Tag Archives: Flüchtling

Astrid Sozio – Das einzige Paradies

„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann“ (Jean Paul)

Dieses Motto hat Astrid Sozio für ihre Heldin Frieda Troost konsequent umgesetzt, die dem Leser im Debüt der 36-jährigen Hamburgerin begegnet. Denn mehr als Erinnerungen hat die Dame eigentlich nicht mehr. Sie arbeitete einst im Hotel „Zum Löwen“ irgendwo im Ruhrgebiet. Doch der Charme des Hotels ist genauso verblasst wie die Erinnerungen der hochbetagten Frieda Troost. Doch sie schleppt sich jeden Tag noch von Zimmer zu Zimmer und putzt – beziehungsweise  könnte man es eher den Versuch nennen, eine Form von Normalität und Routine aufrecht zu erhalten.

Sozio

Eigentlich ist das Hotel nur noch eine Ruine, der Strom wurde schon lange abgestellt, Schimmelpilze wuchern genauso wie die wilden Erinnerungen der Dame. Denn je weiter man im Text voranschreitet, umso klarer wird, dass Frieda Troost schwer dement ist und in ihrem ganz eigenen Paradies der Erinnerung lebt. Viele der Erinnerungen hat sie auch hinter die Türen des Hotels gebannt und will ihnen nicht mehr begegnen. Doch da steht plötzlich eines Tages die junge Nasefe vor der Tür, ein Flüchtlingsmädchen. Und das ausgerechnet bei Frieda, für die alle Fremden und Flüchtlinge Kroppzeug oder Ölaugen sind. Denn Frieda ist nicht nur dement, sondern auch eine Fremdenfeindin, mit der nicht gut Kirschen essen ist. Doch plötzlich wird der Löwe von zwei völlig konträren Gestalten bevölkert, die doch auch einiges verbindet.

Grund für Kritik, aber nicht für einen Verris

Das Einzige Paradies hat unbestreitbar Schwächen. Es scheint nicht ganz einleuchtend, warum Frieda Troost auf Pidgin-Englisch mit Nasefe kommunizieren kann bzw. des Englischen in Grundzügen mächtig ist. Für eine Dame ihren Alters und mit ihrem Hintergrund schien mir dies etwas konstruiert zu sein. Mag auch mancher Flüchtlingsbezug von der Autorin etwas aufdringlich in die Geschichte eingewebt worden sein, die Grundidee dahinter verfängt dann doch.

Für ihr beim Bachmannpreis vorgetragenes Stück Prosa aus dem Buch musste die Autorin viel Kritik einstecken. Diese heftige Kritik kann ich nach der abschließenden Lektüre des Buchs nicht teilen. Die Idee der dementen und rassistischen Erzählerin, deren Geschichte erst Stück für Stück offenbar wird – trägt das Buch sehr gut. Auch findet Sozio einen ganz eigenen ältlichen Ton für ihre Ich-Erzählerin, der dem Buch Rhythmus und Struktur gibt. Mit ihrer Protagonistin geht sie über die ganze Distanz und schafft auch ein konsequentes Finale. Abseits der breit in den Medien geführten Flüchtlingsdebatte wirkt das Buch stark und bietet einige Impulse.

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Pierre Jarawan – Am Ende bleiben die Zedern

Pierre Jarawan kannte man bisher als feste Größe in der Poetry-Slam-Szene des Landes. 2012 konnte er sogar den Titel des deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisters mit nach Hause nehmen. Mehrmals durfte ich Jarawan schon live lauschen, wobei er es stets schaffte, mit seinem subtilen Witz und poetischen Gedanken im Teilnehmerfeld der Slams herauszuragen. Nun hat er den Wechsel von der Kurz- zur Langform gewagt und mit Am Ende bleiben die Zedern seinen ersten Roman vorgelegt, der zu keinem anderen Zeitpunkt als in diesen Tagen hätte erscheinen dürfen.

ZedernEr erzählt in seinem Debüt von Samir, einem Flüchtlingskind, der mit seinen Eltern aus dem Libanon nach Deutschland flüchtete. Als Kind macht er mit seiner Familie die typischen Stationen einer Flucht durch (Erstaufnahme in einer Turnhalle, Bürokratie, Bangen um den Bleibebescheid, Unterkunft in einer Sozialwohnung, etc.), die sich auch in den 80ern nicht von unseren heutigen Verhältnissen unterschied. Das Glück der kleinen Familie könnte dann eigentlich perfekt sein, doch da verschwindet eines Tages plötzlich der Vater ohne Vorwarnung. Samir und dessen Schwestern erschüttert dieser Verlust und sorgt für Traumata, denen sie ganz unterschiedlich begegnen. Da Samir schon immer eine tiefe Verbundenheit mit dem Libanon spürte, beschließt er sich in das von Kriegen gebeutelte Land aufzumachen, um dort seinem Vater nachzuspüren. Welche Schritte trieben seinen Vater zu seinem plötzlichen Verschwinden und welche Geheimnisse gibt es, die Samir als Kind verborgen blieben?

Jarawans Buch setzt sich aus der Spurensuche Samirs im Zedernland Libanon und Rückblicken zu seinem Familienleben in Deutschland zusammen. Stück für Stück puzzelt der Ich-Erzähler die Geheimnisse und die Vergangenheit seines Vaters zusammen und erhält sukzessive ein völlig anderes Bild seines Vaters, als er es für möglich hielt. Aufgeteilt ist Am Ende bleiben die Zedern in drei Teile, von denen der Mittelteil den größten Raum einnimmt. Dieser behandelt die Spurensuche im Libanon sowie die Rückblicke zu Samirs Leben in Deutschland nach dem Verschwinden seines Vaters.

Bildquelle: Flickr / (c) Frode Ramone

Bildquelle: Flickr / (c) Frode Ramone

Pierre Jarawans Debüt ist nicht nur die Lebensgeschichte eines jungen Mannes, der zerrissen zwischen den Kulturen lebt, sondern auch ein Ausflug in die wechselvolle und von Gewalt gezeichnete Geschichte des Libanons und des Nahen Ostens. Jarawan führt vor Augen, dass die heutigen Auswirkungen der Flüchtlingskrise und damit auch des syrischen Bürgerkriegs tiefer wurzeln, als man es sich so vor Augen hält. Immer wieder geht er auf die Beziehung des so pluralistisch-heterogenen Libanon zu seinen Nachbarstaaten ein und sensibilisiert damit für die Hintergründe der aktuell schwelenden Konflikte. Auch wenn sich diese Exkurse manchmal etwas trocken ausnehmen, so sind sie doch wichtig und schaffen Wissen, das in der heutigen Flüchtlingsdebatte vonnöten ist.

Doch nicht nur die Verknüpfung von Politik, Landesgeschichte und aktuellen Bezügen macht diesen Roman so lesenswert, auch die in einer klaren Sprache geschilderte Lebensgeschichte Samirs weiß zu überzeugen. Seine Spurensuche und die Auswirkungen, die der Verlust seines Vaters in ihm hinterlassen hat, sind plausibel beschrieben. Jarawan stellt in seinem Buch die universelle Frage nach Identität und Herkunft und verhandelt diese höchst lesenswert. Das Buch der Stunde, Chapeau Pierre Jarawan!

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