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Fjodor M. Dostojewski – Weiße Nächte

Vier Nächte lang treffen sich ein Mann und eine Frau in Fjodor M. Dostojewskis Erzählung Weiße Nächte in Sankt Petersburg. Dabei müssen beide feststellen, dass es ganz schön kompliziert sein kann, das mit der Liebe.


Weiße Nächte ist eine kurze Erzählung Fjodor Michailowitsch Dostojewskis, die aus dem Frühwerk des 1821 geborenen Autoren stammt. Der Insel-Verlag hat das Büchlein nun in einer schmucken Neuausgabe in Übersetzung durch Christiane Körner neu aufgelegt, die nicht nur die Übersetzung sondern auch das Nachwort zu Dostojewskis Text beisteuerte.

Kennt man den in Moskau geborenen Autor heute eher für voluminöse Werke wie Die Gebrüder Karamasow, Schuld und Sühne oder Der Spieler, so fällt dieses frühe Werk schon durch seinen schmalen äußeren Rahmen auf. Gerade einmal knapp 110 großzügig gesetzte Seiten weist die Erzählung auf, die auf vielen Seiten von Bildern der Künstlerin Stella Dreis ergänzt wird.

Sommer in Sankt Petersburg

Fjodor M. Dostojewski - Weiße Nächte (Cover)

Wir befinden uns in Sankt Petersburg, das sich als fast menschenleer präsentiert. Aufgrund des anstehenden Sommer haben sich fast alle der Stadtbewohner bereits auf ihre Datschen verabsentiert und so durchstreift der Erzähler alleine die Straßen und hält Zwiesprache mit den Häusern.

Nach eigenem Bekunden ist der Mann ein Flaneur und Träumer, der sich nicht nur in den Straßen, sondern sich ein ums andere Mal auch in seinen Gedanken und Sätzen verheddert.
Bei einem dieser Streifzüge trifft der Erzähler nun auf ein junges Mädchen, das nicht nur aufgrund ihres gelben Hütchens die Neugier des Mannes weckt. Vor allem ihr Schluchzen beschäftigt ihn, weshalb der Träumer den Grund für ihre Traurigkeit erfahren will.

Ein Mann ist es, der für den Zustand des Mädchens verantwortlich ist, wie die junge Frau im Gespräch gesteht. Denn eigentlich steht das Mädchen namens Nastenka unter dem Pantoffel ihrer alten Babuschka. Dies hat sogar so weit geführt, dass die blinde Alte das Mädchen an ihre eigene Kleidung angenäht hat, um eine Annäherung an das andere Geschlecht zu vermeiden. Doch wie es so ist mit den Plänen, so erwies sich auch die Absicht der Babuschka als nicht praktikabel. Denn Nastenka ist in unsterblicher Liebe zu einem jungen Mann aus der über ihr befindlichen Wohnung entbrannt und hat diesem ihre Liebe gestanden.

Liebeswirren in den weißen Nächten

Doch nun wartet sie auf Rückmeldung des Herren in Form eines Briefs und gerät darüber in höchste Erregung. Nicht leichter wird die Situation dadurch, dass der Erzähler zwar verspricht, bei der Kontaktaufnahme mit dem jungen Herren behilflich zu sein, anstelle reiner Nächstenliebe nun aber selber in Liebe zu der jungen Frau entbrennt, derer beider Lebenslinien (beziehungsweise derer drei, den Nebenbuhler eingeschlossen) sich nun in vier Nächten begegnen.

Zwischen Friendzone und unausgesprochenem Begehren mäandert die Handlung des Textes, den Übersetzerin Christiane Körner zurecht eher als Dramentext denn als wirklichen Roman charakterisiert. Denn die Handlung von Weiße Nächte besteht weitestgehend aus Gedanken und Dialogen, die das Gefühlschaos illustrieren, in dem sich Dostojewskis Figuren verfangen haben.

„Bleiben Sie, hören Sie mir zu: können Sie warten?
„Warten? Worauf?“
„Ich liebe ihn; doch das vergeht, das muss vergehen, es kann nicht anders sein; es vergeht schon jetzt, das spüre ich… Wer weiß, vielleicht vergeht es heute schon, weil ich ihn hasse, weil er über mich gelacht hat, während Sie hier zusammen mit mir geweint haben, weil Sie mich nicht abgewiesen hätten wie er, weil Sie mich lieben und mich nie geliebt hat, und schließlich, weil ich Sie liebe… Ja, ich liebe Sie auch! So, wie Sie mich lieben; ich habe es Ihnen ja schon einmal gesagt, Sie haben es selbst gehört – ich liebe Sie, weil Sie besser sind als er, weil Sie edler sind als er, weil er, weil er…“
Die Ärmste war so aufgewühlt, dass sie nicht zu Ende sprach, ihren Kopf auf meine Schulter, dann an meine Brust legte und bitterlich weinte.

Fjodor M. Dostojewski – Weiße Nächte, S. 96

Mit gelungener künstlerischen Ebene

Wer liebt nun wen und wem gilt die wirkliche Sympathie Nastenkas? Aus diesem Chaos in den Sommernächten Sankt Petersburgs strickt Dostojewski einen schon fast hektisch zu nennenden Text, der von den ruhigen Bildern Stella Dreis kontrastiert und ergänzt wird.

Mit fast scherenschnittartigen Silhouetten setzt sie ihre Figuren vor Hintergründe mit Farbverlauf, die so manches Mal an das nordische Spektakel der Polarlichter erinnern. Zuneigung, Einsamkeit und Fantasie, es steckt alles drin in den Bildern der in Bulgarien geborenen Künstlerin, die mit ihrer Arbeit vor zwei Jahren bereits für den renommierten Astrid Lindgren-Bilderbuchpreis nominiert war.

Mit ihrer Arbeit verleiht die Künstlerin dem 1848 erstmals erschienen Text eine Zeitlosigkeit, die Weiße Nächte gut zu Gesicht steht und die das kleine Büchlein vollends zu einem bibliophilen Kunstwerk macht.

Möchte man in den Kosmos Fjodor M. Dostojewskis mal hineinspitzeln oder eine andere Facette des russischen Schriftstellers abseits der bekannten Werke kennenlernen, dann empfiehlt sich die Lektüre von Weiße Nächte unbedingt. Und wer in Liebeswirren verstrickte Charaktere schätzt, für den ist die Lektüre sowieso ein Gewinn!


  • Fjodor M. Dostojewski – Weiße Nächte
  • Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Christiane Körner
  • ISBN 978-3-458-19537-5 (Insel-Bücherei)
  • 117 Seiten. Preis: 15,00 €

Mariette Navarro – Am Grund des Himmels

Endstation Dach. In Mariette Navarros Roman Am Grund des Himmels strandet eine Arbeiterin auf dem Dach ihres Bürogebäudes. Drinnen vermisst sie niemand – aber vermisst sie überhaupt etwas? Einmal mehr schreibt die Französin einen surrealen Roman, der die Arbeitswelt und unser Miteinander in den Blick nimmt – und der doch recht deutlich an den großen Klassiker einer Österreicherin erinnert….


Aus dem Nichts gelang Mariette Navarro und dem herausgebenden Münchner Kunstmann-Verlag im letzten Jahr ein großer Überraschungserfolg mit ihrem Roman Über die See, der von einer ganz besonderen Überfahrt eines Schiffs erzählte. Denn nachdem die Schiffscrew die Kapitänin auf deren Schiff zurückgelassen hat, um eine Schwimmrunde im Ozean einzulegen, kehrt die Besatzung zurück an Bord – hat aber plötzlich ein Mitglied mehr in ihren Reihen. Nicht der einzige surreale Moment der Erzählung, die durch ihre Rätselhaftigkeit viele Leser*innen für sich einnehmen konnte und auch in den sozialen Medien vielfach besprochen wurde.

Mit Am Grund des Himmels liegt nun der zweite Roman der 1980 geborenen Autorin vor, der abermals von Sophie Beese aus dem Französischen übersetzt wurde. Diesmal wendet sich Mariette Navarro der Lebenswelt Büro zu und erzählt schwebend von modernen Arbeitsbedingung und der Vereinzelung am Arbeitsplatz, in der das Individuum trotz seiner Einbindung in komplexe Jobhierarchien und Teamstrukturen so alleine ist wie wohl noch nie zuvor.

Eine Frau auf dem Bürodach

Mariette Navarro - Am Grund des Himmels (Cover)

Ausgangspunkt ist wieder eine dieser ungewöhnlichen Navarro-Ideen. Nach dem Schiff mit seinen ganz eigenen Regeln ist es nun eine Büroangestellte, die der Versuchung einer offenen Dachklappe im Bürogebäude nicht widerstehen konnte. Sie hat sich auf das Dach begeben, doch nun lässt sich die vormals offene Klappe nicht mehr schließen. Und so betrachtet Navarros Heldin Claire das Leben von ganz oben, blickt auf die über sie hinwegziehenden Wolken und Vogelschwärme und bastelt sich aus den übriggebliebenen Folien auf dem Dach eine schützende Hülle, um die Nacht dort oben auf dem Dach zu verbringen, da sie im Gebäude selbst niemand vermisst.

Sie wird sich ihrer eigenen Absonderung und Vereinzelung bewusst, während die Gedanken um sie kreisen wie die Vögel, die den Himmel über ihr Durchpflügen. Der Alltag im Büro, ihre schrittweise Entkapselung von ihrem Tun dort und die unsichtbaren Barrieren sind Thema in ihren Gedanken, die Mariette Navarro auf uns einprasseln lässt.

Eine Frau in Isolation

Dabei weckt die Erzählung über die von allen geschiedene Frau durchaus Erinnerungen an Marlene Haushofers großen Klassiker Die Wand, bei der sich eine Frau ähnlich abgekoppelt von der übrigen Welt wiederfindet. Und auch in Navarros Text ist die unsichtbare Wand ein Thema.

Es stimmt nicht ganz, dass die Mauern, gegen die ich stieß, unsichtbar waren. Manchmal konnte ich sehen, wie sich eine Glasscheibe bildete: Trüb wie eine dünne Eisschicht, kroch sie in mein Sichtfeld und breitete sich dann als einfarbige Fläche vor meinem Gesicht aus. Ich dachte in dem Moment nur, meine Augen wären müde. Oft holte ich dann meine Brille aus der Tasche und putzte sie schnell, aber das änderte nichts. Irgendetwas stimmte nicht. Dann erst wurde mir klar, dass da eine Glasscheibe war, ich prüfte ihre Dicke – ungefähr ein Zentimeter –, ein Rechteck auf Augenhöhe, in dem ich mein Spiegelbild sah, offener Mund, konzentrierter Blick. Ich versuchte mit aller Kraft diese halb transparente Schicht zu durchblicken. Durch das Glas hindurch starrte ich auf den, der weiterredete, lachte und so tat, als hätte er diesen verletzenden Satz gerade eben nicht gesagt, diese noch nicht einmal bewusst geäußerte verächtliche Bemerkung, und ich ließ ihn mir von oben herab Dinge erklären, die ich schon wusste.

Mariette Navarro – Am Grund des Himmels, S. 44

Diese Gedanken und Bewusstseinsströme kontrastiert Mariette Navarro mit einer zweiten Erzählinstanz, einem chorischen Wir bei dem es sich um ein Kollektiv von Claires Kolleg*innen handelt, das im Gegensatz zu Claire in der Büroarbeit seine Sinnerfüllung findet und das damit die Dichotomie von Claire als isolierte Einzelkämpferin und dem arbeitsamen Wir bildet. Immer wieder wechselt Navarro im Lauf des Texts zwischen diesen beiden Instanzen hin und her und verstärkt so den Eindruck des unverstandenen Gegeneinanders.

Viele mögliche Lesarten

Am Grund des Himmels ist trotz dieser nun konkret nacherzählten Motive und Spurenlagen sehr deutungsoffen. Worum geht es in Mariette Navarros Roman?

Reflexion über die Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt? Betrachtungen der sozialen Dynamiken und Ausgrenzungen in Bürogemeinschaften? Hinterfragung der Sinnhaftigkeit moderner Erwerbsarbeit oder eine Bebilderung der These des Soziologen Andreas Reckwitz‘ von der Gesellschaft der Singularitäten? Am Grunde des Himmels ist sehr offen, was eine eigene Deutung und Einordnung des Gelesenen anbelangt.

Und auch ich schwanke in der Bewertung des Gelesenen. Kennt man das Ganze nicht schon von Marlene Haushofer und sie die Erkenntnisse in Sachen Sinnlosigkeit modern Bullshitjobs in Büros nicht etwas auserzählt, ohne an dieser Stelle auch noch auf Melvilles Bartleby den Schreiber als Kronzeugen zitieren zu wollen?

Auf der anderen Seite steht natürlich auch die Surrealität des Ganzen, die Mariette Navarro gelungen einfängt und mithilfe des Bewusstseinsstroms und ihrem chorischen Wir ein schon fast universales Bild der Vereinzelung im immer vernetzter werdenden (Arbeits)Alltag zeichnet.

So oder so: Am Grund des Himmels lädt auf alle Fälle dazu ein, sich selbst Gedanken über das Gelesene zu machen und sich von Mariette Navarro zu Assoziationen und Gedanken über das Arbeiten und die eigene Rolle in der Gemeinschaft hinreißen zu lassen.


  • Mariette Navarro – Am Grund des Himmels
  • Aus dem Französischen von Sophie Beese
  • ISBN 978-3-95614-649-7 (Kunstmann)
  • 160 Seiten. Preis: 22,00 €

Colum McCann – Twist

Schicksale, die wie Kabelstränge verdreht und entdreht werden. Sie flicht Colum McCann in seinem neuen Roman Twist, das die fragilen Verbindungen zwischen Menschen und Nationen besieht und dafür tief abtaucht, bis hinab auf den Meeresgrund.


Mit seinen Romanen hat sich Colum McCann einen Ruf als Autor erschrieben, der sich genau ansieht, was Menschen trennt und sie verbindet. Mal beschäftigte er sich mit der Kluft, die sich zwischen Israelis und Palästinensern auftut und die fast unüberwindlich scheint (Apeirogon), mal lässt er in einem Roman einen Seiltänzer über den Abgrund zwischen den Wolkenkratzern in New York balancieren (Die große Welt).
Im Roman Transatlantik war das Verbindende schon im Titel angelegt, hier schickte er von 1845 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gleich dreimal Menschen zu ganz verschiedenen Zeitpunkten zwischen McCanns Heimat Irland und den USA hin und her.

Nun mit Twist also ein neuer Roman, der abermals das Verbindende besieht. Das Ganze findet diesmal aber nicht wie in Transatlantik über der Erde statt, im aktuellen Roman liegt die Verbindung deutlich tiefer, genauer gesagt am Grunde des Ozeans. Denn dort sind jene Glasfaserkabel verlegt, die das Internet und damit die verschiedenen digitalen Netze zwischen den Kontinenten verbinden.

Das Geheimnis der Tiefseekabel

Einst beschrieb Stefan Zweig in der Erzählung Das erste Wort über den Ozean in seinen Sternstunden der Menschheit den Moment der Verlegung des ersten Telegrammkabels zwischen den USA und Europa. Nun, gut 150 Jahre später seit jener Pionierleistung haben sich zwar die Kabelarten geändert, die Abhängigkeit von jener fragilen Infrastruktur ist aber geblieben, wie nicht nur jüngst die Angriffe der russischen Schattenflotte auf diese Tiefseekabel zeigten.

Das muss auch der recht erfolglose Schriftsteller und Journalist Fennell feststellen, der auf Geheiß seiner Redakteurin den Weg nach Kapstadt antritt, wo er eine Reportage über Conway schreiben soll. Dieser ist auf einem spezialisierten Schiff für die Reparatur dieser Tiefseekabel zuständig und soll im Mittelpunkt von Fennells Reportage stehen, für die er zumindest anfänglich nicht allzu viel Begeisterung aufbringen kann.

Ich interessierte mich nicht für Kabel. Jedenfalls anfangs nicht. In dem einzigen Artikel, den ich am Ende schrieb, hieß es, ein Kabel bliebe so lange ein Kabel, bis es gebrochen sei, danach verwandle es sich, wie wir alle, in etwas anderes.
Eines kalten Herbstnachmittags rief mich Sachini an, meine Redakteurin bei einem Online-Magazin, für das ich gelegentlich arbeitete. Sie sprach in langen, verschlungenen Sätzen. Sie war auf einen Bericht über einen Kabelbruch in Vietnam gestoßen und hatte überrascht herausgefunden, dass beinahe die gesamte interkontinentale Information der Welt durch zerbrechliche Röhren auf dem Meeresgrund floss. Wir anderen glaubten zumeist, dass die Cloud in der Luft beheimatet sei, sagte sie, aber über Satelliten laufe nur ein kleiner Bruchteil des Internetverkehrs. Die im Schlick liegenden Kabel auf dem Meeresgrund seien schneller, billiger und weitaus effektiver. Gelegentlich brächen sie, und verteilt über verschiedene Häfen der Welt gebe es eine kleine Flotte von Schiffen, die dann mit der Reparatur beauftragt würden und oft Monate auf See verbrachten. Sachini fragte, ob ich der Geschichte nachgehen wolle?

Colum McCann – Twist, S. 14

Auf den Spuren einer Nicht-Geschichte

Zunächst allerdings sieht alles eher nach einer Nicht-Geschichte aus. Deutlich interessanter als der widerwillige Kabelexperte scheint Conways Frau Zanele zu sein, die schon kurz nach Fennells Ankunft in Südafrika von dort nach England aufbricht, wo sie mit anderen Schauspielerinnen Becketts Warten auf Godot neuinterpretieren will.

Nicht nur sie wartet im Stück auf jenen Gast, dessen Erscheinen ausbleibt, auch eine berichtenswerte Story in Kapstadt scheint auszubleiben. Ein Schleier der Lethargie legt sich über Fennell, der erst durch einen Felssturz zerrissen wird. Denn jene Verschiebung von Erdmassen wirkt auch unterirdisch fort und beschädigt die Kabel vor der Küste Afrikas und sorgt dort für einen großflächigen Ausfall sämtlicher Kommunikationsstruktur. Und so hat Fennell plötzlich doch eine Geschichte, als er mit an Bord ist, als die Mannschaft ausrückt, um den Schaden zu beheben, der nicht nur die afrikanische Welt zusehends ins Chaos stürzt.

Rätselhafte Menschen, verdrehte Schicksale

Twist ist ein Roman, der drei Menschen ins Zentrum stellt, die alle auf ihre eigene Art und Weise unnahbar bleiben. Da ist Conway, der zu Fennell auf Distanz geht und den der Journalist nicht richtig zu greifen bekommt (worüber der Journalist bis heute grübelt; ein Umstand, über den er uns schon zu Beginn des Romans in Kenntnis setzt).

Aber auch Fennell bleibt konturlos, obschon er uns als Ich-Erzähler an seinen eigenen Abgründen und Schmerzen teilhaben lässt. Und Zanele als dritte im Bunde ist nicht nur durch ihr baldiges Entweichen nach England für Fennell ein faszinierendes Rätsel – auch Conways Schiffscrew scheint der Anziehung der Schauspielerin erlegen zu sein und Teile der Crew haben wie auch Fennell selbst eine Obsession für die enigmatische Frau entwickelt.

Diese drei Figuren bringt Colum McCann in Kapstadt nun zusammen und verdrillt ihre drei Lebenswege zunächst wie die Stränge im Inneren eines isolierten Kabels. Schon kurz darauf aber entdrillt der irische Schriftsteller diese drei Schicksale wieder und isoliert die Figuren zunehmend voneinander. Aus dieser Bewegung der Eng- und dann Fortführung zieht Twist seinen Reiz.

Nachdem der Roman am Ende den titelgebenden Twist auch nicht schuldig bleibt, wird das Buch mit seinen Figuren immer mehr zu einem Rätsel. Denn plötzlich wechselt eine der Figuren die Seiten – und als außenstehender Beobachter steht man wieder vor einem Rätsel, das der Roman nicht auflösen kann und das auch gar nicht will. Mit dieser Verschiebung in der Betrachtung der Figuren und ihr erratisches Verhalten erinnert der Roman an andere, ebenfalls in maritimen Umfeld angesiedelte Romane wie Emma StonexDie Leuchtturmwärter oder Mariette Navarros Über die See, die ebenfalls ein Stück weit auf Uneindeutigkeit und die Ungewissheit setzen.

Fazit

Es liegt etwas leicht Verschobenes, Zwielichthaftes über diesem ganzen Roman, der von unseren Abhängigkeiten und Verstrickungen genauso wie von Einsamkeit erzählt. So etwas muss man mögen – Colum McCann kann es aber auf alle Fälle erzählen, denn der Roman weiß durch die Bildsprache und die Komposition einer Rückschau überzeugen. Trotz des Blicks zurück zweifelt Fennell und wir mit ihm daran, was man da eigentlich gesehen hat. Das macht in meinen Augen den Reiz dieses von Thomas Überhoff ins Deutsche übersetzten Romans aus.


  • Colum McCann – Twist
  • Aus dem Englischen von Thomas Überhoff
  • ISBN 978-3-7632-7672-1 (Büchergilde Gutenberg)
  • 336 Seiten. Preis: 28,00 €

Fien Veldman – Xerox

Selbstgespräche mit dem Drucker, Kontemplation im Kämmerlein. In ihrem Roman Xerox erkundet Fien Veldman die moderne Arbeitswelt und erzählt von einer anonymen Arbeiterin, die beim Höher – Schneller – Weiter der modernen Arbeitswelt nicht mitmachen möchte und sich stattdessen ihre eigene Arbeitsnische sucht. Ein Büroroman im Geiste von Herman Melvilles Bartleby der Schreiber.


Mit seiner Ankündigung sorgte Mark Zuckerberg Anfang des Jahres für Schlagzeilen. Nicht nur, dass er im Geiste Elon Musks Faktenchecks und Moderationen bei Facebook abschaffen möchte, auch sollen fünf Prozent der Mitarbeiter beim Digitalkonzern entlassen werden. Treffen werde es leistungsschwache Arbeitnehmer, mit deren Performance man nicht zufrieden sei, so die Ankündigung des Multimilliardärs.

Damit reiht sich Zuckerberg ein in die Riege des Höher – Schneller – Weiter, das von den Mitarbeitenden mehr Effizienz und Leistung einfordert und damit ganz im Trend der Hochleistungsgesellschaft liegt. Wie es aber aussehen kann, wenn man gar nicht zu den Highperformern zählen möchte, sondern sich lieber mit seinem kleinen Arbeitsplatz und einem überschaubaren Arbeitsanspruch begnügen möchte, das erkundet Fien Veldman in ihrem Roman Xerox.

Einöde im Startup

Sie erzählt von einer anonymen Angestellten, die in einem Startup in einer Stadt mit Grachten ihren Dienst tut. In einem kleinen Kämmerlein sitzt sie, Gesellschaft leistet ihr der Xerox-Drucker, den sie mit Hingabe bedient und der ihr auch als Gesprächspartner dient. Die meiste Zeit verbringt die Angestellte für sich und hat eine Virtuosität in Sachen Erkennung von Papierqualität und Vermeidung von Papierstau entwickelt.

Fien Veldman - Xerox (Cover)

Ab und an soll sie aber auch die Betreuung des Kunden-Postfachs übernehmen und die Anliegen der Schreibenden beantworten – und das alles für den Mindestlohn, von dem auch noch Geld für das Mittagessen einbehalten wird. Motivation sieht anders aus, auch wenn ihr Chef ihr zu verstehen gibt, dass sie und ihre Arbeit gesehen werden.

Die größte Spannung in diesem recht einförmigen (Büro)Alltag bildet da schon ein Paket, das falsch adressiert wurde und dem sie nun neben dem Job durch die Straßen und Häuser in der Stadt hinterherjagt.

Doch dann zeigt sich, dass eines ihrer Selbstgespräche mit dem Drucker eines zu viel war – der Chef wittert Fremdbeschäftigtung und stellt seine Arbeitnehmerin frei, die in Gesprächen mit einem Therapeuten ihr Verhalten aufarbeiten soll. Dabei will sie ja eigentlich nur eines – wieder zurück in ihr Kämmerlein und zurück zum Xerox-Drucker.

Ich möchte einfach meine Briefe ausdrucken und verschicken und dann und wann die Tonerkartuschen austauschen. Ich möchte an meinem Papier fühlen können, ob es für den jeweiligen Tag geeignet ist, wie ich es immer tue. Ich möchte jeden Tag in mein kleines Kämmerlein gehen und dort in Ruhe gelassen werden. Ich möchte morgens meinen Drucker anmachen und seinen Aufwärmgeräuschen lauschen, während in den ersten Schluck Kaffee trinke aus der Tasse, die ich immer benutze und die ich selbst abwaschen, wenn nötig. Ich möchte den Tag mit meinem Gerät verbringen, die Stapel gedruckter Briefe wachsen sehen, ich möchte die Umschläge zählen, sie kategorisieren und in kleinere Stapel aufteilen, Adressetiketten ausdrucken und aufkleben.

Fien Weldman – Xerox, S. 115

Fien Veldman auf den Spuren Herman Melvilles

Xerox erzählt von der Sinnlosigkeit mancher Jobs, die im Kosmos eines Büros aber trotzdem verrichtet werden sollen. Wie die junge Arbeitnehmerin, die es in die Stadt mit den Grachten geschafft hat, jetzt an der Eintönigkeit im Start-Up leidet, sie aber auch sucht, das erinnert schon fast an Franz Kafka und seine Tätigkeit im Versicherungsbüro in Prag.

Doch statt großer Literatur entstehen bei der Arbeitnehmerin Gedanken, die sich zurückbewegen in ihre Kindheit, die wild assoziieren und die sich der Drucker ergeben anhört, ehe dieser zur großen Überraschung auch selbst zu Wort kommt (womit Fien Veldman nebenbei bemerkt auch die literarisch eigenwilligste und herausragendste Annäherung an das Phänomen Papierstau aus ungewöhnlicher Perspektive gelingt).

Vor allem aber erinnert Xerox auch an den Urvater aller Büroromane, nämlich Herman Melvilles Erzählung von Bartleby, dem Schreiber. Dieser versah in einer New Yorker Kanzlei seinen Dienst, ehe er mit der ikonischen Verweigerung I prefer not to sämtliche an ihn herangetragene Arbeit ablehnte und damit sein Umfeld in Verzweiflung und Ratlosigkeit stürzte.

Auf diesen Spuren wandelt Veldman und zeigt ihre Arbeitnehmerin als Rädchen im Getriebe, das gar nicht primär funktionieren, sondern leben will. Damit hätte sie es natürlich auch schwer, würde das Startup Facebook heißen und ihr Chef auf den Namen Mark Zuckerberg hören.

„Ich meine: es gibt Menschen, die sich mit ihrer Umgebung mitbewegen, Menschen die etwas tun. Und es gibt Menschen wie dich. Du kannst ruhig darauf warten, dass sich etwas von sich aus verändert, aber das wird schlichtweg nicht passieren, die Welt wird sich nicht an dich anpassen.“

Fien Veldman – Xerox, S. 135

Fazit

Mit ihrem Debüt Xerox reiht sich Fien Veldman ein in die Reihe von Büroromanen aus niederländischer Feder, wie sie Willem Elsschot oder J. J. Voskuil schrieben. Aber steht Veldmans Buch in der Tradition von Melville und Kafka. Ihr gelingt ein literarisch interessant gestaltetes Porträt einer namenlosen Arbeiterin und deren sanftes Opponieren gegen die anonyme Leistungsgesellschaft.


  • Fien Veldman – Xerox
  • Aus dem Niederländischen von Christina Brunnenkamp
  • ISBN 978-3-446-27952-0 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 23,00 €

Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord

35 Jahre ist eigentlich noch kein Alter für eine Midlifecrisis. Und doch fühlt Henry Preston Standish in sich den Drang, aus seinem geregelten Leben mit Job, Frau und Kind auszubrechen. Und so findet sich der distinguierte Gentleman an Bord der S. S. Arabella wieder, wo es in Herbert Clyde Lewis‚ Roman Gentleman über Bord zu einem verhängnisvollen Zwischenfall kommt.


Als Henry Preston Standish kopfüber in den Pazifischen Ozean fiel, ging am östlichen Horizont gerade die Sonne auf. Das Meer war so still wie eine Lagune, das Wetter so mild und die Brise so sanft, dass man nicht umhinkam, sich auf wunderbare Art traurig zu fühlen. In diesem Teil des Pazifiks vollzog sich der Sonnenaufgang ohne großes Tamtam: Die Sonne setzte lediglich ihre orangefarbene Kuppel auf den fernen Saum des großen Kreises und schob sich langsam, aber beständig nach oben, bis die matten Sterne mehr als genug Zeit hatten, mit der Nacht zu verblassen.

Tatsächlich dachte Standish gerade über den gewaltigen Unterschied zwischen dem Sonnenaufgang und dem Sonnenuntergang nach, als er den unglücklich Schritt machte, der ihn in die See beförderte.

Was für ein Auftakt für diesen Roman, der nach seinem Erscheinen 1937 nun erstmals auf Deutsch zu entdecken ist. Von Honolulu auf Hawai bis nach Panama soll die Reise führen, zu der sich Henry Preston Standish berufen fühlt.

Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord, S. 13

Ein Mann in der Midlifecrises – und im Pazifik

Herbert Clyde Lewis - Gentleman über Bord (Cover)

Eigentlich führt er eine Bilderbuchexistenz, wie sie sich viele andere Menschen nicht nur in den Dreißiger Jahren in Amerika erträumten. Als Eigner einer Börsenmaklerfirma muss er sich um sein Auskommen keinerlei Gedanken machen. Seine Frau Olivia hat er drei Monate nach dem Kennenlernen geheiratet und zusammen mit ihr zwei Kinder. Man lebt in einer Vierzimmerwohnung am Central Park und hat sich sehr komfortabel eingerichtet im begüterten Leben dort in New York.

Und doch ist da diese Leere in ihm, die er nun nach sieben Jahren Ehe mit der Schiffsreise von Hawai bis zum Panamakanal füllen möchte.

Viele Tage an Bord der Arabella, in Gesellschaft einer kleinen Reisegruppe und einer ebenso handverlesenen Besatzung, so sieht es der Plan eigentlich vor. Doch dann ist dann ist es ausgerechnet ein Ölfleck, der das Unglück auslöst, das Standish mitten hinein in den Pazifik befördert. In einer schon fast slapstickhaften Nummer rutscht Standish in dieser Öllache aus, als wäre es eine Bananenschale. Er fasst nicht mehr Tritt und so heißt es schon auf den ersten Seiten des Buchs Gentleman über Bord.

Gentleman über Bord

Männer vom Schlage Henry Preston Standishs stürzten nicht einfach so von einem Schiff mitten in den Ozean. So etwas machte man schlichtweg nicht, das war alles. Es war eine blöde, kindische, ungezogene Tat, und wenn Standish jemanden hätte um Verzeihung bitten können, dann hätte er es getan. Die Leute daheim in New York wussten, dass Standish ein ausgeglichener Typ war. Seine Erziehung und Ausbildung hatten die Ausgeglichenheit hervorgehoben. Selbst als Heranwachsender hatte Standish immer das Richtige getan. Weit entfernt davon, blasiert zu sein oder einen Kult mit Umgangsformen zu treiben, war Standish wahrhaft ein Gentleman von der guten, unaufdringlichen Sorte.

Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord, S. 29

Eigentlich ist er geneigt, sich für die Umstände entschuldigen zu wollen und wagt es zunächst beschämt gar nicht, laut nach Hilfe zu rufen, allzu unschicklich ist dieser Vorfall für ihn. Doch als sich das Schiff unaufhaltsam vom wassertretenden Standish entfernt, muss er doch nach Hilfe rufen.

Diese bleibt allerdings aus, denn außer Standish befand sich zum Zeitpunkt des Unglücks niemand an Deck. Und auch in der Folge wird der Gang über Bord nicht bemerkt werden, wie Herbert Clyde Lewis ausführlich zu schildern weiß. Es kommt zu einer unglücklichen Verkettung von Umständen, durch die weder beim Frühstück noch im Laufe des Tages das Fernbleiben des Gentleman auffällt. Verwechslungen, unglückliches Timing und schlichtes Pech sorgt dafür, dass die Arabella weiterhin Kurs auf Panama hält, während Standish im Wasser des Ozeans tritt.

Dies entwickelt sich für den Börsenmakler erst langsam zum Problem. Denn eigentlich ist das Wasser von einer angenehmen Temperatur, Haie gibt es in diesen Breiten nicht – und so schaukelt Standish auf den Wellen und sinnt über sein Leben und das Unglück an Bord der Arabella nach. Doch je weiter der Roman voranschreitet, umso prekärer wird die Lage. Ob man auf dem Schiff die Abwesenheit des Mannes noch rechtzeitig bemerkt?

Viele Gefühle auf kleinstem Raum

Herbert Clyde Lewis hat mit Gentleman über Bord einen Roman geschrieben, der auf allerkleinstem Raum spielt. Es sind gerade einmal zehn Kapitel, die die etwas mehr als hundertfünfzig Seiten gliedern, die außer dem Schiff Arabella und dem im Meer treibendenden Standish keinen Schauplatz bieten. Den minimalen Raum weiß Lewis aber zu nutzen, indem er seinen Protagonisten und mit ihm auch uns alle Gefühlsregungen durchlaufen lässt. Melancholie, Trauer, Komik, Verlustängste – all das steckt in den Seiten von Gentleman über Bord.

Jochen Schimmang zeichnet in seinem Nachwort das Leben von Herbert Clyde Lewis nach, der 1909 als Sohn russisch-jüdischer Migranten in Brooklyn zur Welt kam und dem zeitlebens ein ähnliches Pech als Schriftsteller wie seinem Gentleman im Pazifik beschieden war. Er musste sich abstrampeln und von Job zu Job hangeln, Drehbücher verfassen – und geblieben ist ihm ebenso wenig, wie von Standish dort in den Weiten des Ozeans. Mit gerade einmal 41 Jahren starb Herbert Clyde Lewis. Umso schöner, dass ihm nun 73 Jahre nach seinem Tod im Jahr 1950 postum die Ehre einer Wiederentdeckung zuteil wird.

Fazit

Ein großartiges Büchlein, in dem man gerne versinkt wie Standish in den Weiten des Pazifiks. Das ist Literatur, mit der man keinesfalls Schiffbruch erleidet!


  • Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord
  • Aus dem Englischen von Klaus Bonn
  • Mit einem Nachwort von Jochen Schimmang
  • ISBN 978-3-86648-696-6 (Mare)
  • 176 Seiten. Preis: 28,00 €