Tag Archives: Drogen

Ein Roman wie ein Drogentrip

Petra Piuk & Barbara Filips – Wenn Rot kommt

Las Vegas – Stadt des Glücksspiels und ewiger Sündenpfuhl. Glücksspiel, Casinos, Elvis Presley. So die wohl häufigsten Assoziationen, wenn man an die Stadt in der Wüste Nevadas denkt.

Petra Piuk und die Fotografin Barbara Filips haben nun ein Buch verfasst, das die dunklen Abgründe der Stadt sehr hell ausleuchtet. Entstanden ist Wenn Rot kommt. Ein Buch, dessen Lektüre einem Drogentrip gleicht.


Die Ausgangssituation des Romans gleicht dabei der des populären Blogbusters Hangover. Ähnlich wie im Film erwacht auch hier eine Protagonistin verkatert in einem Hotelzimmer in Las Vegas. Lisa heißt die junge Frau, die feststellen muss, dass ihr Partner Tom weg ist. Doch nicht nur dieser ist verschwunden. Auch die konkreten Erinnerungen an die letzten Nächte fehlen ihr.

Petra Piuk - Barbara Philipps - Wenn Rot kommt (Cover)

Sie weiß nur, dass in wenigen Stunden ihr Flug nachhause geht. Und dann ist da noch eine Kamera, die die Wahrheit über ihren Trip preisgeben könnte. Doch ihr Partner bleibt verschwunden. Und so taumelt sie zunächst orientierungslos durch ihr eigenes Hotelzimmer, ehe sie sich nach draußen wagt.

Sie durchmisst die Glücksspielstadt Las Vegas. Dabei sitzt ihr die ablaufende Zeit im Nacken. Immer wieder überlagern Flashbacks an Erlebnisse der letzten Tage ihre Erinnerung. Partys, Drogen, Hangover. Doch wo ist Tom? Und was ist wirklich passiert in der Stadt der Sünde? Die Rekonstruktion der Ereignisse wird zu einem düsteren Trip, der die dunklen Seiten von Las Vegas zum Vorschein kommen lässt.

Ein wilder Erinnerungsstrudel

Petra Piuk hat einen Roman geschrieben, der wild, assoziativ und dabei völlig unberechenbar ist. Ein wildes Leseerlebnis, das die Drogeneskapaden und Erinnerungsfetzen von Lisa schriftlich nachzubilden versucht. In verschiedenen Schriftarten gesetzt, manchmal fettgedruckt, dann wieder in Rot gedruckt gleicht das Buch einem beharrlichen Sturm auf die optischen Sinne. Als stünde man mittendrin auf einem der Boulevards von Las Vegas, und würde von dem Tosen, Blinken und Leuchten der Stadt überwältigt, so fühlt sich auch die Lektüre selbst an, in der viele Sätze noch nicht einmal beendet werden.

Die Struktur wird dabei durch kurze Kapitel vorgegeben, oder wie es die Autorinnen selbst formulieren:

Die Geschichte basiert auf einer fiktiven Begebenheit, realen Stimmen der Stadt, realen und halbrealen Schauplätzen und einem Roulettespiel.

Nach der Ordnung eines Roulettespiels reihen sich wild durcheinandergewürfelt die Kapitel aneinander. Rot folgt auf Schwarz und umgekehrt. Eine Handlungsanweisung für den wilden Ritt geben die Autorinnen in der Anleitung auch:

Lesen Sie den Text nicht unter Einfluss von psychedelischen Drogen.
Lesen Sie den Text von der ersten bis zur letzten Seite, also von Kapitel 33 Schwarz Welcome to Fabulous bis Kapitel 21 Rot Haben Sie mexikanisch bestellt.

ODER: Lesen Sie den Text in der Reihenfolge der Kapitelnummern, also von Kapitel 1 Rot I hope you have fun bis Kapitel 36 Rot Verdammte Flashbacks.

Sorgen Sie für Störgeräusche: Staubsaugerlärm. Radiorauschen. Fernsehwerbung. Dazu Weihnachtslieder in voller Lautstärke.
Der Text eignet sich nicht für einen gemütlichen Leseabend.
Lesen Sie den Text schnell.
Verweilen Sie bei den Fotografien, verlieren Sie sich darin, aber
achten Sie darauf, dass Sie wieder hinausfinden.

Philipps, Barbara / Piuk, Petra: Wenn Rot kommt, S. 7

Nach zwei erprobten Lesevarianten empfehle ich auf alle Fälle die geradelinige Lektüre, Seite für Seite. So lässt sich ein Buch entdecken, in dem Drogen, Waffen, der Zufall, ein Clown und viele rot-schwarz gehaltenen Fotos von Barbara Filips eine Rolle spielen.

Fazit

So entsteht ein mehr als außergewöhnliches Leseerlebnis, das auch ohne den Genuss von Drogen die Erfahrung desselbigen beim Lesen hervorruft. Wenn Rot kommt ist ein wilder Ritt. Eine Lektüre wie ein Trip, im freien Fall durch einen Erinnerungsstrudel. Ein Roulettespiel der Literatur. Schnell, unberechenbar, formal mehr als ungewöhnlich gestaltet präsentiert der Verlag Kremayr & Scheriau einmal mehr eine höchst interessante Facette zeitgenössischer Literatur.

Eine weitere Meinung zu dem Buch gibts bei Bookster HRO, der auch das schöne Wort Gedankenfasching für das Buch verwendet. Ich mag ihm nicht widersprechen!


  • Barbara Filips & Petra Piuk – Wenn Rot kommt
  • ISBN 978-3-218-01227-0 (Kremayr & Scheriau)
  • 192 Seiten. Preis: 24,00 €
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Augustus Rose – Philadelphia Underground

Kann das gutgehen? Ein Thriller über Kunst, eine junge Ausreißerin, Lost Places, Drogen, Diebstahl und Marcel Duchamp? Was nach einer zugegeben recht wirren Mischung klingt, geht im Fall von Augustus Rose‚ Debütroman Philadelphia Underground dann doch wirklich gut. Ein Roman, der auch Leser von Donna Tartt oder A. G. Lombardo interessieren dürfte.


Der Weg des großen Künstlers von morgen, er führt ihn in den Untergrund. Dieses Zitat wird Marcel Duchamp zugeschrieben. Visionärer Künstler, Schöpfer von sogenannten Readymades (wie etwa dem berühmten Urinal), Gemälden und Installationen wie seinem letzten Werk Etats Donnés, der seine Sammlung dem Philadelphia Museum of Art vermachte. Jener Duchamp scheint auch immer wieder den Weg Lees zu kreuzen. Diese lebt entfremdet von ihrer eigenen Familie in Philadelphia. Untergeschobene Drogen haben sie ins Jugendgefängnis gebracht. Von dort bricht sie aus – und wählt den Weg in den Untergrund. Sie taucht unter, bricht in Wohnungen ein, verdingt sich als Diebin und kommt schließlich in einer Wohngemeinschaft unter. Dort lernt sie Tomi kennen, der sie in die Gemeinschaft der Urban Explorer, kurz Urbex, einführt. Gemeinsam durchstreifen sie verlassene Gebäude, auch Lost Places genannt, und brechen unter anderem in das Kunstmuseum von Philadelphia ein. Dort lernt Lee durch Tomi die Kunst Marcel Duchamps kennen.

Auf den Spuren der Société Anonyme

Augustus Rose - Philadelphia Underground (Cover)

Doch es ist nicht nur die Kunst Duchamps, die Lee beschäftigt. Auch die sogenannte Société Anonyme treibt sie um. Jene Gesellschaft, die ursprünglich von Duchamp, Man Ray und Katherine S. Dreier gegründet wurde, scheint dieser Tage in Philadelphia auferstanden zu sein. Immer wieder tauchen Jugendliche völlig abgestumpft und entrückt nach Drogenexzessen auf. Die Société scheint hinter diesen Vorkommnissen zu stecken. Und Lee ist ebenfalls in ihr Visier geraten. Die Mitglieder jener omniösen Organisation haben die Jagd auf Lee eröffnet. Doch was wollen sie von ihr? Der Gang in den Untergrund scheint für die junge Frau angeraten.

Es ist eine wirklich wilde Mischung, die Augustus Rose in seinem Debüt hier anrührt. Eine Geheimgesellschaft, drogenvernebelte Kinder, die in Philadelphia auftauchen, eine Ausreißerin auf der Flucht, eine Schnitzeljagd durch und unter der Stadt und über allem schwebend Marcel Duchamp. Wie soll so etwas zusammenfinden? Nach der Lektüre von Philadelphia Underground kann ich konstatieren, dass Rose das Kunststück gelingt, ähnlich wie in der Kunst Marcel Duchamps, scheinbar Widersprüchliches zusammenzufügen, sodass ein überzeugendes Kunstwerk entsteht.

Ein Kunstwerk, zusammengebaut aus Widersprüchlichem

Im Kern ist Philadelphia Underground eine wilde Räuberpistole, an der man sich die Freude über den Text durch ein genaues Überprüfen der Realität verleidet. Vielmehr sollte man sich wie bei der Betrachtung von Kunst einfach einlassen auf Lee und das große Abenteuer, das ihr bevorsteht. Dieses Buch ist Konzeptkunst im Sinne Duchamps, die mitreißt, die in Bunker und Röhren unter Philadelphia entführt. Die eine Coming of Age-Geschichte ist, ein großes Abenteuer mit einer Prise Momo gegen die grauen Männer. Action gepaart mit Kunstbetrachtungen, die Stadt Philadelphia als großes Abenteuerspielplatz und nicht zuletzt auch eine etwas unorthodoxe Einführung in das Schaffen Duchamps. Was hier vielleicht etwas theoretisch klingt, wird im Buch zu einer spannend zu lesenden und immer wieder überraschenden Geschichte, die zum originellsten gehört, das ich dieses Jahr bislang in die Finger bekam. Und einer, die ich bei nächster Gelegenheit gleich noch einmal lesen möchte.

Fazit

Was ist nun Philadelphia Underground von Augustus Rose? Wie sollte man es auf einen Nenner bringen? Ich würde sagen, dieses Buch ist originell, eigen, eine Hommage an die Kunst Marcel Duchamps – literarische Konzeptkunst, leicht zugänglich, inspirierend. Ein Buch, das sich dem Thema der Kunst und der Kunstvermittlung auf außergewöhnlichen Wegen nähert.


  • Augustus Rose – Philadelphia Underground
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-492-05797-4 (Piper-Verlag)
  • 464 Seiten, Preis: 22,00 €

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Streets of Philadelphia

Liz Moore – Long bright river

Manchmal hält die Programmplanung der Verlage die ein oder andere Überraschung bereit. So jüngst auch beispielsweise bei C.H. Beck. Am gleichen Tag erscheinen die Bücher zwei junger englischsprachiger Autorinnen, die sich beide um zwei Schwestern, deren Aufwachsen und die Frage nach dem familiären Zusammenhalt drehen. Während die Kanadierin Alix Ohlin aus der Ausgangslage einen ruhig erzählten Bilderbogen um ihre zwei Schwestern strickt, erzählt Liz Moore in Long bright river ihre Geschichte im Gewand eines Gesellschaftsroman mit starkem kriminalliterarischen Einschlag (übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann).

Die dunklen Seiten Philadelphias

Sie wandelt dabei auf den Spuren Dennis Lehanes. Ähnlich wie er sein Detektivduo Kenzie/Gennaro einst in den Straßen Bostons ermitteln ließ, schickt nun Liz Moore ihre Heldin Michaela „Mickey“ Fitzpatrick in Philly auf Streife. Sie ist als Streifenpolizistin im Revier Kensington tätig. Dieses Kensington könnte allerdings auch Gotham heißen, so düster und dreckig scheint dort alles. Die Kaufkraft ist verschwindend gering, Drogen, Kriminalität und Prostitution bestimmen das Straßenbild. Mickey beschreibt ihren Wohn- und Einsatzort so:

Das heutige Kensington wird von zwei Hauptverkehrsadern durchzogen: Front Street, die am Ostrand der City nach Norden führt, und Kensington Avenue – meist bloß die Ave genannt, eine mal freundliche, mal verächtliche Bezeichnung, je nachdem, wer sie benutzt –, die an der Front Street beginnt und in einem Schwenk nach Nordosten verläuft. (…)

Große Stahlträger stützen die Bahnlinie, blaue Pfeiler im Abstand von zehn Metern, sodass die ganze Konstruktion aussieht wie eine riesige und bedrohliche Raupe, die über dem Viertel hängt.
Die meisten Transaktionen (Drogen, Sex), die in Kensington stattfinden, fangen auf einer dieser beiden Hauptstraßen an und enden auf einer der vielen kleineren Straßen, die sie kreuzen, oder noch
häufiger in den verlassenen Häusern oder auf leeren Grundstücken, von denen es in den Seitenstraßen und Gassen des Viertels jede Menge gibt. Entlang der größeren Straßen finden sich Nagelstudios,
Imbissbuden, Handy-Läden, Mini-Märkte, Ramschläden, Elektroläden, Pfandhäuser, Suppenküchen, andere gemeinnützige Einrichtungen und Bars. Etwa ein Drittel der Ladenfronten ist verriegelt
und verrammelt.

Moore, Liz: Long bright river, S. 15

Tatsächlich ist der erste Vorschlag, den man beim Googlen nach „Kensington, Philadelphia“ erhält, der Terminus Drogen. Es folgen dann noch die Begriffe „Crime“ und „Crime Rate“. Die Bildersuche erbringt dann ein ähnliches Ergebnis. Bezeichnend auch eine Bilderstrecke des Fotografen Dominick Reuter, der den Stadtteil und seine Bewohner porträtiert hat.

Screenshot der Google-Suchanfrage

Zwei Schwestern im Moloch

In diesem Moloch versieht Mickey ihren Dienst. Ihr alter Partner, mit dem sie ein hocheffizientes Team bildete, ist im Krankenstand. Deshalb bekommt Mickey einen neuen Kollegen zugeteilt, mit dem sie durch die Straßen Kensingtons patrouillieren soll. Doch nachdem sich eine Chemie zwischen den beiden nicht so recht einstellen will, ist Mickey bald wieder alleine auf Streife.

Schon auf den ersten Seiten des Romans stolpert die junge Frau über die Leiche einer strangulierten Prostituierten. Es wird nicht die einzige Leiche bleiben. Offenbar macht ein Serientäter Kensington unsicher. Und Mickey hat allen Grund zur Furcht: denn nicht nur sie arbeitet in den Straßen Kensingtons. Auch ihre Schwester Kacey ist auf den Straßen des Molochs als Prostituierte tätig. Schwer drogenabhängig verkauft sie sich an ihre Freier, um Geld für den nächsten Schuss zu verdienen. Verschiedene Therapieversuche sind gescheitert und so bleibt für Mickey nur, aus der Ferne über ihre Schwester zu wachen.

Dadurch besitzt die Suche nach dem Serientäter für Mickey eine ganz eigene Brisanz. Auf eigene Faust versucht sie Nachforschungen anzustellen – und muss auch erkennen, dass ihre eigenen Kolleg*innen nicht unbedingt immer eine weiße Weste haben. Und dann ist plötzlich auch noch Kacey verschwunden. Ist auch sie ein Opfer des Killers geworden?

Ein Buch mit vielen Themen

Long bright river ist ein Buch, das viele Themen anschneidet und behandelt. Allein: bright, also glänzend, ist nichts davon. Da ist zum einen die Geschichte von Mickey und Kacey, die Liz Moore in einigen Rückblenden erzählt. Wie es kam, dass die eine der Schwestern drogenabhängig und die andere zur Polizei ging, das dröselt Moore langsam auf. Auch der Kampf von Mickey um ihre süchtige Schwester spielt eine Rolle, der (mit einer überraschenden Volte) von Moore nachvollziehbar geschildert wird.

Zum anderen ist das Buch auch großartiger feministischer Cop-Thriller. Ähnlich wie es zuletzt Melissa Scrivner Love in Lola (Suhrkamp-Verlag) gelang, Kriminalliteratur, Feminismus und Inneneinsichten von Drogenkartellen zusammenzubringen, schaffte es nun Liz Moore, sich in das Genre des Cop-Thrillers mit einer weiblichen Perspektive einzuschreiben.

Eigentlich sind die Helden der einschlägigen Autor*innen von Michael Connelly, Joseph Wambaugh bis Richard Price immer Männer. Polizisten, die die Straßen (un)sicher machen, manchmal hart am Rande der Legalität, oftmals auch darüber hinaus. Testosterongeladen, desillusioniert, männerbündlerisch- so kennt man diese Cops. Frauen nehmen in den Büchern zumeist nur statistische Rollen ein. Doch hier betritt mit Mickey Fitzpatrick nun eine Heldin die Bühne, die etwas anders ist.

Neben den Ermittlungen in den Straßen Philadelphias ist es auch die Trennung vom Vater ihres Kinders und ihre Existenz als Alleinerziehende, die sie umtreibt. Die finanziellen Sorgen, die prekäre Betreuungssituation ihres Sohnes, die überfordernde Sorgearbeit, das rissige familiäre Netz – glaubhaft beschreibt Liz Moore, wie Mickey zwischen diesen Anforderungen zerrieben zu werden droht.

Long bright river ist nicht zuletzt auch ein Buch über die Opioid-Krise und die verhängnisvolle Sucht eines ganzen Landes, die sich in Brennpunkten wie Kensington manifestiert. So kommen Menschen aus dem ganzen Mittleren Westen in dieses Stadtviertel, da sie hier die Strukturen für den Drogenkonsum sowie günstige Preise für Heroin und Co. vorfinden.

Gesellschaftspanorama, Krimi, Porträt einer zerrissenen Frau

Natürlich ist Moores Buch ein Krimi, das steht außer Frage. Aber darüber hinaus interessiert sich die Autorin eben auch für die gesellschaftlichen Umstände in Kensington, die symptomatisch für die USA sind. Der gigantische Drogenmissbrauch, die kaum vorhandenen Aufstiegschancen – wer will, kann viel Gesellschaftskritik in diesem Buch erkennen, das eben auch eine Milieustudie ist. Und nicht zuletzt spielt auch die Seelenlage Mickeys eine große Rolle, die glaubhaft über die Kindheit bis in die Gegenwart hinein entwickelt wird. Was es bedeutet, in einer „sozial schwachen“ Familie aufzuwachsen und die eigene Schwester an die Drogensucht zu verlieren, hier wird es nachvollziehbar geschildert.

Diese Mickey Fitzpatrick ist eine durch und durch glaubwürdige Heldin. Auch der von Liz Moore ersonnene Kriminalfall ist dicht dran an der Realität. Hier schaut eine Autorin auf die Abgründe, die die Hochglanz-Millionenmetropolen zweifelsohne auch bereithalten. Große feministische Krimikunst und gelungene Milieustudie aus Übersee.

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Geovani Martins – Aus dem Schatten

Brasilien – Zuckerhut, Samba, Copacabana und Lebensfreude. So die Bilder, die die einschlägigen Songs, Karneval und Filme befeuern. Dass das Land auch dunkle Abgründe hat, das wurde besonders im Vorfeld die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 klar. In den Favelas in Rio de Janeiro und anderswo regiert die Kriminalität. Drogen, Gangs, Gewalt – daran ändern auch Einsätze des Militärs nichts, die regelmäßig die Favelas stattfinden.

In das Leben der Favelas entführt auch das Buch Aus dem Schatten von Geovani Martins. Er erzählt in seinem mit Stories untertitelten Kurzgeschichtenband vom Leben in den Slums der brasilianischen Hauptstadt und von den Kämpfen, die dieses (Über)Leben bedeutet. In Brasilien scheint das Buch große Erfolge gefeiert zu haben, der Klappentext kündet von einem „Sensationserfolg“ des Buchs.

Geovani Martins selbst hat auch eine ungewöhnliche Biographie. Beziehungsweise ist sie für einen Favelabewohner wohl selbst alles andere als ungewöhnlich. Vier Jahre besuchte Martins die Schule, jobbte danach als Plakatträger und Kellner. Der 1991 geborene Autor veröffentlichte 2018 dieses Buch, ein Jahr später liegt es nun in der Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner auch im Deutschen vor.

13 Stories, 125 Seiten, wenig Neues

13 Geschichten liefert das Buch, und das auf gerade einmal 125 Seiten. Das lässt schon Rückschlüsse auf die Erzählweise von den Stories zu, die nur kurze Skizzen und Schlaglichter sind. Mal erzählt Martins von einem Graffitisprayer, mal von Beschaffungskriminalität und sehr häufig von Drogen, die für die jungen Protagonist*innen Hilfsmittel zur Flucht aus der niederschmetternden Realität sind.

Wird das Buch von der Kritik und den brasilianischen Leser*innen offenbar als neuer Realismus gefeiert und Martins Talent gerühmt, das Leben in den Favelas zu schildern, so war ich doch recht enttäuscht.

Zum Einen bietet mir der junge brasilianische Autor kaum Neues. Dass in den Favelas Gewalt und Drogen regieren – geschenkt. Dass die Polizei nicht viel besser ist als die Kriminellen, die sie bekämpfen soll – auch das war zu ahnen. Aber auch ansonsten vermittelte mir Martins lediglich Bilder, die man schon aus Dokumentationen über Brasilien oder Zeitungsberichte kennt. Dass Touristen an den Stränden unterhalb des Zuckerhutes gerne von Gangs abgezogen werden, das weiß nicht nur Martins, sondern sogar das Auswärtige Amt.

All das wäre ja nicht so schlimm, wenn der altbekannte Inhalt wenigstens auf neue oder ästhetisch besonders ansprechende Weise präsentiert würde. Aber auch das ist hier leider nicht der Fall. Sprachlich ist das Buch doch recht dünn, selbst der Sound der Straße bzw. der der Favelas wirkte auf mich recht beliebig. So verpuffen die Geschichten wie der Schmetterling in der Geschichte Die Sache mit dem Schmetterling über dem heißen Öltopf.

Die Begeisterung und den durchschlagenden Erfolg des Buches kann ich leider nicht wirklich nachvollziehen.

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Melissa Scrivner Love – Lola

Melissa Scrivner Love bringt den Feminismus und Empowerment in den zeitgenössischen Thriller. Ein Hymne auf die Kraft des Weiblichen, auf die Sorgearbeit und den Stress, den es bedeutet, Frau, Geliebte, Schwester und Pflegemutter zu sein – und nebenbei noch eine Gang zu leiten und einem übermächtigen Kartell die Stirn zu bieten.


„Entschuldigung, aber Sie haben wirklich tolle Waden“, sagt die Frau. (…) „Was machen Sie?“

„Ich bin im Vertrieb“, sagt Lola.

„Nein, ich meine, welches Training machen Sie. Hier“ (…)

„Gewichte“, sagt Lola, und es stimmt. Auf ihren Schultern lasten viele Gewichte. Sie nimmt Lucys Hand und lässt die Frau stehen.

Scrivner Love, Melissa: Lola, S. 35

Es sind in der Tat viele Gewichte, die Lolas Schultern niederdrücken. Schon fast unübersichtlich viele Gewichte. Zunächst ist Lola die Geliebte von Garcia, der die Gang The Crenshaw Six anführt. Diese Gang kontrolliert den Drogenvertrieb an ein paar Ecken von Los Angeles. Zwar sind sie keine großen Player, der Wunsch nach mehr ist allerdings vorhanden.

Dann ist Lola auch im familiären Verbund eingespannt. Ihr Mutter ist drogensüchtig und fällt als Bezugsperson im Familiengefüge aus. Ihr kleiner Bruder ist ebenfalls hochgradig gefährdet, da er sich auch in Garcias Gang beweisen muss. Zudem ist Lucy, die Tochter einer anderen drogensüchtigen Mutter bei Lola untergekommen. Für diese will sie als eine Art Familienersatz fungieren. Einmal mehr Druck für Lola also, da sie auch diese Rolle als Ziehmutter irgendwie ausfüllen muss.

Darüber hinaus illustriert Melissa Scrivner Love eindrücklich, wie Lola in ihrem Leben und Alltag immer wieder auf Schranken von Klassen und Gesellschaft stößt. Kein Wunder, dass Lola mit ihren 26 Jahren das Gefühl hat, von unzählichen Gewichten niedergedrückt zu werden.

Lola rennt

Im Buch erleben wir Lola als eine permanent gehetzte Frau, deren Überleben von ihrem eigenen Geschick abhängt. Da The Crenshaw Six einen Drogendeal vermasselt haben, sitzt ihnen jetzt auch noch das übermächtige Kartell im Nacken. Diese haben Garcia eine eng gesteckte Frist gesetzt – allenfalls wollen sie Garcias Geliebte ermorden Wer zieht den Karren aus dem Dreck? Natürlich muss auch hier Lola ran. Und Lola rennt.

Natürlich ist Lola ein Thriller, der den Konventionen des Genres gehorcht. Die Ausgangslage – Los Angeles, Drogen, Gangs, Kartelle – mag nicht sonderlich neu sein. Was Melissa Scrivner Love dann allerdings aus dem vorhandenen Material zaubert, ist frisch, neu und augenöffnend.

Natürlich ist der Thriller zugespitzt auf Lola als Gangchefin, die den Kartellbossen die Stirn bietet. Durch solch extreme Situationen funktionieren solche Thriller. Aber man merkt auch, dass hinter aller Zuspitzung und Übertreibungen doch eines ganz klar durchscheint – das Wissen um den Kampf, den es bedeutet, wenn man sich als Frau durchsetzen will oder muss.

Nachdem sie ein paar Schritte gegangen sind, fragt Lucy: „Warum sind hier nur Frauen?“

Die Frage trifft Lola wie ein kleiner Hieb. Lola will Lucy nicht sagen, dass Frauen so bekloppt sind und glauben, dass sie verzichten und sich kleiner machen und weniger wollen und mehr geben müssen als Männer. (…)

„Frauen legen einfach strengere Maßstäbe an sich an“, sagt Lola.

Scrivner Love, Melissa: Lola, S. 351

Immer wieder sind es Kommentare zur Rolle der Frau in der heutigen Gesellschaft, dem Kampf um Selbstbestimmung, auch übergreifende gesellschaftliche Betrachtungen der USA (und darüber hinaus) und die soziologischen Schranken, die Scrivner Love in ihren Text fließen lässt. Das hebt Lola über das Gros durchschnittlicher Thrillerkost hinaus (die man vielleicht bei dem etwas Groschenroman-haften Cover erwarten würde).

Eigentlich ist es eine zutiefest feministisches Schrift, die sich hinter Lola verbirgt. Dass sich Melissa Scrivner Love das Gewand eines Thrillers augesucht hat, um ihre Botschaften unter das Volk zu bringen, ist zu begrüßen. Denn so kann der Text hoffentlich eine große Breitenwirkung entfalten und hoffentlich die ein oder andere Debatte evozieren.

Sehr stimmig übersetzt wurde der Text ins Deutsche von Andrea Stumpf und Sven Koch. Erschienen ist der Titel bei Suhrkamp.

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