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Katja Kullmann – Stars

Astrologie, das sind nicht nur Waage, Sterne oder Stier – meist geht im Fall der Anbieter der Sterndeutung auch ein Aszendent einher, der da Geschäftsinteresse und finanzieller Gewinn lautet. In ihrem Debüt Stars begleitet Katja Kullmann ihre Protagonistin beim Aufstieg ihres eigenen Sterns in das Astrogeschäft hin zu finanzieller Unabhängigkeit, der ihr der Job als „Astrophilosophin“ zunehmend beschert – bis sich sogar eine Kiste Dollarscheine vor ihrer Tür materialisiert.


Blätterte ich als Kind in den Zeitschriften meiner Eltern, so war ein unvermeidliches Element der an eine weibliche Leserschaft gerichteten Periodika stets das Horoskop. Ein wöchentliches Horoskop fand sich dort an wiederkehrender Stelle, ergänzt vom großen Jahreshoroskop, erstellt von einer Astrologin mit dem schillernden Namen Mauretania Gregor. Auch die Bildzeitung zählte zu den Abnehmern der Vorhersagen der „Starastrologin“, wie sie die die Zeitung anpries.

Dabei ist das Phänomen der Astrologin keineswegs eines vergangener Tage, auch wenn sich die Form der Astrologie etwas gewandelt haben mag. Erst im letzten Jahr zog der ORF Kritik auf sich, als er eine Astro-Show ins Programm des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks nehmen wollte, bei der man mithilfe einer Moderatorin und einer Astro-Influencerin in die Sterne schauen konnte. Diese qualifizierte laut eigener Aussage, schon im Bauch ihrer Mutter an „Vollmondritualen“ teilgenommen zu haben.

Zwar ist die Show nach nur einer Folge aus dem Programm genommen worden, der Karriere der österreichischen Astro-Influencerin mit Vollmondritual-Erfahrung hat es nicht geschadet. Ihr folgen über 30.000 Follower auf Instagram, die willig mit dieser interagieren. Unter anderem geben sie dort Antwort auf Fragen wie die Folgende: Wo sind meine Stier Sisters? Stier Sonne, Mondin, Aszendent, Stellium im Stier oder 2. Haus?

Welt der Sterne, Welt der Abzocke

Katja Kullmann - Stars (Cover)

Seit den Tagen der gedruckten Horoskope und dem berüchtigten „Astro TV“, das verlässlich Memes und Gründe für die Vorwürfe von Abzock-TV lieferte, hat sich die Welt der Sterne und der Geschäfte darum weiter in die Sozialen Medien ausgelagert. Nicht nur selbsternannte Astro-Influencer*innen treiben dort ihr Unwesen, auch Prominente wie Palina Rojinski befeuern die Entwicklung. Letztere bietet unter dem Label „Astrolinski“ einen Newsletter für Astrologie an und eigenes Astro-Merchandising feil.

Die Verbindung von Astrologie mit dem Aszendent kapitalistischer Vorteilnahme (oder auch Abzocke), sie steht in einem starken Haus, um mit der Welt der Sterne zu sprechen.

In ihrem Debüt Stars begibt sich Katja Kullmann an die Schnittstelle von astronomischen Business und neuen Medien, indem sie die Geschichte von Carla Mittmann erzählt.

Diese versieht nach einem gescheiterten Studium ihren Job als Angestellte eines Möbelherstellers im Großkundenservice, Spezialbereich Behördenausstattung. Doch das ist für die junge Frau alles andere als erfüllend und so betreibt sie nebenher als CosmicCharly einen Service für astrologische Beratung.

Cosmic Carla Mittmann greift nach den Sternen

Aus CosmicCharly wird bald cosmic Carla Mittmann, die nun unter ihrem eigentlichen Namen mit dem Ausbau ihres astrologischen Business beginnt. Persönliche Beratung unter dem Zeichen der Sterne oder digitale Beratung – immer größer wird die Nachfrage und umso exklusiver wird ihr Kundenstamm.

Katja Kullmann zeichnet den Aufstieg der Frau nach, die sich für ihren Astro-Businesscase auch der im Studium erworbenen Kenntnisse bemächtigt, um bald über Instagram und Podcasts hinauszuwachsen und auch im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk stattzufinden. Inspiriert von ihrem Vorbild Elizabeth Teissier steigt sie bald zur sogenannten „Astrophilosophin“ auf und verbrämt ihre zunächst eher noch ironisch betrachtete Sternenkunde mit philosophisches Wortgeklingel, zur Freude ihrer Kunden und den Medien. Die Sternendeuterin wird selbst zum Star.

Dabei bleibt Kullmann eng an ihrer Protagonistin und zeichnet ihren Weg zu den Sternen eng nach. Erst Gespräche bei unterschiedlichen Fremden, die sich von der Astrologin Erkenntnisse erhoffen und in ihrer Hilflosigkeit doch schon bald zu ähneln beginnen. Alle sie suchen Orientierung bei den Sternen – und Carla steigt immer weiter auf und berät ihre Klientel, wobei sie selbst so manches Mal gar nicht so selbstsicher ist, wie sie es ihren Kunden vorgaukelt.

Hoppla, hatte ich gerade wirklich das Wort „seriös“ gedacht? Die Astrologen und Astrologinnen waren zweifellos die Intellektuelle, die Gentlemen und Grandes Dames unter den Spinnern. Mehr hatte ich gar nicht sehen wollen.

Katja Kullmann – Stars, S. 93

Der tiefere Blick bleibt aus

Das ist unterhaltsam beschrieben und interessant, da sie sich mit dem Feld der Astrologie und den Geschäften darum zu einem Thema vorwagt, das in der „seriösen“ Literatur bislang eher ausgespart blieb. Freilich, eine tiefergehende Gründe für die Faszination der Sterne und die Verflechtung von Geschäft, Social Media und Mummenschanz kann und will sie nicht liefern.

Auch bleiben die Figuren abseits von der Ich-Erzählerin Carla recht einfach gehalten – und zum Abgründigen hinter der Sternenfaszination, die im letztendlichen Triumph des Aberglaubens über das Wissen liegt und mit der (siehe AstroTV und Astrologie-Sendungen im Öffentlich-Rechtlichen) auch den Boden für Wissenschaftsskepsis und Wissenschaftsfeindlichkeit bereiten, zu all dem dringt Katja Kullmann nicht vor.

So ist das kein Buch, das mit astronomisch gutem Plot und vertiefter Gesellschaftskritik aufwarten kann. Als Roman über die breit verankerte Faszination für Astrologie und den Blick auf die Geschäftsinteressen dahinter ist Stars aber ein interessantes literarisches Debüt, das dahingeht, wo die deutsche Gegenwartsliteratur sonst nicht blickt.

Weitere Meinungen zu Stars gibt es unter anderem auf dem Blog Kulturgeschwätz von Katharina Herrmann zu lesen.


  • Katja Kullmann – Stars
  • ISBN 978-3-446-28246-9 (Hanser)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €
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Die tote Debatte

Der Buchbranche und der Leserschaft geht es nicht schlecht – wenn man sich auf den boomenden Bereich des Genres New Adult kapriziert. Fans stehen auf Messen Schlange für Selfies mit Autorinnen, signierte Bücher und besondere Ausstattungen. Farbschnitte werden heiß diskutiert und alleine in der Woche, in der ich diese Zeilen schreibe, stammen sechs der Titel der Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste Paperback aus dem Hause Lyx.

Solcher Absatz weckt natürlich auch Begehrlichkeiten. Sogar eine Marke wie Gräfe und Unzer wagt angesichts solcher Erfolgsmeldungen jüngsten Nachrichten zufolge den Sprung ins Tummelbecken des New Adult-Segments. Man wolle „psychologische Expertise“ mit belletristischer Handlung verschmelzen, um zum Genre so „hochrelevante neue Aspekte“ beizutragen, lässt sich die Vertreterin des Verlags zitieren. Dass trotz solcherlei Stanze eigentlich ökonomische Interessen angesichts des wirtschaftlichen Erfolgs solcher Genretitel im Vordergrund stehen, darf nicht ausgeschlossen werden.

Doch was passiert eigentlich außerhalb dieser Erfolgssparte? Wenig Hoffnungsstiftendes. Denn obschon die steigenden Preise die Verluste auf dem Buchmarkt etwas ausgleichen können, sinkt doch die Zahl der Buchkäufer und scheinen die Verlage rat- und ideenlos. Und noch trostloser sieht es beim Thema des Sprechens über die Bücher selbst aus.

Denn nicht nur die professionelle Kritik und ihre Institutionen steht unter Druck, auch das Sprechen über Bücher im digitalen Raum durch Leserinnen und Leser selbst verödet zunehmend. Ist die digitale Literaturdebatte gar schon tot?

Elon Musk ist schuld

Blickt man auf die Gründe, warum die Literaturdebatte im digitalen Raum so verkümmert ist, könnte man es sich natürlich einfach machen, indem man auf den Mann zeigt, der schuld ist: Elon Musk.

Mit seiner Übernahme und anschließenden Abwirtschaftung des früheren Debattenraums Twitters hin zu X hat er für eine konsequenze Verödung des Mediums gesorgt. Eine Ausdünnung der Moderation ging mit dem beschönigend unter dem wolkigen Begriff der „Free Speech“ subsummierten Einlass radikaler, zumeist rechter Kräfte einher. Blaue Haken, früher ein Zeichen von Verifizierung und wenigstens einer Art von Relevanz, sind zur Ramschware verkommen. Reichweiten stagnieren, rechte Positionen fluten die Plattform und so ist es kein Wunder, dass dies zu einer Abwanderung vieler interessanter Stimmen geführt hat.

Eine wirkliche alternative und ähnlich relevante Plattform hat sich zumindest in meinen Augen bislang nicht etablieren können. Der blaue Himmel alias Blue Sky bleibt in Sachen Reichweite weit hinter den Erwartungen zurück und auch Mastodon bekommt sein Image als sympathisches, aber doch sehr nischiges und spezielles Kommunikationsforum nicht wirklich los. Auch die von Instagram angebotene Kommunikationsplattform Threads konnte sich bislang noch nicht wirklich durchsetzen.

Die Verbindlichkeit eines belebten Marktplatzes der Meinungen und Stimmen, wie es Twitter zur besten Zeit war, hat auch – über ein Jahr nach dem Niedergang des Mediums – keine der als mögliche Nachfolger gehandelten Plattformen entwickeln können. Wirkliche Debatten entspinnen sich so kaum.

Die Probleme liegen tiefer

Aber die Probleme liegen tiefer, als alleine bei Elon Musk die Schuld zu suchen. So ist die Zersplitterung der Kommunikationsplattformen nur Ausdruck dessen, was der Soziologe Andreas Reckwitz vor einigen Jahren auf die griffige Formel der Gesellschaft der Singularitäten gebracht hat.

Alles differenziert sich aus, Menschen suchen sich vermehrt ihre Nischen, in denen sie ihren Interessen nachgehen, die auch Distinktion erlauben und in denen sie das Gefühl von Besonderheit verspüren. Die Bindungskraft des Gemeinsamen, sie verliert sich zunehmend. Das kann man gut finden, etwa wenn sich im Bereich der Literatur einer verbindender Kanon auflöst, sogar Goethes Faust nicht mehr Pflichtlektüre in Schulen ist und so eine größere Vielfalt an Stimmen und vorher Übergangenem womöglich Einzug hält.

Gleichzeitig birgt das Ganze natürlich auch eine Gefahr, wenn man sich nicht mehr auf Standards und gemeinsame Nenner einigen kann, alles irgendwie gleich wertig ist und sich frühere klare Richtschnüre in einem einzigen Knoten der Beliebigkeit verheddern. So geht nicht nur die Orientierung verloren, auch die Weitung der eigenen Perspektive wird auf diesem Weg nicht unbedingt einfacher.

Die Orientierung geht verloren

Was sich im Digitalen vollzieht, findet auch in kulturkritischen Öffentlichkeit seinen Abdruck. Formate, die früher Orientierung versprachen, sie sind zunehmend auf dem Rückzug, wenn sie nicht eh schon verschwunden sind. Rezensionsplätze schrumpfen. Im vergangenen Herbst veröffentlichte Die Zeit nicht einmal mehr ihre traditionelle Beilage zur Frankfurter Buchmesse. Im Radio scheinen sich Programmdirektionen durchzusetzen, für die Anspruch in der Programmgestaltung einer potentiellen Abschreckung der Hörenden gleichkommt, welche unbedingt vermieden werden soll (die vielfache Streichung von Formaten des Senders Bayern 2 im Frühjahr diesen Jahres zugunsten einer besseren „Durchhörbarkeit“ der Radiostrecken ist hier ein trauriges Beispiel).

Auch im Fernsehen ist die Literaturkritik und das Gespräch über Bücher auf dem Rückzug. Sprechendes Bild hierfür ist die eigene Verzwergung des einstigen Hochamts der Literaturkritik, nämlich des Literarischen Quartetts. Früher vielbeachtet, scheinen heute die Sendungen nicht nur unter Ausschluss des Publikums vor Ort alleine sitzend unter einer Lampe am Tisch stattzufinden. Relevanz und Anspruch gehen anders.

Dass nun auch noch jüngsten Pressemeldungen zufolge Denis Schecks Sendungen Lesenswert und das Lesenswert Quartett als Orte des Austauschs über Bücher und Schreiben aufgrund von Sparvorhaben des SWR zugunsten eines wie auch immer gearteten digitalen Angebots eingestellt werden, fügt sich traurigerweise in diesen Trend ein. Hätten die Öffentlich-Rechtlichen wenigstens ein Konzept für Literaturvermittlung und Kritik im Netz, das über einzelne Podcasts oder Videos hinausgeht, könnte man dies ja vielleicht noch irgendwie gutheißen.

Richtungsweisende Ideen fehlen

Aber richtungsweisende Ideen und Visionen, sie fehlen auch hier und zeigen, dass die Programmverantwortlichen ratlos vor der Fragestellunge einer angemessenen Literaturrepräsentation offline wie online stehen. Kürzungen oder Streichungen von etablierten Formaten gehen ihnen deutlich leichter von der Hand, als Antwort auf die von ihnen erzeugten Leerstellen zu geben.

All das bedauere ich umso mehr, weil eine Polyphonie an Stimmen und Meinungen ja auch den eigenen Blick auf die Lektüre schärft. Debatten und Streit fordern eine eigene Positionsbestimmung heraus, ermöglichen einen neuen Blick auf Gelesenes. Man muss alte Wertungsmaßstäbe überdenken, eventuell verschieben oder gar neu entwickeln. Durch den Austausch über das Gelesene werden neue Perspektiven möglich und man justiert den eigenen Blick auf Geschriebenes.

Aber wie soll das funktionieren, wenn Literatursendungen und Rezensionen zusammengestrichen werden, wenn sich die Teilnehmenden und Anstifter*innen solcher Debatten aus dem gemeinsamen Gespräch verabschieden und die Gesellschaft der Singularitäten sogar schon jenen Ort durchdrungen haben, der eigentlich in seiner Konzeption für eine Verbindung von alles und jedem stand, nämlich das Internet?

Das Netz trägt nicht mehr

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es an selbst an jenem Ort, der qua Grundgedanke und Konstruktion für Austausch, Wissenserweiterung und Kollaboration ausgelegt ist, nicht mehr so recht gelingt, solche fruchtbringenden Debatten zu führen.

Ermöglichte das Netz parallel zur etablierten und institutionalisierten Literaturkritik auch den Aufstieg der eigentlichen Zielgruppe der Literatur, nämlich den ganz normalen Lesenden, hin zu Kritikern, die auf verschiedenen Plattformen und Formaten Literaturvermittlung und -kritik für ihr Publikum anboten, so ist dieser Aufstieg der Laien-Literaturarbeit schon längst zum Erliegen gekommen.

Viele Blogger*innen, die sich speziell dem gehobenen Segment der Literatur verschrieben haben, haben ihre Blogs aufgegeben. Ermüdet von der zeitraubenden Arbeit, die bis heute gerne von der profesionellen Literaturkritik belächelt und als unliebsame Konkurrenz markiert wird, haben sie sich aus dem Diskurs zurückgezogen.

Der Output in Form von Postings und Dikussionsbeiträgen ist merklich geschrumpft. Viele der früheren Blogger und Bloggerinnen haben durch einen Job Zugang in die Buchbranche gefunden, sind nun Verlagsmitarbeitende oder Buchhändler*innen. Der Podcast als Gespräch zwischen zwei oder mehr Lesenden hat das digitale Schreiben über Bücher zugunsten des Sprechens in Teilen abgelöst. Reichweiten für Posts und Beiträge sinken. All das sorgt verbunden mit einer oftmals mangelnde Wertschätzung der kostenlosen und stundenintensiven digitalen Besprechungsarbeit für eine Verödung der literaturkritischen Arbeit durch Laien.

Kaum Widerhall und gähnende Leere

Wo früher von Interessierten erregt in Kommentarspalten und Meinungsbeiträgen über Buchpreislisten, Nominierungen, Titel oder Auswahlverfahren vom Bachmannpreis bis hin zum Deutschen Buchpreis gestritten wurde, herrscht heute weitestgehend Stille und gähnende Leere

Ein Symbol hierfür war für mich die Verkündung der Nominierungen des Preises der Leipziger Buchmesse in diesem Frühjahr.

Haben die Literaturpreise tendentiell eher im Herbst Saison, liegt das Feld großer Literaturpreise im Frühjahr hierzulande fast brach. Ein großer Preis wie der der Leipziger Buchmesse, immerhin gleich in drei Sparten vergeben, sollte da doch eigentlich aufhorchen lassen. Aber zumindest in meiner Wahrnehmung horchte von den Leser*innen niemand recht auf, erst recht äußerte sich niemand vernehmlich. Im Netz fand der Preis kaum Widerhall. Kaum ein Leser dürfte die drei ausgezeichneten Titel noch aus dem Gedächtnis hersagen können, fanden die Bücher doch im digitalen Kulturraum fast überhaupt nicht statt.

Selbst wenn sich eine Debatte entzündet, sind es Äußerlichkeiten, mit denen sich die Debatten aufhalten und selten tiefer dringen. So war es in diesem Frühjahr wieder einmal die Zusammensetzungen der jüngst konstituierten Literaturjury des Deutschen Buchpreises, die auf Instagram die Gemüter erhitzte (oder zumindest lauwarm erwärmte).

Auch die letzte so zu nennende Debatte, die durch den Insiderberichts von Juliane Liebert und Ronya Othmann aus bzw. über der Jury des Internationalen Literaturpreis des HKW ausgelöst wurde, war hierfür symptomatisch. So ging es im Netz und in den Feuilletons um den von Liebert und Othmann erhobenen Vorwurf der außerliterarischen Kriterien bei der Entscheidungsfindung in Literaturjurys. Der damals ausgezeichnete Roman, das literarische Für und Wider der inkriminierten Titelauswahl, das alles aber fand in der Debatte nahezu nicht statt.

Blickerweiternd sind solche Debatten dann meistens auch nur in geringem Maße, versteifen sie sich doch auf äußere, denn inhaltliche Ästhetiken.

Mehr Debatte wagen!

Das ist bedauerlich, denn wir bräuchten mehr solcher blickerweiternden Debatten fernab von affirmativen Welten wie Instagram oder auf Sender-Empfänger-Modell ausgelegte Plattformen wie TikTok dringend (dass es in der boomenden Subsparte BookTok ausgerechnet wieder ein älterer Herr ist, der einen ebenso alten Kanon reproduziert, ist dabei mehr als nur eine Kuriosität für sich, die nicht nur die Bloggerin Katharina Herrmann kritisiert).

Mehr Debatte, mehr Streit, mehr Stimmen und mehr Tiefe in der Auseinandersetzung über Bücher und literarische Bewertung, das alles könnte den eigenen Blick, den gemeinschaftlichen Blick auf Literatur erweitern. Profitieren würde davon nicht nur das eigene Lesen – und weiter gefasst die Qualität der Literatur; auch die Verlage hätten ja etwas davon, wenn die Literatur wieder mehr ins Gespräch und den Austausch kommt. Für den kriselnden Buchmarkt könnte es zumindest ein Schritt in die richtige Richtung sein.

Bislang fehlen in meiner Wahrnehmung solche Iniativen aber völlig. Dabei wäre es wirklich wichtig, die tote Debatte insbesondere im Netz, aber auch in der medialen Öffentlichkeit wiederzubeleben.

Ein wertschätzender Blick auf die Akteure in den Debatten, Lust am gegenseitigen Austausch und Streit sowie entsprechende Infrastrukturen, um solche Debatten zu führen, all das könnten Ansätze für eine erste Wiederbelebungsmaßnahmen sein. Es wäre höchste Zeit, die Rettungsmaßnahmen einzuleiten und wieder mehr Debatte zu wagen!

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Hanna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt

Kaum ein Buchtitel verursacht einem Buchblogger ein derartig flaues Gefühl als der des Romans der Niederländerin Hanna Bervoets. In Dieser Beitrag wurde entfernt erzählt sie aber nicht von der immanenten Bedeutung von Back-Ups und Sicherungskopien, die digitales Schreiben und Publizieren erheblich vereinfachen, sondern wirft einen Blick hinter die Kulissen des Arbeitsalltes von Content Moderator*innen, die in sozialen Netzwerken gemeldete Beiträge sichten und kategorisieren – mit schlimmen Folgen für die Psyche, wie Bervoets zeigt.


Fand das Themenfeld der Digitalität zunächst recht spärlich einen Widerhall auf dem Feld der Literatur, so lässt sich in letzter Zeit hier langsam ein echter Wandel beobachten. Berit Glanz überführte in ihrem Debüt Pixeltänzer die Welt des Digitalen in die der Literatur und beschrieb eine Schnitzeljagd zwischen digitaler und echter Welt. In ihrem zweiten Buch Automaton, das in diesem Frühjahr im Berlin-Verlag erschien, zeigt sie in Form einer Spurensuche die Abgründe eines jener Tätigkeitsfelder auf, das uns die Digitalisierung beschert.

Bei ihr ist es die junge alleinerziehende Tiff, die für eine anonyme Firma als Micro-Job Überwachungsvideos hinsichtlich bestimmter Merkmale sichtet. Eine ebenso eintönige wie schlecht bezahlte Arbeit, die Glanz sehr eindrücklich schildert.

Im Buch von Hanna Bervoets steht nun eine sogenannte Content-Moderatorin im Mittelpunkt, die wie eine Schwester zur Heldin aus Glanz‘ Roman wirkt. Dass Glanz selbst einen Werbespruch für Bervoets Roman auf dem Buchumschlag beisteuert, ist da angesichts der Kongruenz der Themen nur konsequent.

Schöne neue Arbeitswelt

Okay. Und jetzt ein paar Dinge, die Sie bestimmt brennend interessieren, Herr Stitic – sind Sie bereit? Also: Alles, was meine ehemaligen Kollegen über die schlechten Arbeitsbedingungen erzählen, ist wahr. Hatten wir wirklich nur zwei Pausen, eine davon kaum sieben Minuten, die damit vergingen, dass wir an den zwei einzigen vorhandenen Toiletten anstehen mussten? Jep. Saßen sie uns im Nacken, wenn wir weniger als fünfhundert Tickets pro Tag schafften? Natürlich. Bekamen wir eine ernste Verwarnung, sobald unsere Trefferquote auf unter neunzig Prozent sank? Ganz bestimmt. Kam es zu Entlassungen, wenn manche regelmäßig einen zu niedrigen Score hatten? Ist vorgekommen. Und eine Stoppuhr, die anfing zu laufen, sobald wir unseren Bildschirm verließen, und sei es nur, um kurz mal die Beine zu strecken? So war das bei Hexa.

Hanna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt, S. 19

So war das bei Hexa, wie uns Kayleigh berichtet. Sie schreibt einen langen Brief über die 107 Seiten des Buchs, gerichtet an Herrn Stitic, einen Rechtsanwalt, der gerade eine Sammelklage gegen die Firma Hexa vorbereitet. Warum Kayleigh trotz aller Erfahrungen nicht Teil dieser Sammelklage sein möchte, das legt sie im Folgenden dar.

Ich bin doch keine Maschine

Hanna Bervoets - Dieser Beitrag wurde gelöscht (Cover)

Sie erzählt von den harten Arbeitsbedingungen und den noch härteren Belastungen für die Psyche, die die Arbeit der Content-Moderatorinnen bedeutet. Tag für Tag sichten sie als menschliche Maschinen gemeldete Beiträge, überprüfen sie hinsichtlich alles andere als nachvollziehbarerer Richtlinien, heben oder senken den digitalen Daumen, ob die Inhalte weiterhin auf den digitalen Plattformen gezeigt werden dürfen.

Sie erzählt von den Verformungen der Seele, die diese Arbeit bedeutet. Immer wieder gleiten psychisch Kolleg*innen ab, reagieren zunehmend rassistisch, stumpfen ab oder erleiden anderweitigen Schaden an Körper und Seele.

Ehemalige Kollegen gehen nur noch mit Elektroschocker ins Bett oder vor die Tür, andere finden gar keinen Schlaf mehr, so hat sie das Erlebte und das Gesehene mitgenommen. Aber inmitten dieser Menschenpresse aus Unmenschlichkeit, Leid und jedweder Grausamkeit ist auch Platz für die Liebe.

So verliebt sich Kayleigh an ihrem Arbeitsplatz in Sigrid, eine Kollegin, mit der sie eine stürmische Romanze beginnt. Doch ist die Beziehung der Beiden vor dem Druck ihres täglichen Erlebens und der Flut der Bilder gefeit? Oder kann man den Verformungen der eigenen Seele durch die Arbeit nicht einmal durch die Kraft der Liebe entkommen?

Wie kann ein Mensch das ertragen?

Das ist die Frage, die für mich den Kern von Dieser Beitrag wurde entfernt ausmacht. Was kann man als Mensch ertragen, wann schaut der Abgrund aus einem heraus, in dem man bei solcher Arbeit tagtäglich stundenlang hinschaut und sich dabei auf Regeln stützt, die ebenso widersinnig wie willkürlich sind?

Das beleuchtet Hanna Bervoets in ihrem Briefroman, ihrer langen Selbsterklärung ihrer Heldin Kayleigh sehr eindringlich. Sie richtet ähnlich wie Berit Glanz ihren Blick auf ein Tätigkeitsfeld, das durch die (vermeintlich) Sozialen Netzwerke erst erschaffen wurde, und das die meisten von uns weit wegschieben. Wen interessiert schon, was nach dem Klick auf einen „Melden“-Button auf einer Plattform passiert? Was sich Menschen anstellen von Maschinen ansehen, sichten und bewerten müssen?

Es ist so weit weg und fern von uns, ganz wie andere Teilbereiche – vom Sterben bis hin zur Fleischherstellung, deren Hintergründe wir so gut es geht ausblenden und uns nur mit den Endprodukten solcher Prozesse befassen wollen, seien es nun Würste, ein Grabstein oder eben eine saubere Timeline, in der alle zweifelhaften oder gewaltverherrlichenden Beiträge verschwunden sind.

So blenden Facebook, Twitter und Co ja alle weiteren Schritte nach dem Melden eines Beitrags aus und wahrscheinlich hat man selbst die Meldung rasch wieder vergessen. Aber wenn diese Meldungen dann eben Tag für Tag in höchster Schlagzahl auf fühlende Menschen einprasseln, hier lässt es sich eindrücklich nachvollziehen.

Fazit

In diesem Sinne ist Dieser Beitrag wurde entfernt ein aufklärerisches und engagiertes Buch, das für die Arbeit von Content-Moderator*innen sensibilisiert und die prekären Arbeitsbedingungen und das völlige Fehlen von psychologischer Unterstützung und Supervision beleuchtet. Und ein Buch, das inmitten von allem psychischen Leid und Druck aber auch die Möglichkeit einer Liebe eröffnet und so nuanciert von Schönem in Schrecklichem erzählt – und das knapp und präzise, ohne viel Rahmenhandlung oder Ausdeutungen. Fokussiert auf den Kernkonflikt zwischen Leid und Begehren, stabiler Arbeit und Druck auf der Seele erzählt Bervoets eine eindringliche Geschichte, die durch Form und Inhalt besticht.


  • Hanna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt
  • Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
  • ISBN 978-3-446-27379-5 (Hanser)
  • 112 Seiten. Preis: 20,00 €

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Berit Glanz – Pixeltänzer

Wenn die digitale Welt in die Welt der Literatur Einzug hält, dann geht das meistens schief. Man denke nur etwa an Dave Eggers The Circle, der über eine plumpe Warnung vor übermächtigen sozialen Netzwerken nicht hinauskam. Die komplexe Welt der Technologisierung und Digitalisierung in überzeugende Prosa zu überführen, das klappt leider in den seltensten Fällen. Der Autor Karl Olsberg etwa sah sich etwa genötigt, sein Debüt Das System bereits neun Jahre später noch einmal neu zu überschreiben, da seine Voraussagen und Fiktionen schon längst von der Realität eingeholt worden waren. Und auch dieses 2016 erschiene Buch Mirror wirkt schon drei Jahre nach seinem Erscheinen wiederum stark veraltet und gestrig. Beim Versuch, Digitales in Prosa zu überführen, ist die Halbwertszeit wohl so hoch wie in keinem anderen Genre.

Wie es besser geht, das zeigt die Autorin Berit Glanz in ihrem bei Schöffling erschienenen Debüt Pixeltänzer. Darin kombiniert sie eine Schilderung aus der Welt der New Economy, eine Schnitzeljagd und die Geschichte eines Künstlerpaares, das heute längst vergessen ist.

Der Auslöser des Ganzen besteht im Download der App Dawntastic. Mit dieser kann man mit einer zufällig ausgewählten Person irgendwo auf dem Erdball kurz telefonieren. Nach drei Minuten unterbricht die App das Gespräch – Rückverfolgung nicht möglich. Auch die Programmiererin Elisabeth, genannt Beta, holt sich diese App. Inmitten ihres tristen Alltags in einem Büro aus der New Economy-Hölle (übermotivierter Teamleiter als Animateur, Team-Building Events und ein Kamerafisch im Büroaquarium) bietet die App Abwechslung und einen Blick über den eigenen Tellerrand. Bei einem Gespräch kommt sie auch in Kontakt mit dem mysteriösen Nutzer Toboggan. Dieser lockt sie in eine Schnitzeljagd hinein, die um das Schaffen eines Künstlerpaares kreist. Diese setzten den Ausbruch aus der bürgerlichen Realität in der Nachkriegszeit des 1. Weltkriegs tatsächlich um.

In Beta wächst der Faszination, mehr über Toboggan und das Künstlerpaar zu erfahren. Sie stürzt sich mit Eifer in die Schnitzeljagd, auf die sie Toboggan schickt. Dabei spürt sie dem Leben und Wirken von Lavinia und Walter hinterher und erfasst langsam die ganze Radikalität, mit der die beiden ihr Leben lebten und ihre Ideale verwirklichten.

New Economy, Apps und Maskentanz

Es ist ein geschickter Kniff von Berit Glanz, die New Economy-Welt mit ihrer ganzen Oberflächlichkeit gegen die Welt von Lavinia und Walter zu schneiden. So zeigen sich Parallelen und und das Ganze bekommt durch diese Zeitsprünge etwas Zeitloses. Etwas, das anderer „digitalen“ Prosa fast durchweg fehlt. Wie in einem Browser springt man immer wieder zwischen den einzelenen Tabs „Beta“ und „Lavinia und Walter“ sowie „Toboggan“ hinterher. Doch es entsteht so über die Tabs hinweg ein faszinierender Hypertext voller Bezüge und Anspielungen.

Und auch wenn die Welt des Berlins der 20er Jahre mit Heinrich Zille, Ballhaus und Yvan Goll zunächst scheinbar so weit weg von Beta erscheint – am Ende von Pixeltänzer kann man die beschriebenen Leben doch durchaus auch kongruent betrachten. Mögen die beiden Künstler in den 20ern auch dem Maskentanz gehuldigt haben – aber ist das irrealer oder versponnener als so manche App, die Menschen heute auf ihren Smartphones installiert haben? Oder was würden Lavinia und Walter zur gegenwärtigen Sitte sagen, sich Hundeschnauzen auf Fotos aufzumontieren oder sich künstlich altern zu lassen?

Wo sich andere Autoren kaum daran wagen, die digitale Welt in ihr Schreiben einzubinden, da geht Berit Glanz in die Vollen. 3D-Drucker, Downloadfortschritte, Hashtags und Hackathons – Betas Welt bildet schriftlich die Komplexität und Vielfalt der digitalen Welt ab. Dies gelingt der Greifswalderin, ohne dass dabei der Lesefluss stockte oder für weniger Digitalaffine das Buch unzugänglich erschiene. Die eigenwilligen Kapiteleinleitungen mit SQL-Schnipseln oder Programmiererklärungen kann man ja auch überlesen. Ich für meinen Teil habe dank Pixeltänzer aber auch nebenbei gelernt, was Monkey und Gorilla Testing beim Programmieren ist.

Glanz‘ Debüt ist innovativ und endlich einmal ein gelungenes Beispiel dafür, wie man Digitales in Prosa überführen kann. Damit ist auch der Gegenbeweis zu den eingangs zitierten Werken geschafft, bei denen der Brückenschlag zwischen Alt und „Neuland“ nicht so recht klappen mochte. Nur auf die Frage der Killers gibt auch Pixeltänzer keine Antwort: Are we human? Or are we dancer?


Weitere Besprechungen zum Buch sind auch bei Bookster HRO und bei Feiner, reiner Buchstoff erschienen. Schaut doch mal vorbei!

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