Tag Archives: Familie

Tammy Armstrong – Pearly Everlasting

Es ist ein ungewöhnliches Paar, das im Mittelpunkt des Romans der kanadischen Autorin Tammy Armstrong steht. In Pearly Everlasting erzählt sie von der Bindung der jungen Pearly zu ihrem „Bruder“ Bruno. Ein menschlicher Bruder ist es aber nicht, vielmehr handelt es sich um einen Bär, für dessen Wohl das junge Mädchen einen hohen Preis zu zahlen bereit ist.


Wir schreiben das Jahr 1934. In den Wäldern Kanadas lebt die nach der Silberimmortelle benannte Pearly zusammen mit ihrer Familie in einem Holzfällerlager, das so archaisch wirkt, dass es auch hundert oder zweihundert Jahre früher sein könnte. Als Koch versorgt Pearlys Vater Ansell die Truppe des Camp 33 unter ihrem zwielichtigen Anführer Swickers mit Essen, während Pearly zusammen mit ihrer Schwester und Mutter geborgen in den wilden Wäldern aufwächst.

Flößer und Holzfäller versehen ihre kraftraubende Arbeit, bei der auch immer wieder Menschen sterben. Während die Holzfäller vom Geist Old Jack fabulieren, der in den Wäldern hausen soll und sich seine Opfer sucht, lebt Pearlys Familie ihr einfaches, aber erfüllendes Leben in einer der Holzhütten. Insbesondere ein weiteres, ganz besonderes Familienmitglied sorgt dabei im Camp für Aufsehen und Chaos. Denn Bruno, den Pearly ihren Bruder nennt, ist ein Bärenjunges.

Eine bärige Lektüre

Schreiend, zahnlos und blind, so kam Bruno in die schwere Wolljacke meines Vaters gewickelt ins Camp. Und von dem Augenblick an, als mein Vater ihn neben mich in den Weidenkorb legte, suchte Bruno meine Nähe. Es wäre zu grausam gewesen, ein solches verwaistes Geschöpf einfach verhungern zu lassen, sagte mein Vater. Meine Schwester Ivy tanzte um ihn herum und bettelte, er möge Bruno in ihre Hände legen. Und die Waldarbeiter kamen scheu herein und hofften, mit ihren groben Knöcheln über seinen Kopf streicheln zu dürfen.

Also wiegte Mama uns beide auf ihrem Schaukelstuhl mit der Korblehen. Neben ihr flackerte die Flamme der Petroleumlampe im Windzug und warf lange Zerrschatten an die rauen Wände. Und in diesem Stuhl stillte sie uns beide und sagte: „Das hier ist dein Bruder, und das hier ist deine Schwester“.

Tammy Armstrong – Pearly Everlasting, S. 15

Doch dann kommt es zu einer vielfachen Tragödie dort im Waldarbeiterlager. Pearlys Mutter und Schwester Ivy sterben, der Vorarbeiter Swickers wird ermordet, tatverdächtig ist Bruno – und dieser ist dann auch noch aus dem Camp 33 verschwunden.

Pearly Everlasting auf den Spuren ihres Bärenbruders

Tammy Armstrong - Pearly Everlasting (Cover)

So macht sich Pearly nun daran, die Spur ihres Bärenbruders aufzunehmen, um ihn wieder nach Hause zu bringen. Sie bricht überstürzt in die Wildnis auf, um Witterung ihres Bärenbruders aufzunehmen. Ihr Vater, der in den entscheidenden Stunden nicht anwesend war, macht sich nach seiner Heimkehr ins Camp wiederum daran, Pearly und bestenfalls auch Bruno aufzuspüren.

Und so beginnt nun eine doppelte Suche: die von Pearly nach Bruno und die ihres Vaters nach seiner Kindern. Es ist eine Suche, die die Figuren weit voneinander entfernen wird, alle drei durch halb Kanada führen wird und die sie in Kontakt mit Elefanten, gefährlichen Bären und ebenso gefährlichen Menschen bringen wird.

Pearly Everlasting ist das, was man gemeinhin mit der Binse atmosphärisch dicht erschlägt. Die kanadische Natur in all ihrer Rauheit ist hier ein eindrucksvoll eingefangener Spielpartner von Pearly und Bruno. Die beißende Kälte im Holzfällercamp und das gefährliche Tun der Flößer und Fäller, die schon fast magisch wirkende Stimmung in den Wäldern, in den möglicherweise der Geist des Old Jack umgeht oder die Kontakte und Bekanntschaften, die Pearlys Vater auf seiner Suche nach seiner Tochter und Bruno schließt. Überall hier kommt Tammy Armstrongs Talent für Atmosphäre und eindrückliche Beschreibungen zum Tragen (formidabel aus dem kanadischen Englisch von Peter Torberg ins Deutsche übersetzt).

Fazit

Nach Clara Arnauds Im Tal der Bärin ist Pearly Everlasting schon der zweite Roman in diesem Literaturjahr, der sich literarisch dem Spannungsverhältnis von Bär und Mensch verschreibt. Und ebenso gerne wie das Buch der Französin möchte ich auch Tammy Armstrongs Roman empfehlen, der mit seiner Mischung aus Nature Writing, Entwicklungsroman und Abenteuerroman á la Jack London eine gelungene literarische Mischung darstellt.


  • Tammy Armstrong – Pearly Everlasting
  • Aus dem kanadischen Englischen von Peter Torberg
  • ISBN 978-3-257-07339-3 (Diogenes)
  • 368 Seiten: Preis: 25,00 €
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Kerstin Holzer – Thomas Mann macht Ferien

Thomas Mann-Festwochen allerorten. Gefühlt im Wochentakt bringen die Verlage derzeit Publikationen auf den Markt, um den Jubilar, der in diesem Jahr seinen 150. Ehrentag hätte feiern können, zu würdigen. Kerstin Holzers Sachbuch Thomas Mann macht Ferien fügt sich nun in diese Reihe ein und erkundet die Lebenswelt des 1918 am Tegernsee urlaubenden Großschriftstellers. Dabei macht das Buch nichts falsch, überzeugt aber dennoch auch nicht wirklich.


Per Boot über den Tegernsee, dann weiter zum Bauerndorf Abwinkl und von dort noch einmal ein ganzes Stück entfernt auf einen einsam gelegenen Bauernhof, so sah der Reiseweg aus, den Thomas Manns Familie im Jahr 1918 zurücklegte, um dort in der Natur Oberbayerns die Sommerfrische zu verbringen. Während der Große Krieg zwar vorüber war, waren die Folgen des Kriegs auch auf dem Land noch zu spüren, wo sich die Familie im Anwesen der sogenannten Defregger Villa einmietete. Man litt Mangel – und dennoch wollte man sich die Ferien nicht vermiesen lassen, wie Kerstin Holzer in ihrem Buch schreibt.

Holzer, die schon mit Büchern über die Mann-Töchter Elisabeth Mann Borghese und jüngst über Monika Mann und ihr Leben auf Capri hervortrat (Monascella), nimmt sich nun eine kleine biographische Vignette aus dem Leben der Familie vor, um anhand dieser vom Schreiben und Leben Thomas Manns und dem Leben der Münchner Intellektuellen dort am Tegernsee zu schreiben.

Am Wasser sein, da ist das Glück. Hier am Tegernsee führen die Wege am Ufer entlang, entweder nach rechts um die Buch des Ringsees bis nach Rottach-Egern oder noch weiter zum Hauptort Tegernsee, das ist immerhin eine Stunde durch hohe Schilfwälder und an sandigen Buchten vorbei – dort gibt es tatsächlich Sand wie am geliebten Meer, wenn auch weniger fein.

Kerstin Holzer – Thomas Mann macht Ferien, S. 39

Thomas Mann am Tegernsee

Kerstin Holzer - Thomas Mann macht Ferien (Cover)

Während Mann der Veröffentlichung seines kämpferischen Werks Betrachtungen eines Unpolitischen entgegenbangt, dessen Thesen sich durch die Niederlage Deutschlands im Kriegs schon wieder in Teilen revidiert haben, wandert er in langen Spaziergängen im Tegernseer Tal, an seiner Seite der Hund Bauschan, dem er mit Herr und Hund einen ganzen Text widmet, der während seines Aufenthalts dort im Sommer 1918 entsteht.

Die fünfköpfige Familie, die sich schon bald nach dem sommerlichen Aufenthalt noch einmal vergrößern wird, andere Intellektuelle, die es der Familie Mann gleichtun und ins Tegernseer Tal strömen, dazu noch Auszüge aus den Erinnerungen Manns oder Katja Manns Mutter Hedwig von Pringsheim, sie bilden die Themen dieses Romans, das sich in einigen kurzen Kapiteln der Mann’schen Familiengeschichte widmet und vom Urlauben erzählt, das damals noch Sommerfrische hieß.

Trotz der angenehmen Erzählweise und der lokalen Verbundenheit meinerseits zum Erzählobjekt und Ort blieb für mich nach der raschen Lektüre von Thomas Mann macht Ferien allerdings der Eindruck eines schönen Soufflés, welches ich gerade konsumiert hatte. Natürlich ist das Buch in lokalem bayerischen Bezug durchaus interessant und die Familie von Thomas Mann ebenso – neue Einsichten bietet das Buch mit seiner aus vielen Quellen gespeisten Erzählweise aber nicht unbedingt.

Mann als Erzählgegenstand schon gut auserzählt

Vielleicht ist für mich im allgemeinen Mann-Rausch, in dem fast im Wochentakt Biografien (von Volker Weidermann bis Hans Wißkirchen), neue Romane (von Matthias Lohre bis hin zu Krimis über (Drei ???) oder mit Thomas Mann) und feuilletonistische Betrachtungen erscheinen, auch einfach der Punkt gekommen, an dem ich für mich konstatieren muss, mit Thomas Mann als Erzählgegenstand vielleicht etwas übersättigt zu sein. Persönlich würde ich sagen, dass die Mann-Mania ihren Höhepunkt überschritten hat. Von solch subjektiven Widerständen abgesehen finde ich auch in Holzers Buch für sich genommen nicht viel, das sich mir nach der Lektüre tiefer ins literarische Gedächtnis eingeschrieben hätte.

Anders als zum Beispiel Uwe Wittstocks Literaturgeschichte über die Flucht der Intellektuellen nach Marseille 1940 oder Martin Mittelmeiers Exilgeschichte Heimweh im Paradies über Thomas Mann in Kalifornien fehlen dem Buch über das Buch hinausweisende Aspekte, obschon Kerstin Holzer mit aktuellen Kampfbegriffen wie der Kulturellen Aneignung oder der Lügenpresse in ihrem Text hantiert.

Leider aber bietet die Autorin in ihrem Buch neben der Recherche-Fleißarbeit nicht viel mehr Punkte auf, die Dirk Heißerer nicht schon zwanzig Jahre zuvor in seinem Buch Im Zaubergarten – Thomas Mann in Bayern analysiert und vorgestellt hätte. Der komplizierte Thomas Mann, die Großfamilie mit ihren so unterschiedlichen Persönlichkeiten, Leben und Werk, die Bindung zu Bayern – es ist eben doch schon recht gut erforscht und noch ausführlicher erzählt worden.

Fazit

Gewiss, Thomas Mann macht Ferien ist ein gut lesbares Buch, kurzweilig, unterhaltsam, kurzum: ein kleines Bonbon in Sachen Mann-Mania. Mir aber geht es da in etwa so wie mit dem per KI-Kunst generiertem Cover: es sieht nett aus, bei näherer Betrachtung bleibt dann aber nicht mehr viel übrig vom Kunstgenuss und dem Gehalt dieses erzählendem Sachbuch.


  • Kerstin Holzer – Thomas Mann macht Ferien
  • ISBN 978-3-462-00671-1 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Charlotte McConaghy – Die Rettung

Unter wir singen im Saatgutschutzbunker – Hurra, diese Welt geht unter! In ihrem neuen Roman erzählt Charlotte McConaghy von einem Vater und seinen drei Kindern, die auf einer Insel zwischen Antarktis und Australien ausharren, um den dort befindlichen Bunker mit Saatgut zu beaufsichtigen. Doch dann wirbelt die Ankunft einer rätselhaften Frau die etablierte Ordnung gehörig durcheinander und man muss feststellen, dass hier nicht nur die Kräfte der Natur die intakte Ordnung des Eilands bedrohen. Kann sie gelingen für McConaghys Figuren gelingen, Die Rettung?


Macquarie Island ist eine Insel, die sich auf halber Strecke zwischen Tasmanien und der Antarktis befindet. 34 Kilometer lang und gerade einmal fünf Kilometer breit ist die Insel eine Heimstatt für Pinguine, Robben und Seevögel. Doch dem war nicht immer so. Denn zur Zeit des Walfangs wurden die Populationen an Pinguinen und See-Elefanten dezimiert, der Bestand an Seebären wurde komplett ausgelöscht.

Die Eingriffe der Menschen brachten das ökologische Gleichgewicht aus dem Takt und noch heute kann man Spuren des tödlichen Treibens dort auf Macquarie Island finden, wie Charlotte McConaghy im Nachwort zu ihrem Roman Die Rettung schreibt.

Die Insel am Rande der Welt

In ihrem Buch trägt das Eiland den Namen Shearwater Island, basiert aber – von kleinen künstlerischen Freiheiten abgesehen – hauptsächlich auf dem wirklichen Vorbild. Nur ist es in ihrem Roman an den Menschen, für den Fortbestand des ökologischen Gleichgewichts zu sorgen. Denn Shearwater Island beheimatet einen Schutzbunker für Saatgut, in dem alle wichtigen Samen aufbewahrt werden, um dem Schwinden der Biodiversität entgegenzuwirken.

Der Shearwater Global Seed Vault, der Saatgutbunker auf unserer Insel, wurde dazu konstruiert, allem standzuhalten, was die Welt gegen ihn aufbietet; er soll die Menschheit überdauern, bis weit in eine Zukunft, in der unserer Nahrungsgrundlage möglicherweise neu angepflanzt werden muss. Größtenteils kleine Körnchen. Winzig schwarze Pünktchen, mehr nicht. Der Schatz, den wir hier tief unter der Erde aufbewahren, am absoluten Arsch der Welt. Die letzte Hoffnung der jeweiligen Arten – und zugleich unsere.

Charlotte McConaghy – Die Rettung, S. 19

Mit der Betreuung des Bunkers und der Insel in toto betraut sind Dominic und seine drei Kinder Orly, Raff und Fen. Vor acht Jahren ist er mit ihnen auf Shearwater Island gezogen und bewohnt dort den inseleigenen Leuchtturm. Alle haben sich eingerichtet im gemeinsamen Alltag, der durch einen besonderen Fund aus dem Takt gebracht wird.

Die Fremde aus dem Meer

Charlotte McConaghy - Die Rettung (Cover)

Die meeresverbundene Fen zieht bei einem ihrer Ausflüge ins tosende Meer ein ganz besonderes Treibgut aus dem Wasser. Es handelt sich um eine Frau, die die junge Frau schwerverletzt aus dem Wasser birgt und anschließend mit ihrer Familie pflegt. Rowan, so ihr Name, entpuppt sich als harte Nuss für Dominic, der seine liebe Not hat, die Frau zu durchschauen. Vor allem ihr eigentliches Vorhaben beunruhigt den Bunkerbewacher. Denn sie ist auf der Suche nach ihrem Mann, der ein Kollege von Dominic war, dann aber spurlos auf – oder von Shearwater Island verschwand.

Was ist Realität, wem ist zu trauen, wer hütet welches Geheimnis auf der Insel? Die Rettung lebt von der untergründigen Spannung und den vielen Perspektivwechseln, die Charlotte McConaghy in ihren Text einwebt. Das wahre Anliegen Rowans, das Verschwinden ihres Mannes und die möglichen Geheimnisse von Dominic und seinen Kindern, all diese Themen prallen aufeinander, während das Meer gegen die Insel anbrandet und der Verfall der Insel nach einem Stromausfall immer rasanter voranzuschreiten scheint.

Sezierte Lawrence Osborne in seinem Roman Welch schöne Tiere wir sind das Auseinanderdriften einer etablierten Beziehung nach dem Auffinden eines aus dem Meer angespülten Menschen auf der griechischen Insel Hydra, so führt McConaghy dieses Thema fort, indem sie um diese Dynamiken nach der Ankunft eines Gastes auch noch die Unklarheit über den Zustand der Welt fernab von Shearwater Island in den Text webt. Ist die Rettung von außerhalb überhaupt möglich, oder existiert die Welt außerhalb der Insel gar nicht mehr wirklich? Aus der diffusen Lage und der unsicheren Weltlage zieht dieser Roman zusätzliche Spannung.

Fazit

So ist auch Die Rettung wie schon ihre Romane Zugvögel und Wo die Wölfe sind ein Text, der sich neben zwischenmenschlichen Problemen auch mit der Fragilität unserer Daseins und dem ebenso fragilen ökologischen Gleichgewicht auseinandersetzt.

Die auf der Insel gehüteten Geheimnisse sorgen für Spannung, der Blick mit den verschiedenen Figuren aufs Geschehen für Abwechslung. So sollte auch diesem Roman wieder viel Erfolg beschieden sein, sensibilisiert Die Rettung neben aller Unterhaltung auch für Fragen des Schutzes unseres Planeten, die sonst viel zu oft ins Hintertreffen geraten.


  • Charlotte McConaghy – Die Rettung
  • Aus dem Englischen von Jan Schönherr
  • ISBN 978-3-10-397683-0 (S. Fischer)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €
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Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude

Letzte Ausfahrt HomeMarket. In seinem neuen Roman Der Kaiser der Freude lässt Ocean Vuong einen jungen Amerikaner mit vietnamesischen Wurzeln im Nirgendwo stranden. Ein Diner wird zu seinem neuen Lebensmittelpunkt. Zudem findet er in der baltischen Weltkriegsüberlebenden Grazina eine verwandte Seele, die zusammen ein ungewöhnliches, aber hochfunktionales Gespann ergeben, um sich dem (Über)Leben zu stellen.


Mit bemerkenswert hohem Ton nimmt uns Ocean Vuong auf den ersten Seiten seines neuen Romans mit in eine Stadt, die so durchschnittlich wie hoffnungslos ist.

Es ist eine Stadt, in der sich Highschool-Kids, die Freitagabend nirgendwo hinkönnen, mit den Pick-Ups ihrer Stiefväter in die unbeleuchteten Ecken des Walmart-Parkplatzes verdrücken, aus Poland-Spring-Flaschen Smirnoff trinken und sich mit Weezer und Lil Wayne bedröhnen, bis sie eins Tages nach unten schauen, ein Baby in den Armen halten und sich klarmachen, dass sie in ihren Dreißigern sind und der Walmart sich nicht verändert hat, bis auf das Logo, das mittlerweile heller ist und ihren von den Jahren hager gewordenen Gesichtern einen bläulichen Schimmer verleiht.

Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude, S. 14

Hier kommt man nicht wirklich weg – außer durch den Tod. Ebenjenen sucht auch der junge Hai, der zu Beginn der Romanhandlung durch einen Suizid der Trostlosigkeit der Stadt und der eigenen Existenz entkommen will. Doch damit ist es nicht weit her (und der Roman hätte es höchstwahrscheinlich auch nicht auf den Umfang von über 500 Seiten gebracht). Denn bevor er sich von einer Brücke in den Tod stürzen kann, wird der junge Mann in Ocean Vuongs Roman gerettet.

Hai und Grazina

Ocean Vuong - Der Kaiser der Freude (Cover)

Sein Schutzengel ist über 80 Jahre alt, stammt aus dem Baltikum und ist dement. Diese Fakten über seine Retterin offenbaren sich Hai allerdings erst, nachdem diese ihn von der Brücke heruntergerufen hat. Denn eines kann die alte Dame auf gar keinen Fall brauchen – noch mehr Geister in ihrem Zuhause, so lässt sie es den jungen Hai wissen.

In der Folge schlüpft dieser in Grazinas – so der Name der Frau – Haus unter und freundet sich mit der betagten Dame an, die Hai aus einem akustischen Missverständnis heraus auf den litauischen Namen Labas tauft, schließlich bedeutet dieser Name in ihrer Muttersprache Hallo, also so viel wie Hi, das sie bei dessen Vorstellungen verstanden hat.

Doch nicht nur, dass Grazina Litauisch beherrscht, auch kennt sie eigenwillige Methoden, um die Dämonen und schlechten Gedanken auszutreiben. Zerstampfte Brötchen im Regen sind nur ein Ausdruck einer eigenwilligen Kur, der sich die beiden Figuren gegenseitig unterziehen. Denn allmählich kippt in Vuongs Roman das Betreuungsverhältnis, als sich Grazinas Demenz immer stärker zu Wort meldet.

Hai besorgt sich einen Job im trostlosen HomeMarket einen Job und arbeitet bei Mindestlohn Seite an Seite seines Cousins Sony Fertignahrung aufzuwärmen. Zusammen mit anderen Außenseitern erwärmen sie Nahrungsbeutel und servieren Hühnchen vom Grill – und das oftmals im Akkord. Zur Entspannung dienen ihm die Lektüren, die er in Grazinas Haus findet und ganze Bingesession der Serie The Office.

Als Grazina immer öfter den Bezug zur Realität verliert und die Erinnerungen aus der Kriegszeit wieder ans Tageslicht steigen, denkt sich Hai fantasievolle Spiele aus, um für Grazina eine eigene Welt zu erschaffen, während er selbst Mühe damit hat, seiner Mutter gegenüber ebenfalls eine Scharade aufzuführen. Denn diese wähnt ihren Sohn mitten im Medizinstudium anstelle in der Küche eines Franchiseunternehmens im Nirgendwo, wo Hoffnungen und Aufstiegsversprechen nicht existieren. Und so versucht Hai mit falschen Fassaden für die Menschen um ihn herum den Anschein von Normalität aufrecht zu erhalten.

Ein Roman wie das Essen im HomeMarket

Mit dem Roman ist es ein bisschen so wie mit dem Essen, das Hai, Sony und Konsorten im HomeMarket kochen. Auf den ersten Blick sieht es appetitlich aus, macht satt – aber hohe Kochkunst ist es nicht. So ist auch der Nährwert dieses Buchs nicht unbedingt der beste. Gewiss, sprachlich ist Der Kaiser der Freude weitestgehend solide (Übersetzung durch Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl), obgleich die immer mal wieder eingeschobenen Pathosbröckchen in Form von überladenen und manchmal auch schiefen Bildern im Erzählfluss etwas irritieren:

Er trieb in einem benommenen Schockzustand dahin. In der Stille, die wie auf eine Überschwemmung zu folgen schien, beschworen Vogelrufe das schwindende Licht. Er spürte eine Veränderung, und als er einen Blick über die Highway-Böschung war, sah er flüchtig die neuen Knospen, die an Sträuchern entlang des Flussufers sprossen, während sich unter ihm das von Lichtscherben gesprenkelte Tal dahinwälzte. Ein rosafarbener Konfettischauer strudelte, in einen Wirbel der Strömung eingebettet, fort – Überreste der Kirschblüten, die eine Meile weiter flussaufwärts, am 9/11-Memorial an der Interstate 91, von einem Nordwind zerpflückt worden waren.

Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude, S. 509

Lässt der Umfang des Buchs auf einen Great American Novel hoffen, worauf auch das virtuose erste Kapitel hinweist, so stellt sich hier bald Ernüchterung ein. Viele Versprechen, die Der Kaiser der Freuden gibt, löst das Buch in meinen Augen nur bedingt ein.

Kein Great American Novel

Gewiss, Vuongs Roman blickt auf die Figuren und Orte, die in solch voluminösen Romanen sonst selten vorkommen. Auch finden sich Spuren von Gesellschaftskritik in dem Buch. Aber viel Neues oder Überraschendes erfährt man weder über das Amerika der Gegenwart, noch über die Perspektive von Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Amerika.

Es sind Binsen, die das Buch bestätigt: Menschen wie Hai sind Außenseiter, erfahren Rassismus und müssen härter arbeiten als andere Bevölkerungsschichten. Aber auch trotz krasser Szenen wie einer Episode in einem Schlachthaus bleibt Ocean Vuong mit den erzählerischen Mitteln und den Themen, die er hier setzt, zumindest hinter meinen Erwartungen zurück. Will man das Buch als Kommentar auf die die Lage Amerikas lesen, so gibt diese Lesart nicht viel her. Es ist allein die Geschichte einer ungleichen Freundschaft zwischen den Außenseitern Grazina und Hai, die Vuong am meisten beschäftigt.

Wo sich Auf Erden sind wir kurz grandios radikal mit der eigenen Identität und damit auch Herkunft und Sexualität auseinandersetzte, ist Der Kaiser der Freude zwar deutlich länger, aber auch deutlich zahmer geraten. Natürlich umkreist das Buch auch die Frage von Homosexualität, Drogenmissbrauch und enttäuschte Hoffnungen der Eltern. Aber die erzählerische Radikalität und Tiefenbohrung des vorherigen Buchs lässt Ocean Vuongs neuester Streich leider vermissen, sodass das Buch in meinen Augen hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.


  • Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude
  • Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-28274-2 (Hanser)
  • 528 Seiten. Preis: 27,00 €
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Ewan Morrison – Überleben ist alles

Wem kann man noch glauben, wenn eine Pandemie die ganze Welt überzieht? Der Schotte Ewan Morrison lässt in seinem Buch Überleben ist alles ein pubertäres Mädchen zwischen der Weltsicht ihres verschwörungsgläubigen Vater und dem Misstrauen gegenüber ebenjener Perspektive taumeln. Herrscht da draußen wirklich eine allumfassende Pandemie oder hat sich die kleine Gemeinschaft, in die er seine Kinder gebracht hat, in einer eigenen Blase aus Paranoia eingeigelt? Sein Buch ist Familiendrama und Binnenschilderung einer Prepper-Community zugleich.


Die Coronapandemie der vergangenen Jahre hat eine verstärkte Risikovorsorge und ein wachsendes Bewusstsein für die Fragilität unserer Infrastruktur geschaffen. Während hierzulande alte Bunker auf ihren Funktionsgrad überprüft werden und reiche Menschen diese Rückzugsorte für sich entdecken (wovon zuletzt der Spanier Isaac Rosa in seinem Roman erzählte), erfreuen sich auf dem Buchmarkt literarische Illustrationen von Katastrophen wie etwa Marc Elsbergs Blackout großer Beliebtheit. Aufmerksam werden Äußerungen des Bundesamtes für Katastrophenschutz und Bevölkerungsschutz nachverfolgt – was an sich ja eine vernünftige und umsichtige Grundhaltung ist.

Was aber, wenn vernünftige Vorsorge und Risikomanagement ins Übertriebene kippt? Was, wenn die Angst vor einem potentiellen Stromausfall zur dominanten Angst und der Schutz davor zur Obsession wird? Dann ist man schnell im Prepper-Milieu, in dem sich auch der Vater von Haley in Ewan Morrisons Roman Überleben ist alles umtut.

Rückzug in die Berge Schottlands

Ewan Morrison - Überleben ist alles (Cover)

Er hat sich in einem abgelegenen Landstrich in Schottland einen gesicherten Rückzugsort geschaffen, wo er sich mit Mitstreiter*innen auf den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung vorbereitet und vielerlei Maßnahmen ergriffen hat, um überleben zu können, wenn der Rest der Menschheit von einem Virus befallen wird. Denn das die nächste Pandemie nur eine Frage der Zeit ist, das steht für ihn sicher fest, und so will er vorbereitet sein.

Was als sein Spleen durchgehen könnte und niemanden dort im bergigen Hinterland stören würde, wird allerdings schon auf den ersten Seiten des Romans zum Problem. Denn der in Scheidung lebende Mann entführt kurzerhand seine beiden Kinder, wie uns seine Tochter Haley schon auf den ersten Seiten erzählt, dargebracht im ironisierten Tonfall eines Ratgebers.

Plan A

Wie man die eigenen Kinder entführt

Willst du am Tag eins einer vermuteten Pandemie deiner Exfrau die eigenen Kinder entführen, benötigst du Folgendes:

  1. Ein robustes Geländefahrzeug, voll aufgetankt, mit Extra-Kraftstoffkanistern.
  2. Eine gut geplante und vorher getestete Route, auf der man sich schnellstmöglich aus dem Staub machen kann.
  3. Eine ausgefeilte Lügengeschichte, um vom eigentlichen Vorhaben abzulenken.
  4. Superpraktisch ist auch, die Entführung in die Nacht zu legen, in der die Kinder sowieso bei dir sind.

Das alles hatte sich mein Dad ausgedacht, der auch der Autor eines eigenen, recht bombastisch mit ÜBERLEBEN betitelten Survival-Guides zur Pandemie ist.

Ewan Morrison – Überleben ist alles, S. 15

Im in manchen Phasen durchaus anstrengenden Erzählton der Teenagerin sind wir also mit dabei, wenn der Vater sie nun in den Norden der Insel verschleppt und sie dort vor dem Rest der Welt schützen will, die der ehemalige Journalist von einer Pandemie befallen glaubt. Aber könnte es nicht auch sein, schließlich hat sich wenige Jahre zuvor ja auch schon eine Pandemie namens Corona auf der ganzen Erde ausgebreitet, wie es zuvor nur Apokalyptiker für möglich hielten?

Wem und was glauben?

Aus dieser Unsicherheit, die aus der Abgeschiedenheit des Prepper-Compounds resultiert, zieht der Roman seine Spannung. Ist die Pandemie dort draußen nur Fantasie ihres Vaters oder stimmen die Belege, die der Vater im abgeschotteten Versteck seiner Tochter präsentiert? Beständig schwankt Haley in ihrer Beurteilung der Lage, was nicht einfacher wird, als ihre Mutter als realitätsnäherere Gegenpol zusätzlich im Rückzugsort auftaucht. Wem und was ist zu trauen, wem kann man Glauben schenken?

Zu allem Überfluss schlagen in diesem emotionalen und informatorischen Chaos auch noch die Hormone zu und führen vollends zum Overload. Denn der ebenfalls im Compound wohnende Sohn eines Verbündeten ihres Vaters weckt immer stärkere Gefühle in der rebellierenden Teenagertochter, die sich doch vielleicht auch anpassen muss, um in der Gemeinschaft zu überleben.

Fazit

Überleben ist alles ist ein Roman, der den zwiespältigen Geist des Preppertums sehr gut einfängt. Wo hört Vorsorge auf, wo beginnt der Wahn? Was ist noch gesundes Misstrauen, was schon Verschwörungsgläubigkeit und wie funktionieren die Dynamiken in einer von der Außenwelt abgekoppelten Blase? Ewan Morrison erkundet es in seinem Roman, der weniger durch eine handlungsgetriebene Spannung, als vielmehr durch die Schilderung der diffusen (Gefühls)Lage außerhalb des Lagers und innerhalb in der Gemeinschaft, Haleys Familie und ihr selbst überzeugt.

Ein Roman, der hoffen lässt, dass die nächste Pandemie noch auf sich warten lässt. Denn das Überleben in der hier geschilderten Variante, es scheint auch kein sonderlich erstrebenswerter Weg aus der Krise zu sein.


  • Ewan Morrison – Überleben ist alles
  • Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47465-5 (Suhrkamp)
  • 438 Seiten. Preis: 18,00 €
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