Tag Archives: Einsamkeit

Colum McCann – Twist

Schicksale, die wie Kabelstränge verdreht und entdreht werden. Sie flicht Colum McCann in seinem neuen Roman Twist, das die fragilen Verbindungen zwischen Menschen und Nationen besieht und dafür tief abtaucht, bis hinab auf den Meeresgrund.


Mit seinen Romanen hat sich Colum McCann einen Ruf als Autor erschrieben, der sich genau ansieht, was Menschen trennt und sie verbindet. Mal beschäftigte er sich mit der Kluft, die sich zwischen Israelis und Palästinensern auftut und die fast unüberwindlich scheint (Apeirogon), mal lässt er in einem Roman einen Seiltänzer über den Abgrund zwischen den Wolkenkratzern in New York balancieren (Die große Welt).
Im Roman Transatlantik war das Verbindende schon im Titel angelegt, hier schickte er von 1845 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gleich dreimal Menschen zu ganz verschiedenen Zeitpunkten zwischen McCanns Heimat Irland und den USA hin und her.

Nun mit Twist also ein neuer Roman, der abermals das Verbindende besieht. Das Ganze findet diesmal aber nicht wie in Transatlantik über der Erde statt, im aktuellen Roman liegt die Verbindung deutlich tiefer, genauer gesagt am Grunde des Ozeans. Denn dort sind jene Glasfaserkabel verlegt, die das Internet und damit die verschiedenen digitalen Netze zwischen den Kontinenten verbinden.

Das Geheimnis der Tiefseekabel

Einst beschrieb Stefan Zweig in der Erzählung Das erste Wort über den Ozean in seinen Sternstunden der Menschheit den Moment der Verlegung des ersten Telegrammkabels zwischen den USA und Europa. Nun, gut 150 Jahre später seit jener Pionierleistung haben sich zwar die Kabelarten geändert, die Abhängigkeit von jener fragilen Infrastruktur ist aber geblieben, wie nicht nur jüngst die Angriffe der russischen Schattenflotte auf diese Tiefseekabel zeigten.

Das muss auch der recht erfolglose Schriftsteller und Journalist Fennell feststellen, der auf Geheiß seiner Redakteurin den Weg nach Kapstadt antritt, wo er eine Reportage über Conway schreiben soll. Dieser ist auf einem spezialisierten Schiff für die Reparatur dieser Tiefseekabel zuständig und soll im Mittelpunkt von Fennells Reportage stehen, für die er zumindest anfänglich nicht allzu viel Begeisterung aufbringen kann.

Ich interessierte mich nicht für Kabel. Jedenfalls anfangs nicht. In dem einzigen Artikel, den ich am Ende schrieb, hieß es, ein Kabel bliebe so lange ein Kabel, bis es gebrochen sei, danach verwandle es sich, wie wir alle, in etwas anderes.
Eines kalten Herbstnachmittags rief mich Sachini an, meine Redakteurin bei einem Online-Magazin, für das ich gelegentlich arbeitete. Sie sprach in langen, verschlungenen Sätzen. Sie war auf einen Bericht über einen Kabelbruch in Vietnam gestoßen und hatte überrascht herausgefunden, dass beinahe die gesamte interkontinentale Information der Welt durch zerbrechliche Röhren auf dem Meeresgrund floss. Wir anderen glaubten zumeist, dass die Cloud in der Luft beheimatet sei, sagte sie, aber über Satelliten laufe nur ein kleiner Bruchteil des Internetverkehrs. Die im Schlick liegenden Kabel auf dem Meeresgrund seien schneller, billiger und weitaus effektiver. Gelegentlich brächen sie, und verteilt über verschiedene Häfen der Welt gebe es eine kleine Flotte von Schiffen, die dann mit der Reparatur beauftragt würden und oft Monate auf See verbrachten. Sachini fragte, ob ich der Geschichte nachgehen wolle?

Colum McCann – Twist, S. 14

Auf den Spuren einer Nicht-Geschichte

Zunächst allerdings sieht alles eher nach einer Nicht-Geschichte aus. Deutlich interessanter als der widerwillige Kabelexperte scheint Conways Frau Zanele zu sein, die schon kurz nach Fennells Ankunft in Südafrika von dort nach England aufbricht, wo sie mit anderen Schauspielerinnen Becketts Warten auf Godot neuinterpretieren will.

Nicht nur sie wartet im Stück auf jenen Gast, dessen Erscheinen ausbleibt, auch eine berichtenswerte Story in Kapstadt scheint auszubleiben. Ein Schleier der Lethargie legt sich über Fennell, der erst durch einen Felssturz zerrissen wird. Denn jene Verschiebung von Erdmassen wirkt auch unterirdisch fort und beschädigt die Kabel vor der Küste Afrikas und sorgt dort für einen großflächigen Ausfall sämtlicher Kommunikationsstruktur. Und so hat Fennell plötzlich doch eine Geschichte, als er mit an Bord ist, als die Mannschaft ausrückt, um den Schaden zu beheben, der nicht nur die afrikanische Welt zusehends ins Chaos stürzt.

Rätselhafte Menschen, verdrehte Schicksale

Twist ist ein Roman, der drei Menschen ins Zentrum stellt, die alle auf ihre eigene Art und Weise unnahbar bleiben. Da ist Conway, der zu Fennell auf Distanz geht und den der Journalist nicht richtig zu greifen bekommt (worüber der Journalist bis heute grübelt; ein Umstand, über den er uns schon zu Beginn des Romans in Kenntnis setzt).

Aber auch Fennell bleibt konturlos, obschon er uns als Ich-Erzähler an seinen eigenen Abgründen und Schmerzen teilhaben lässt. Und Zanele als dritte im Bunde ist nicht nur durch ihr baldiges Entweichen nach England für Fennell ein faszinierendes Rätsel – auch Conways Schiffscrew scheint der Anziehung der Schauspielerin erlegen zu sein und Teile der Crew haben wie auch Fennell selbst eine Obsession für die enigmatische Frau entwickelt.

Diese drei Figuren bringt Colum McCann in Kapstadt nun zusammen und verdrillt ihre drei Lebenswege zunächst wie die Stränge im Inneren eines isolierten Kabels. Schon kurz darauf aber entdrillt der irische Schriftsteller diese drei Schicksale wieder und isoliert die Figuren zunehmend voneinander. Aus dieser Bewegung der Eng- und dann Fortführung zieht Twist seinen Reiz.

Nachdem der Roman am Ende den titelgebenden Twist auch nicht schuldig bleibt, wird das Buch mit seinen Figuren immer mehr zu einem Rätsel. Denn plötzlich wechselt eine der Figuren die Seiten – und als außenstehender Beobachter steht man wieder vor einem Rätsel, das der Roman nicht auflösen kann und das auch gar nicht will. Mit dieser Verschiebung in der Betrachtung der Figuren und ihr erratisches Verhalten erinnert der Roman an andere, ebenfalls in maritimen Umfeld angesiedelte Romane wie Emma StonexDie Leuchtturmwärter oder Mariette Navarros Über die See, die ebenfalls ein Stück weit auf Uneindeutigkeit und die Ungewissheit setzen.

Fazit

Es liegt etwas leicht Verschobenes, Zwielichthaftes über diesem ganzen Roman, der von unseren Abhängigkeiten und Verstrickungen genauso wie von Einsamkeit erzählt. So etwas muss man mögen – Colum McCann kann es aber auf alle Fälle erzählen, denn der Roman weiß durch die Bildsprache und die Komposition einer Rückschau überzeugen. Trotz des Blicks zurück zweifelt Fennell und wir mit ihm daran, was man da eigentlich gesehen hat. Das macht in meinen Augen den Reiz dieses von Thomas Überhoff ins Deutsche übersetzten Romans aus.


  • Colum McCann – Twist
  • Aus dem Englischen von Thomas Überhoff
  • ISBN 978-3-7632-7672-1 (Büchergilde Gutenberg)
  • 336 Seiten. Preis: 28,00 €

Fien Veldman – Xerox

Selbstgespräche mit dem Drucker, Kontemplation im Kämmerlein. In ihrem Roman Xerox erkundet Fien Veldman die moderne Arbeitswelt und erzählt von einer anonymen Arbeiterin, die beim Höher – Schneller – Weiter der modernen Arbeitswelt nicht mitmachen möchte und sich stattdessen ihre eigene Arbeitsnische sucht. Ein Büroroman im Geiste von Herman Melvilles Bartleby der Schreiber.


Mit seiner Ankündigung sorgte Mark Zuckerberg Anfang des Jahres für Schlagzeilen. Nicht nur, dass er im Geiste Elon Musks Faktenchecks und Moderationen bei Facebook abschaffen möchte, auch sollen fünf Prozent der Mitarbeiter beim Digitalkonzern entlassen werden. Treffen werde es leistungsschwache Arbeitnehmer, mit deren Performance man nicht zufrieden sei, so die Ankündigung des Multimilliardärs.

Damit reiht sich Zuckerberg ein in die Riege des Höher – Schneller – Weiter, das von den Mitarbeitenden mehr Effizienz und Leistung einfordert und damit ganz im Trend der Hochleistungsgesellschaft liegt. Wie es aber aussehen kann, wenn man gar nicht zu den Highperformern zählen möchte, sondern sich lieber mit seinem kleinen Arbeitsplatz und einem überschaubaren Arbeitsanspruch begnügen möchte, das erkundet Fien Veldman in ihrem Roman Xerox.

Einöde im Startup

Sie erzählt von einer anonymen Angestellten, die in einem Startup in einer Stadt mit Grachten ihren Dienst tut. In einem kleinen Kämmerlein sitzt sie, Gesellschaft leistet ihr der Xerox-Drucker, den sie mit Hingabe bedient und der ihr auch als Gesprächspartner dient. Die meiste Zeit verbringt die Angestellte für sich und hat eine Virtuosität in Sachen Erkennung von Papierqualität und Vermeidung von Papierstau entwickelt.

Fien Veldman - Xerox (Cover)

Ab und an soll sie aber auch die Betreuung des Kunden-Postfachs übernehmen und die Anliegen der Schreibenden beantworten – und das alles für den Mindestlohn, von dem auch noch Geld für das Mittagessen einbehalten wird. Motivation sieht anders aus, auch wenn ihr Chef ihr zu verstehen gibt, dass sie und ihre Arbeit gesehen werden.

Die größte Spannung in diesem recht einförmigen (Büro)Alltag bildet da schon ein Paket, das falsch adressiert wurde und dem sie nun neben dem Job durch die Straßen und Häuser in der Stadt hinterherjagt.

Doch dann zeigt sich, dass eines ihrer Selbstgespräche mit dem Drucker eines zu viel war – der Chef wittert Fremdbeschäftigtung und stellt seine Arbeitnehmerin frei, die in Gesprächen mit einem Therapeuten ihr Verhalten aufarbeiten soll. Dabei will sie ja eigentlich nur eines – wieder zurück in ihr Kämmerlein und zurück zum Xerox-Drucker.

Ich möchte einfach meine Briefe ausdrucken und verschicken und dann und wann die Tonerkartuschen austauschen. Ich möchte an meinem Papier fühlen können, ob es für den jeweiligen Tag geeignet ist, wie ich es immer tue. Ich möchte jeden Tag in mein kleines Kämmerlein gehen und dort in Ruhe gelassen werden. Ich möchte morgens meinen Drucker anmachen und seinen Aufwärmgeräuschen lauschen, während in den ersten Schluck Kaffee trinke aus der Tasse, die ich immer benutze und die ich selbst abwaschen, wenn nötig. Ich möchte den Tag mit meinem Gerät verbringen, die Stapel gedruckter Briefe wachsen sehen, ich möchte die Umschläge zählen, sie kategorisieren und in kleinere Stapel aufteilen, Adressetiketten ausdrucken und aufkleben.

Fien Weldman – Xerox, S. 115

Fien Veldman auf den Spuren Herman Melvilles

Xerox erzählt von der Sinnlosigkeit mancher Jobs, die im Kosmos eines Büros aber trotzdem verrichtet werden sollen. Wie die junge Arbeitnehmerin, die es in die Stadt mit den Grachten geschafft hat, jetzt an der Eintönigkeit im Start-Up leidet, sie aber auch sucht, das erinnert schon fast an Franz Kafka und seine Tätigkeit im Versicherungsbüro in Prag.

Doch statt großer Literatur entstehen bei der Arbeitnehmerin Gedanken, die sich zurückbewegen in ihre Kindheit, die wild assoziieren und die sich der Drucker ergeben anhört, ehe dieser zur großen Überraschung auch selbst zu Wort kommt (womit Fien Veldman nebenbei bemerkt auch die literarisch eigenwilligste und herausragendste Annäherung an das Phänomen Papierstau aus ungewöhnlicher Perspektive gelingt).

Vor allem aber erinnert Xerox auch an den Urvater aller Büroromane, nämlich Herman Melvilles Erzählung von Bartleby, dem Schreiber. Dieser versah in einer New Yorker Kanzlei seinen Dienst, ehe er mit der ikonischen Verweigerung I prefer not to sämtliche an ihn herangetragene Arbeit ablehnte und damit sein Umfeld in Verzweiflung und Ratlosigkeit stürzte.

Auf diesen Spuren wandelt Veldman und zeigt ihre Arbeitnehmerin als Rädchen im Getriebe, das gar nicht primär funktionieren, sondern leben will. Damit hätte sie es natürlich auch schwer, würde das Startup Facebook heißen und ihr Chef auf den Namen Mark Zuckerberg hören.

„Ich meine: es gibt Menschen, die sich mit ihrer Umgebung mitbewegen, Menschen die etwas tun. Und es gibt Menschen wie dich. Du kannst ruhig darauf warten, dass sich etwas von sich aus verändert, aber das wird schlichtweg nicht passieren, die Welt wird sich nicht an dich anpassen.“

Fien Veldman – Xerox, S. 135

Fazit

Mit ihrem Debüt Xerox reiht sich Fien Veldman ein in die Reihe von Büroromanen aus niederländischer Feder, wie sie Willem Elsschot oder J. J. Voskuil schrieben. Aber steht Veldmans Buch in der Tradition von Melville und Kafka. Ihr gelingt ein literarisch interessant gestaltetes Porträt einer namenlosen Arbeiterin und deren sanftes Opponieren gegen die anonyme Leistungsgesellschaft.


  • Fien Veldman – Xerox
  • Aus dem Niederländischen von Christina Brunnenkamp
  • ISBN 978-3-446-27952-0 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 23,00 €

Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord

35 Jahre ist eigentlich noch kein Alter für eine Midlifecrisis. Und doch fühlt Henry Preston Standish in sich den Drang, aus seinem geregelten Leben mit Job, Frau und Kind auszubrechen. Und so findet sich der distinguierte Gentleman an Bord der S. S. Arabella wieder, wo es in Herbert Clyde Lewis‚ Roman Gentleman über Bord zu einem verhängnisvollen Zwischenfall kommt.


Als Henry Preston Standish kopfüber in den Pazifischen Ozean fiel, ging am östlichen Horizont gerade die Sonne auf. Das Meer war so still wie eine Lagune, das Wetter so mild und die Brise so sanft, dass man nicht umhinkam, sich auf wunderbare Art traurig zu fühlen. In diesem Teil des Pazifiks vollzog sich der Sonnenaufgang ohne großes Tamtam: Die Sonne setzte lediglich ihre orangefarbene Kuppel auf den fernen Saum des großen Kreises und schob sich langsam, aber beständig nach oben, bis die matten Sterne mehr als genug Zeit hatten, mit der Nacht zu verblassen.

Tatsächlich dachte Standish gerade über den gewaltigen Unterschied zwischen dem Sonnenaufgang und dem Sonnenuntergang nach, als er den unglücklich Schritt machte, der ihn in die See beförderte.

Was für ein Auftakt für diesen Roman, der nach seinem Erscheinen 1937 nun erstmals auf Deutsch zu entdecken ist. Von Honolulu auf Hawai bis nach Panama soll die Reise führen, zu der sich Henry Preston Standish berufen fühlt.

Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord, S. 13

Ein Mann in der Midlifecrises – und im Pazifik

Herbert Clyde Lewis - Gentleman über Bord (Cover)

Eigentlich führt er eine Bilderbuchexistenz, wie sie sich viele andere Menschen nicht nur in den Dreißiger Jahren in Amerika erträumten. Als Eigner einer Börsenmaklerfirma muss er sich um sein Auskommen keinerlei Gedanken machen. Seine Frau Olivia hat er drei Monate nach dem Kennenlernen geheiratet und zusammen mit ihr zwei Kinder. Man lebt in einer Vierzimmerwohnung am Central Park und hat sich sehr komfortabel eingerichtet im begüterten Leben dort in New York.

Und doch ist da diese Leere in ihm, die er nun nach sieben Jahren Ehe mit der Schiffsreise von Hawai bis zum Panamakanal füllen möchte.

Viele Tage an Bord der Arabella, in Gesellschaft einer kleinen Reisegruppe und einer ebenso handverlesenen Besatzung, so sieht es der Plan eigentlich vor. Doch dann ist dann ist es ausgerechnet ein Ölfleck, der das Unglück auslöst, das Standish mitten hinein in den Pazifik befördert. In einer schon fast slapstickhaften Nummer rutscht Standish in dieser Öllache aus, als wäre es eine Bananenschale. Er fasst nicht mehr Tritt und so heißt es schon auf den ersten Seiten des Buchs Gentleman über Bord.

Gentleman über Bord

Männer vom Schlage Henry Preston Standishs stürzten nicht einfach so von einem Schiff mitten in den Ozean. So etwas machte man schlichtweg nicht, das war alles. Es war eine blöde, kindische, ungezogene Tat, und wenn Standish jemanden hätte um Verzeihung bitten können, dann hätte er es getan. Die Leute daheim in New York wussten, dass Standish ein ausgeglichener Typ war. Seine Erziehung und Ausbildung hatten die Ausgeglichenheit hervorgehoben. Selbst als Heranwachsender hatte Standish immer das Richtige getan. Weit entfernt davon, blasiert zu sein oder einen Kult mit Umgangsformen zu treiben, war Standish wahrhaft ein Gentleman von der guten, unaufdringlichen Sorte.

Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord, S. 29

Eigentlich ist er geneigt, sich für die Umstände entschuldigen zu wollen und wagt es zunächst beschämt gar nicht, laut nach Hilfe zu rufen, allzu unschicklich ist dieser Vorfall für ihn. Doch als sich das Schiff unaufhaltsam vom wassertretenden Standish entfernt, muss er doch nach Hilfe rufen.

Diese bleibt allerdings aus, denn außer Standish befand sich zum Zeitpunkt des Unglücks niemand an Deck. Und auch in der Folge wird der Gang über Bord nicht bemerkt werden, wie Herbert Clyde Lewis ausführlich zu schildern weiß. Es kommt zu einer unglücklichen Verkettung von Umständen, durch die weder beim Frühstück noch im Laufe des Tages das Fernbleiben des Gentleman auffällt. Verwechslungen, unglückliches Timing und schlichtes Pech sorgt dafür, dass die Arabella weiterhin Kurs auf Panama hält, während Standish im Wasser des Ozeans tritt.

Dies entwickelt sich für den Börsenmakler erst langsam zum Problem. Denn eigentlich ist das Wasser von einer angenehmen Temperatur, Haie gibt es in diesen Breiten nicht – und so schaukelt Standish auf den Wellen und sinnt über sein Leben und das Unglück an Bord der Arabella nach. Doch je weiter der Roman voranschreitet, umso prekärer wird die Lage. Ob man auf dem Schiff die Abwesenheit des Mannes noch rechtzeitig bemerkt?

Viele Gefühle auf kleinstem Raum

Herbert Clyde Lewis hat mit Gentleman über Bord einen Roman geschrieben, der auf allerkleinstem Raum spielt. Es sind gerade einmal zehn Kapitel, die die etwas mehr als hundertfünfzig Seiten gliedern, die außer dem Schiff Arabella und dem im Meer treibendenden Standish keinen Schauplatz bieten. Den minimalen Raum weiß Lewis aber zu nutzen, indem er seinen Protagonisten und mit ihm auch uns alle Gefühlsregungen durchlaufen lässt. Melancholie, Trauer, Komik, Verlustängste – all das steckt in den Seiten von Gentleman über Bord.

Jochen Schimmang zeichnet in seinem Nachwort das Leben von Herbert Clyde Lewis nach, der 1909 als Sohn russisch-jüdischer Migranten in Brooklyn zur Welt kam und dem zeitlebens ein ähnliches Pech als Schriftsteller wie seinem Gentleman im Pazifik beschieden war. Er musste sich abstrampeln und von Job zu Job hangeln, Drehbücher verfassen – und geblieben ist ihm ebenso wenig, wie von Standish dort in den Weiten des Ozeans. Mit gerade einmal 41 Jahren starb Herbert Clyde Lewis. Umso schöner, dass ihm nun 73 Jahre nach seinem Tod im Jahr 1950 postum die Ehre einer Wiederentdeckung zuteil wird.

Fazit

Ein großartiges Büchlein, in dem man gerne versinkt wie Standish in den Weiten des Pazifiks. Das ist Literatur, mit der man keinesfalls Schiffbruch erleidet!


  • Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord
  • Aus dem Englischen von Klaus Bonn
  • Mit einem Nachwort von Jochen Schimmang
  • ISBN 978-3-86648-696-6 (Mare)
  • 176 Seiten. Preis: 28,00 €

Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter

Drei Leuchtturmwärter verschwinden spurlos während der Silvesternacht von ihrem sturmumtosten Standort vor der Küste von Cornwall. Es fehlt von ihnen jede Spur, die Wanduhren sind stehengeblieben, der Turm von innen verriegelt. Was bei Ellery Queen oder John Dickson Carr ein klassischer Rätselkrimi geworden wäre, wird bei Emma Stonex zu einer Meditation um Verlust und den Umgang mit dem Ungewissen.


Es mutet wirklich wie ein Rätsel aus einem Kriminalroman aus dem Goldenen Zeitalter der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts an. Ein verschlossener Leuchtturm auf der Insel Maidens Rock, 28 Kilometer südlich von Land’s End gelegen. Seine Bewohner, drei Männer, ohne jedes Lebenszeichen verschwunden. Und so schießen nach dem Bekanntwerden der Umstände die Spekulationen ins Kraut. Handelt es sich um einen Mord? Wurden die drei Männer entführt? Oder ist es zu einer Tragödie auf Maidens Rock gekommen?

Es bleibt nicht mehr viel übrig vom Turm. Nur noch die Laterne. Acht Etagen durchsucht und acht Etagen leer. Also hinauf auf die Spitze, und da ist sie, die Laterne der Maiden, ein riesiger Glühstrumpf umschlossen von Linsen so zart wie Vogelschwingen.

»Das war’s. Sie sind weg.«

Am Horizont ziehen Federwolken heran. Die Brise frischt auf, ändert die Richtung, treibt weiße Kämme über die tanzenden Wellen. Es ist, als wären die Wärter nie hier gewesen. Entweder das, oder als wären sie ganz nach oben geklettert und einfach davongeflogen.

Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter, S. 28 f.

Verschwunden aus dem Leuchtturm

Emma Stonex - Die Leuchtturmwärter

Um das zu herauszufinden, will sich ein Schriftsteller mit den drei hinterbliebenen Partnerinnen der Leuchtturmwärter treffen. Er möchte ein Buch über das Rätsel von Maiden Rock verfassen und sucht hierfür das Gespräch mit den Frauen. Doch nicht alle der drei Frauen wollen mit dem Autoren reden. Auch untereinander herrscht überwiegend Funkstille, da die Frauen ganz unterschiedliche weitere Lebenswege eingeschlagen haben. Eine neue Familie oder Einsamkeit, Verdrängung der Geschehnisse oder ruheloses Grübeln. In den Gesprächen, die wir aus Perspektive des Autors erleben, entstehen langsam drei ganz unterschiedliche Leben, die sich um die Leerstelle in ihrem Leben herum gebildet haben.

Dabei erzählt Emma Stonex abwechselnd aus der Perspektive der drei Frauen, die durch die Nachforschungen des Reporters im Jahr 1992 aufgewühlt werden und ihre Sicht auf das Geschehen schildern. Aber auch die drei Leuchtturmwärter kommen zu Wort, die von ihrem Alltag auf dem Leuchtturm zwanzig Jahre zuvor erzählen. Man erhält Einblicke in eine Welt voller Einsamkeit, die ganz eigene Riten, Abläufe und Codes besitzt, die sich auch durch die Tätigkeit fernab der Zivilisation bedingen.

Drei Männer, drei Frauen – und ihre Perspektiven

Allmählich puzzelt Emma Stonex diese sechs Perspektiven aus den unterschiedlichen Jahren zusammen, um eine Variante anzubieten, was sich in der Silvesternacht auf Maidens Rock abgespielt haben könnte. Jeder der Wärter und jede der drei Frauen trägt ihr Scherflein zu der Entwicklung bei, die am Ende auch nur ein Erklärungsversuch bleibt, der aber keinen allgemeingültige Anspruch formuliert. Das macht das Buch so überzeugend, weil neben den Perspektiven der drei Paare und der Befragten auch Raum für Spekulationen und Schwebendes bleibt.

Das Ganze basiert dabei aber auf tatsächlichen Begebenheiten, wie schon die Anmerkung der Autorin zu Beginn des Buchs klarmacht.

Im Dezember 1900 verschwanden drei Wärter von einem abgelegenen Leuchtturm auf der Insel Eilean Mòr in den Äußeren Hebriden. Sie hießen Thomas Marshall, James Ducal und Donald MacArthur. The Lamplighters wurde von diesem Ereignis inspiriert und in respektvoller Erinnerung daran geschrieben, aber es ist eine fiktionale Geschichte und hat keine Ähnlichkeit mit dem Leben und der Persönlichkeit dieser Männer.

Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter, Anmerkung

Und auch an dieser Stelle geht Emma Stonex noch einmal auf die Hintergründe zu den Taten ein, die ihren Roman um das Verschwinden der drei Leuchtturmwärter inspirierte.

Fazit

So ist Die Leuchtturmwärter eine Studie über den Verlust im Leben und auch ein genaues Bild, was die Einsamkeit der Leuchtturmwärter belangt. Die Autorin lässt eventuelle Erwartungen eines Rätselkrimis ins Leere laufen und zeigt vielmehr Einsamkeit und Entfremdung in allen möglichen Schattierungen. Ein überraschendes Buch, das Erwartungen zuwiderläuft und wenig romantisierenden vom Alltag im Leuchtturm und dem Umgang mit Leerstellen im Leben zeigt.


  • Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter
  • Aus dem Englischen von Eva Kemper
  • ISBN 978-3-10-397037-1 (S. Fischer)
  • 432 Seiten. Preis: 22,00 €

Chris Harding Thornton – Pickard County

Menschen, die ihr Unglück und der Schmerz eint, irgendwo im Nirgendwo von Nebraska Ende der 70er Jahre. Das ist das Leben im Pickard County, das Chris Harding Thornton in ihrem Roman schildert. Es bleibt nur eine Frage: ist das noch ein Kriminalroman?


In einem Interview mit dem Blog Klappentexterin wurde der Krimi-Herausgeber Thomas Wörtche vor wenigen Wochen gefragt, was für ihn einen guten Krimi ausmacht, der auch Chancen hat, in sein Programm aufgenommen zu werden. Wörtche, der für Suhrkamp schon einige Perlen wie etwas Louisa Luna oder Merle Kröger an Land gezogen hat, gab auf diese Frage hin Folgendes zu Protokoll:

Ich mag auch gerne grenzgängige Bücher, Genre-Hybride zum Beispiel, oder Bücher, die man nicht genau einsortieren kann, die sich angeblich festliegenden Kriterien verweigern.

Thomas Wörtche im Interview mit dem Blog Klappentexterin, 27.11.2022

Solche Kriminalromane findet man allerdings nicht nur im Krimisegment des Suhrkamp-Verlags. Mit dem Polar-Verlag hat sich ein ganzer Verlag alleine dem Kriminalroman und seinen verschiedenen Schattierungen verschrieben. Bestes Beispiel für einen Krimi, der sich den angeblich festliegenden Kriterien verweigert ist in meinen Augen das Debüt Pickard County der Autorin Chris Harding Thornton, der in der Übersetzung von Kathrin Bielfeldt im Oktober bei Polar erschienen ist.

Irgendwo im Nirgendwo von Nebraska

Darin erzählt sie vom titelgebenden County irgendwo im Nirgendwo Nebraskas. Man schreibt das Ende der 70er Jahre, im Fernsehen talkt Johnny Carson und auf dem Land herrscht Ödnis. Viele Farmhäuser wurden aufgegeben, so etwas wie eine nennenswerte Industrie gibt es hier nicht. Für Jugendliche ist hier sowieso kein Platz vorgesehen.

Chris Harding Thornton - Pickard County (Cover)

Da überrascht es nicht, dass der Stellvertreter des lokalen Sheriffs, Harley Jensen, bei einer seiner vielen nächtlichen Patrouillen just in einem leerstehenden Farmhaus den jungen Paul Reddick in weiblicher Begleitung aufstöbert. Dieser bringt mit seinem jugendlich-provokanten Auftreten den Sheriff-Stellvertreter aus dem Konzept. Vor allem die Frage, was Reddick dort zu suchen hatte, treibt Jensen auch nach der nächtlichen Begegnung um.

Vor einigen Jahren wurde der kleine Bruder der Reddick-Brüder ermordet. Bevor der Mörder allerdings den Ort der Leiche preisgeben konnte, brachte er sich um. Dieses Trauma hat die Familie bis heute nicht verwunden und geht ganz unterschiedlich mit dem Verlust um. Und auch Jensen selbst hat seine Mutter verloren, die noch das Abendbrot für die beiden Kinder herrichtete, ehe sie sich umbrachte.

Von diesen Traumata erzählt Thornton sehr eindringlich und gönnt auch den andere Figuren in diesem Ensembleroman kein nennenswertes Glück. So ist Pam Reinhardt, die Schwägerin von Paul, mit ihrer Rolle als Mutter in prekären finanziellen Verhältnissen zutiefst unglücklich. Sie will ihren Mann und das gemeinsame Kind verlassen – und findet just in Harley Jensen eine verwandte Seele, mit der sich eine Liebesbeziehung entspinnt. Derweil wittert Rick, Pauls Bruder und Pams Ehemann, die Untreue, was ihn immer stärker umtreibt.

Eher zwischenmenschliche als kriminalliterarische Themen

Wie man an diesen Beschreibungen des Inhalts schon merkt, ist Pickard County ein Roman, der eher von zwischenmenschlichen denn von kriminalliterarischen Themen geprägt wird. Zwar gibt es krimitypische Zutaten wie den ungeklärten Verbleib des Reddick-Jungen und auch Polizeiarbeit fällt in Form von Brandstiftungen in verlassenen Höfen oder gestohlenen Gratiszeitungen an. Mit wirklich viel Lust verfolgt Chris Harding Thornton diese Ansätze aber nicht.

Eher ist es ein Zufallsprodukt, dass Harley Jensen gerade eben Stellvertreter des Sheriffs ist und damit eine polizeiliche Note in den Roman findet, was das Buch in die Nähe eines Krimis rückt. Die anderen Figuren von Pam Reinhardt über Paul Reddick bis hin zum alten Zisske in diesem Roman haben aber wenig Krimimäßiges an sich. Hier sind es viel mehr die Themen der unglücklichen Mutterschaft oder der nicht aufgearbeiteten Traumata oder das Begehren sowie das Leben in Armut, die im Mittelpunkt stehen und von denen Chris Harding Thorton anschaulich erzählt. .

Dort im von den deutschen Einwanderern geprägten Pickard County (viele nächtliche Streifenfahrten von Harley spielen sich auf der Schleswig-Holstein-Road statt, allenorten stammt man über Nachnamen mit deutschem Klang) gibt es viel Leid. Spannung findet man dafür eher weniger.

Dieses Fehlen von Suspense in Kombination mit und einer ganz anderen Schwerpunktsetzung im Roman selbst (eher Affäre statt Ermittlungsarbeit, eher Porträt des Lebens in der Unterschicht denn mitreißende Spannung) macht für mich die Einordnung als Kriminalroman zugegeben auch etwas schwierig.

Vielmehr ist Pickard County für mich das Porträt eines Landstrichs, in dem Unglück und Leid besonders gut zu gedeihen scheinen, wovon Chris Harding Thornton, nach Auskunft des Verlags Nebraskanerin der siebten Generation, auch hervorragend berichten kann. Wer eine ruhige Erzählung aus dem amerikanischen Nirgendwo mit wenig Hoffnung aber präzise gestalteten Figuren zu schätzen weiß, der darf hier gerne zugreifen. Krimifans, die von Krimis vor allem Spannung und Tempo erwarten, sollten aber eine andere Lektüre wählen.

Fazit

Mit Pickard County lotet der Polar-Verlag die Grenzen des Genres des Kriminalromans einmal mehr aus. Denn statt Spannung, Tempo und mitreißender Ermittlungsarbeit gibt es hier ein langsam geschildertes und präzise beschriebenes Bild vom Leben auf dem Land, das für alle Beteiligten Unglück bedeutet. Außereheliches Begehren, nicht verarbeitete Traumata und sind die Themen, von denen Chris Harding Thornton in ihrem Debüt erzählt. Ist das noch ein Krimi? Das muss wohl jeder Leser und jede Leserin selbst entscheiden.

Das Buch lädt auf alle Fälle ein, die eigene Genredefinition zu überdenken und hilft bei der Schärfung des eigenen Krimibegriffs. Und auch wenn ich mich persönlich mit der Gattungsbezeichnung etwas schwertue, freue mich aber über ein Buch, das als Grenzgänger zwischen Country Noir und American Gothic, das Marcus Müntefering in seinem Nachwort zurecht in die Nähe von Polar-Autoren wie J. Todd Scott rückt. Ruhige (Kriminal-)Literatur aus der Einöde Nebraskas!


  • Chris Harding Thornton – Pickard County
  • Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt
  • ISBN 978-3-948392-64-2 (Polar-Verlag)
  • 312 Seiten. Preis: 16,00 €