab und an ein Spaziergang aus dem Haus ins verschneite Freie, frei von Stress und Hektik.
Der Mann aus dem Eis
Eigentlich ein sehr beschaulicher Takt, der auch in diesem Winter wieder das Leben der Buchhändlerin bestimmen sollte. Doch bei einem ihrer Ausflüge ins Freie Ende November macht Katharina einen erstaunlichen Fund. Denn in einer Schneewehe entdeckt sie einen Mann, der nach dem Aufenthalt im Schnee ausgekühlt ist und kaum ansprechbar erscheint. Katharina beschließt, den Mann zu retten und gewährt ihm in ihrer kleinen Buchhandlung Obdach.
Sie weist ihm den Lesesessel zu und pflegt den Mann wieder gesund. Dabei stellt sie fest, dass er sich weder an seinen Namen noch an seine Identität erinnern kann, geschweige denn, wie er auf den Berg ins Schneegestöber kam. Der kurzerhand auf den Namen Robert getaufte will einen Monat bei Katharina bleiben, um Kräfte zu fassen und sich zu erinnern, dann will er wieder ins Tal absteigen. Lesen, schlafen, den Erinnerungen nachspüren. So der Plan für die kommenden Tage. Doch natürlich kommt alles andere als vorhergesehen – wir sind ja schließlich auch bei Heinrich Steinfest.
Der Mann aus dem Eis erweist sich als begnadeter Skulpteur, der aus Schnee Gebilde wie das titelgebende Kunstwerk Der betrunkene Berg erschafft. Doch nicht nur seine bildenden Fähigkeiten, auch seine Kochkünste überraschen, insbesondere seine Zubereitung eines Fisolensalats. Ein Vogel wird ebenfalls in der alpinen Buchhandlung gesundgepflegt. Und dann erfolgt auf dem Berg natürlich das, was schon im Urvater aller Bergromane, nämlich in Thomas Manns Zauberberg, dem jungen Hans Castorp widerfährt. Ein Schneesturm, der Assoziationen wachruft und Erinnerungen bringt. Nur hier wird daraus nicht nur im übertragenen Sinn eine veritable Lawine, die noch eine weiteren Gast in die Buchhandlung am Berg spült.
Überbordende Erzähllust
Der betrunkene Berg ist einmal mehr ein Zeugnis für die überbordende Erzähllust von Heinrich Steinfest. So kreist sein Buch um die Frage von Erinnerung, Flucht vor Erinnerungen und von Schuld, vom Überleben und dem Erleben von Grenzsituationen. Er erzählt von Kidnapping (wobei Steinfests Heldin Lilli Steinbeck einen kleinen Cameo-Auftritt absolvieren darf), von untergehenden Fähren, von Lawinen, von bergsteigenden Pfarrern und noch mehr. Sein Buch ist eine wild sprühende Mischung aus kleinen Miniaturen und skurrilen Begebenheiten, wie sie typisch sind für Steinfests Schreiben.
Die manchmal doch etwas arg disparaten Erzählungen werden durch Steinfests ironische und manchmal leicht barocke Sprache zusammengehalten. Eine Sprache, die Steinfests österreichische Erzählherkunft irgendwo zwischen Wolf Haas und Heimito von Doderer gar nicht verhüllen will und zum Gelingen des Buchs beiträgt.
Dabei ist das wohl wichtigste Kennzeichen seines Buchs das Element der Überraschung. Weiß man bei Steinfest generell selten, woran man wirklich ist, so enttäuscht er auch mit seinem neuen Werk dahingehend nicht. Alles andere als langweilig ist das eigenwillige Personal und die Gegebenheiten, die er in Der betrunkene Berg aufbietet und so allem Erwartbaren zuwiderläuft. Denn auch ein Kammerspiel ist dieses Buch trotz seines Settings eigentlich nicht, immer wieder geschieht etwas Neues, geht es zurück in den Erinnerungen und im Bergsteigerbuch, das sie gemeinsam dort droben auf dem Berg lesen.
Fazit
Wer ein Faible für skurrile Erzähleinfälle hat und Prosa mag, die scharf an der Realität entlangschrammt, den dürfte auch Heinrich Steinfests neues Erzählabenteuer Der betrunkene Berg nicht enttäuschen. Hier treffen Vögel auf Schneeskulpteure auf Buchhändler auf untergehende Fähren auf Lawinen. Gewiss keine weltverändernde Prosa – aber unterhaltsam-überraschende allemal.
- Heinrich Steinfest – Der betrunkene Berg
- ISBN 978-3-492-07013-3 (Piper)
- 224 Seiten. Preis: 22,00 €