Tag Archives: Interview

Yannick Dreßen über Meravliagiosa Creatura

Fünf Jahre ist es her, dass der vom Blogger Tobias Nazemi initiierte Bloggerpreis Blogbuster das letzte Mal über die Bühne ging. 15 Blogger*innen fungierten damals als eine Vorjury, an die sich Autor*innen mit ihren bislang unpublizierten Manuskripten wenden konnten. Diese sichteten die eingegangenen Texte und schickten den aus ihrer Sicht besten Text auf die Longlist, aus der eine Fachjury, bestehend aus Verlegern, Kritikern und Literaturagenten dann einen Siegertext kürte. Dieser wiederum erhielt dann einen Platz im Programm des am jeweiligen am Preis beteiligten Verlagshäuser, wie etwa Klett-Cotta oder Eichborn.

Drei Mal ging der Preis über die Bühne – und im bislang letzten Preisjahr 2020 wurde mir die Ehre zuteil, auch Teil der Bloggerjury beim Blogbuster zu sein. Zahlreiche Einsendungen von Manuskripten fanden den Weg zu mir. Alle nahm ich in Augenschein und entschied mich schlussendlich für das Manuskript von Yannick Dreßen, das damals noch den Titel Verdichtet trug.

Darin erzählt er die Geschichte eines Autors, der sich in zwei unterschiedlichen Welten wiederfindet. Realität und Wahn fließen ineinander über, sodass man beständig in seiner Beurteilung der Lage schwankt. Liegt der Mann delirierend in einem Krankenhausbett oder ist er ein erfolgreicher Schriftsteller, der in Italien urlaubt und der sich bei seiner Arbeit in die Welt des Delirierenden imaginiert? Ein reizvolles Wechselspiel nimmt seinen Ausgang, das ich gerne in der Endrunde des Preises schicken wollte.

Auch wenn das Buch damals nicht den Sieg errang, so war ich dennoch gespannt, wie es weitergehen würde mit dem Text, schließlich schafften es immer wieder Teilnehmer*innen aus dem Umfeld des Preises in ganz unterschiedliche Verlagsprogramme.

Jahre und einen Podcast später überbrachte mir Yannick auf der Frankfurter Buchmesse im vergangene Jahr die frohe Kunde, dass es auch bei ihm geklappt hatte und ein Verlag für sein Buch gefunden war. Nun ist das damalige Manuskript tatsächlich zu einem echten Buch geworden.

Grund genug, mich mit Yannick über die Geschichte und den Werdegang seines Romans Meravigliosa Creatura zu unterhalten!


Lieber Yannick, nimm uns doch einmal mit zur Entstehung deines Romans. Wie hat das mit dir und deinem Roman angefangen? Welche Überlegungen und Gedanken haben dich dazu verleitet, einen Roman zu schreiben?

Da müssen wir wirklich sehr weit zurückgehen, und zwar ins Jahr 2007. Ich habe schon in jungen Jahren viel und gerne geschrieben, aber in der Jugend rückten dann für lange Zeit erst einmal andere Interessen in den Fokus. Erst mit Anfang 20 wurde die Leidenschaft für Literatur und auch fürs Schreiben neu entfacht. Nach einigen Gedichten und Kurzgeschichten hatte ich schließlich die Idee zu diesem Roman, in dem es um zwei entgegengesetzte aber vermeintlich reale Welten gehen sollte, die ich dann auf circa 50 Seiten ausführte. In den folgenden Jahren habe ich die Geschichte immer wieder bearbeitet, weitergesponnen und umgeschrieben, auch wenn das Grundgerüst bis heute dasselbe blieb.

2012 habe ich die Geschichte mit damals rund 100 Seiten sogar zeitweise in einem Selbstverlag publiziert. Danach habe ich sie lange ruhen lassen und erst zum Blogbuster Preis 2019 wiederhervorgeholt. Uwe Kalkowski, dem ich das Manuskript damals zugeschickt hatte, schrieb mir netterweise seine Gedanken dazu, woraufhin ich intensiv daran weiter feilte. Ein Jahr später ging die Geschichte dann in gänzlich neuem Gewand zu dir in die Runde.

Ich selbst bin dann auf dein Manuskript im Rahmen des „Blogbuster“-Preises gestoßen, bei dem Autor*innen dazu aufgerufen waren, unveröffentlichte Manuskripte an teilnehmende Literaturblogger zu schicken, die sich dann für eines der Manuskripte entschieden, das sich dann der letztendlichen Auswahl einer Fachjury stellen sollte. Nun liegt der Wettbewerb ja schon wieder ein paar Jahre zurück – wie ist es dir seither ergangen und welche Wege hat das Manuskript dann genommen, ehe wir alles es nun lesen können? Und vor allem – wie fühlt es sich an, sein Buch erstmals in Händen zu halten?

Das Gefühl, dieses Buch endlich in den Händen zu halten, nach beinahe 18 Jahren, nach so vielen Fassungen und Überarbeitungen, nach so vielen Rückschlägen und Enttäuschungen … das kann ich nicht beschreiben. Das ist einfach nur unglaublich. Ich habe immer an die Geschichte geglaubt und war einfach davon überzeugt, dass auch andere es mit Freude lesen würden. Leider sahen das viele Verlage erst einmal nicht so. Nachdem du mein Manuskript auf die Longlist des Blogbuster Preises gesetzt hattest, begab ich mich intensiv auf Verlagssuche, erhielt aber eine Absage nach der anderen.

Das war natürlich enttäuschend, aber irgendwie habe ich mich nicht entmutigen lassen, habe nochmal viel Zeit in die stilistische Überarbeitung investiert und ganz nebenbei noch ein neues Ende gefunden. Als ich es dann schließlich fertig wähnte, habe ich mich nochmal auf die Suche nach Verlagen begeben und kul-ja! publishing gefunden, die sofort von der Story begeistert waren und die Geschichte unbedingt veröffentlichen wollten. Vom Verlagsvertrag bis zur Veröffentlichung vergingen aber nochmal mehr als anderthalb Jahre.

Begibt man sich in die Welt – oder besser die Welten – von Meravigliosa Creatura, stellt man schnell fest, dass Realität und Fantasie sowie deren Grenzbereiche eine große Rolle spielen. Denn die Welt des Autors Friedrich könnte fragiler sein, als es zunächst den Anschein hat. Er wird sich – ohne an dieser Stelle zu viel zu verraten – in einer anderen Welt wiederfinden als in der Toskana, in der er sich eigentlich mit seiner Familie befindet. Was hat dich am Spiel mit den zwei Realitätsebenen gereizt? Und wie bist du bei der Konstruktion dieser Welten vorgegangen?

Gereizt hat mich schon immer dieses Konstrukt der Realität, das wir auf unserer Wahrnehmung aufbauen und als unverrückbar erachten, das aber vielleicht nicht so stabil ist, wie wir annehmen. Denn was ist eigentlich Realität? Woraus besteht sie? Gibt es womöglich verschiedene Realitäten? Und welche Rolle spielen Erinnerungen dabei, die letztlich zu Bausteinen unseres Lebens werden? Ist ihnen zu trauen? Können Menschen dieselben Ereignisse erleben und trotzdem anders wahrnehmen? Was ist dann eigentlich wirklich wahr? Schmieden wir uns alle also wirklich nur eine Geschichte, die wir als wahr erachten, obwohl ein anderer Fokus oder Blickwinkel eine ganz andere Geschichte kreieren würden? Das sind Themen, die mich seit jeher reizen.

In Texten tritt noch eine völlig neue Dimension hinzu, nämlich die der Fiktion. Obwohl jeder weiß, dass man nur einen Text liest, akzeptiert man keine Unklarheiten. Der Kopf fordert auch hier eine klare Kausalität, eine Erzählstimme, die einen führt und leitet. Und das war für mich die Idee, anhand fiktionaler Welten Gegensätzliches zum Leben zu erwecken, also zwei verschiedene Realitäten zu erschaffen, die der Kopf nicht akzeptieren kann.

Durch lebendige Personen und Welten, besonders durch Perspektivwechsel habe ich versucht, beiden Welten den Anstrich von Realität zu verleihen. Da man als Leser aber auf Bestimmtheit pocht, will man wissen, welche Welt denn nun die „reale“ ist. Dieses Geheimnis zu lüften, bleibt jedoch dem Leser überlassen. Wenn man über den Schluss hinaus noch über diese Welten nachdenkt, habe ich erreicht, was ich wollte.

Nun spielt ein großer Teil deines Buchs ja auch in der Literaturbranche. Friedrich hat den Deutschen Buchpreis gewonnen und versenkt sich mit großer Wonne in Büchern und deren Sprache. Du selbst beschäftigst dich als Autor, Podcaster und Kritiker auch immer wieder auf ganz unterschiedliche Weise mit der Welt der Literatur. Was macht diese in deinen Augen so faszinierend, dass du auch deinen Roman in dieser Welt spielen lässt?

Die Welt der Literatur ist eine ganz besondere. Hier sind der Freiheit beinahe keine Grenzen gesetzt. Genauso wie Friedrich finde ich es erst einmal erstaunlich, wie aus nur 26 Buchstaben tausende Wörter entstehen können und aus diesen tausenden Wörtern unzählige eigenständige Welten, obwohl das alles ja nur Striche und Punkte sind, die wir mit Bedeutung aufgeladen haben. Wenn man aber diese Zeichen zu deuten weiß, hebt man einen unermesslichen Schatz. Denn man kann in tausende andere Leben eintauchen, sieht andere Kulturen und Meinungen, entwickelt Empathie und Verständnis für das, was man vielleicht vorher nicht gesehen hat.

Wenn man liest, begibt man sich auf eine Reise, bei der man Erfahrungen und Erlebnisse abseits der eigenen kennenlernt, eine Reise, bei der man andere Lebenswege beschreiten darf, neue Blickwinkel erhascht und in Umstände schlüpft, die den eigenen Horizont erweitern. Literatur zeigt uns fremde Wirklichkeiten, unterschiedliche Kulturen und Traditionen, aber auch untergegangene, phantastische und mögliche Welten und lässt uns so die Vielfältigkeit des Lebens erkunden. Durch die Literatur hinterfragen wir schließlich das Leben, das wir führen und als so selbstverständlich erachten. Durch sie hinterfragen wir letztlich uns selbst.

„Sprache war alles und alles war Sprache“ heißt es an einer Stelle in deinem Roman, der ja auch selbst durch Sprache und viele Bilder besticht. Wie bist du vorgegangen, um eine Sprache für deinen Roman zu finden und zu entwickeln?

Die richtige Sprache für den Roman zu finden, hat mich 15 Jahre gekostet. Die Geschichte war von Anfang an dieselbe, die Sprache hat sich im Laufe der Zeit jedoch stark geändert. Mit der Sprache steht und fällt alles, denn Sprache ist nunmal wirklich alles, besonders natürlich in einem Roman, der nur aus Sprache besteht. Mit Sprache erschaffe ich Leben. Mit Sprache erschaffe ich Realität, übrigens nicht nur im Roman, sondern auch außerhalb, also in unserem Denken, das unsere Realität kreiert. Ich bin der Überzeugung, dass Sprache die außersprachliche Wirklichkeit determiniert, also maßgeblich unsere Realität erschafft, in der wir leben.

Anhand der Sprache versetzen wir uns in diese Welt hinein, fühlen und erleben sie. Wir benennen die Dinge und begreifen sie durch Begriffe. Sprache ist also der wichtigste Bauteil beim Kreieren einer vermeintlichen Realität. Da es im Roman selbst um ebenjene Themen geht, also um einen Dichter, der sich mit dem Verhältnis von Sprache und Realität auseinandersetzt, musste auch die Sprache des Romans diesen Konflikt abbilden. Aus diesem Grund ist sie aufgeladen, doppelbödig, träumerisch, voller Bilder und Metaphern.

Meravigliosa Creatura steckt ja voller Anspielungen und Bezüge. Von Ludwig Wittgenstein bis hin zu E.T. A. Hoffmann reicht der Bogen an Zitaten und Verweisen, die sich im Roman finden lassen. Welche Werke oder Autorinnen hatten für dich persönlich den größten Einfluss auf die Geschichte?

Ich selbst empfinde die größte Freude beim Lesen, wenn ich Anspielungen, Verweise und Zitate, intertextuelle oder auch autoreferentielle Bezüge erkenne. Literatur ist ein großer Flickenteppich, alles ist miteinander verwoben und daher voller Zeichen, die mehr als das Gesagte bedeuten können, Zeichen, die auf etwas anderes deuten und verweisen, also eine Metaebene beinhalten. Ähnlich wie William von Baskerville in Umbertos Ecos Der Name der Rose muss man die Zeichen deuten und sich auf Spurensuche machen, um das Ganze zu erfassen. In der Tat habe ich mich deswegen viel mit Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie auseinandergesetzt, mehr und weniger verdeckte Zitate und Anspielungen eingebaut.

Zudem wird natürlich auf einige literarische Werke referiert. Dabei haben mich besonders Leo Perutz und seine Werke geprägt, in denen stets ein unzuverlässiger Erzählerauftritt und man nie genau weiß, was da eigentlich „wirklich“ geschieht und ob man dem Erzählten trauen kann. Den größten Einfluss auf mich hatte aber wohl von Anfang an die tragische Liebesgeschichte von Friedrich Hölderlin und Susette Gontard, auf die hier, natürlich in großer literarischer Freiheit, angespielt wird. Letztlich ist es ein Spiel mit dem Leser, der nichts von all den Anspielungen und Zitaten erkennen muss, um die Geschichte mit Freude lesen zu können, dem aber vielleicht ein Lächeln über die Lippen huscht, wenn er etwas erkennt.

Nun, da das Buch nun in der Welt ist, gibt es etwas, das du deinem Buch wünschst oder das du dir als Schriftsteller wünschst?

Dieses Buch allein in den Händen zu halten, ist der größte Erfolg, den ich feiern darf. Das habe ich mirmehr als 17 Jahre lang ausgemalt. Natürlich wünscht man sich als Autor, dass die Werke auch gelesen werden, dass sie Gefallen finden und Aufmerksamkeit erregen. Aber darauf habe ich keinen Einfluss mehr. Ich habe dieses Kind nach 17 Jahren Schwangerschaft zur Welt gebracht, mehr kann ich nicht verlangen – außer natürlich wie Friedrich den Deutschen Buchpreis zu gewinnen und mir dann ein Strandhaus in der Toskana zu kaufen, um mich voll und ganz dem Schreiben zu widmen. Das natürlich schon, aber mehr nicht 🙂

Als Schriftsteller wünsche ich mir die Zeit und Freiheit, weiterschreiben zu können. Im meist hektischen Alltag ist Zeit zu einem kostbaren Gut geworden und vom Schreiben leben zu können, ist ein Privileg, in dessen Genuss nur sehr wenige gelangen. Da mache ich mir keine Illusionen. Deswegen hoffe ich, dass es nicht wieder 17 Jahre zum nächsten Roman dauern wird. Aber glücklicherweise habe ich bereits vor 14 Jahren einen zweiten Roman geschrieben. Blieben also noch 3-4 Jahre übrig, bis er komplett überarbeitet und geschliffen in den Buchhandlungen steht. Das wäre doch toll!

Yannick Dreßen - Meravigliosa Creatura (Cover)

Dafür drücke ich die Daumen und bedanke mich für das Interview! Dir viel Erfolg mit deinem Buch und allem, was da noch so kommt. Ich bedanke mich auch für das Vertrauen, mir das Manuskript einst zuzusenden und freue mich über alle Entdeckungen, die die Literaturwelt noch für dich bereithält!

Wer jetzt neugierig geworden ist auf Yannicks doppelbödige Geschichte – hier die Daten zum Buch:

  • Yannick Dreßen – Meraviligiosa Creatura
  • ISBN 978-3-949260-39-1 (kul-ja! Publishing)
  • 220 Seiten. Preis: 17,00 €
Diesen Beitrag teilen

Ein Autor fragt sich

Eshkol Nevo – Die Wahrheit ist

Als Schriftsteller*in kennt man die Situation. Man hat ein Buch geschrieben, ist auf Lesereise, signiert in Buchhandlungen und führt Interviews. Interviews, die sich meist ähneln. Da ist zumeist die Frage nach den biographischen Bezügen des Werks, die Frage nach dem Schreibprozess. Von Zeit zu Zeit sind die Interviewenden schlecht vorbereitet, haben das Buch nur in Auszügen oder gar nicht gelesen. Und spätestens nach der fünften gleichlautenden Frage fühlt man sich doch wie in einer Schleife gefangen. Wie wäre es denn da, wenn man die Fragesteller*innen gleich ganz wegließe? Wenn man sich der Einfachheit halber gleich selbst interviewt und sich den eigenen Fragen stellt?

Eshkol Nevo - Die Wahrheit ist (Cover)

Wie so etwas aussehen kann, das zeigt Die Wahrheit ist, das neue Buch des israelischen Schriftstellers Eshkol Nevo. Nevo zählt zu den wohl bekanntesten Autoren seines Landes, zuletzt wurde sein Roman Über uns publikumswirksam im Literarischen Quartett diskutiert.

Zweifelsohne hat Eshkol Nevo Erfolg – doch bei der Lektüre seines Buchs könnte man auf andere Gedanken kommen. Da wird ein Autor interviewt, der denselben Namen wie der bekannte Schriftsteller trägt, dessen Leben aber überhaupt nichts Glamouröses hat. Die Interviewerin stellt ihm Fragen zu seinem Schreiben, seiner eigenen Geschichte, biographischen Hintergründen, Verfilmungen seiner Bücher und viel mehr. Durch die Fragen ergibt sich langsam das Bild eines Mannes, dessen Fundament wankt.

Ein Autor wankt

Die Ehe mit seiner Frau kriselt oder ist vielleicht schon gescheitert. Filmproduzenten wollen seine Bücher für die große Leinwand komplett umschreiben. Sein Engagement als Redenschreiber für einen Politiker sollte besser geheim bleiben. Die Bindung zu seinen Kindern wird immer brüchiger, weshalb Nevo schon begonnen hat, seine eigene Tochter zu stalken. Und dann ist da auch noch eine Dysthymie, die ihn quält und vom Schreiben abhält. Dieser Autor wankt und schwankt.

Ohne Kapitel, nur durch die Fragen gegliedert, schreibt sich Nevo in diesem zu einem Buch gewordenen Selbst-Interview durch sein vermeintliches Leben (aus dem Hebräischen übersetzt von Markus Lemke). Keine Station aus Vergangenheit und Gegenwart wird ausgelassen. Allmählich ergibt sich durch die teilweise recht assoziativ und sprunghaft beantworteten Fragen das Leben des Interviewten.

Nun boomt nicht erst seit Annie Ernaux und Karl-Ove Knausgard das Genre der Autofiktion. Das Spiel mit Echtem und Erdachtem, das Anlocken der Leser*innen mit vermeintlicher Nähe und Authentizität, es fasziniert immer mehr Autoren. Auch Eshkol Nevo ist dieser Anziehung erlegen. Doch wie sieht es aus mit der Wahrheit? Wie ist das Buch gelungen? Die Wahrheit ist:

Das Besondere, es fehlt

Dabei sitzt der israelische Autor leider einem Fehler auf, den viele Autor*innen begehen, die sich in diesem Genre umtun. So sind viele der geschilderten Viten und Erlebnisse für meine Begriffe überhaupt nicht spannend und schaffen es auch nicht, durch literarische Gestaltungsmittel zu überzeugen. Auch Eshkol Nevo fällt für meine Begriffe leider in diese Kategorie.

Um mich persönlich bei der Stange zu halten, braucht es mehr als eine Schilderung des Lebens als weißer, mittelalter Mann mit Beziehungsproblemen. Geschichten und Schilderungen von Menschen mit depressiven Zügen, mit Amouren, Reisen und Schreibblockaden gibt es ja en Masse.

Wo ist das Besondere, das mich auf über 400 Seiten bei der Stange hält? Die interessanten Brüche in der Vita? Die sprachliche Meisterschaft, die aus einem durchschnittlichen Leben eines Schriftstellers etwas Unverwechselbares macht? Das alles habe ich in dieser Nabelschau namens Die Wahrheit ist leider nicht gefunden.

Natürlich, die geschilderten Episoden um Lesungen hinter der Grünen Grenze und Erlebnisse aus dem Alltag in Israel sind durchaus spannend. Aber diese Episoden nehmen sich gegen die wehleidigen An-und Abstoßung seiner Frau, vermeintliche Amouren oder Kindheitsgeschichten seiner zwei Freunde leider doch als Minderheit aus. Es dominiert das Kreisen um das eigene Ego. Und für besonders lesenswert halt ich das Ganze eben mitnichten.

Das, was Celeste Ng sagt

Hier kommt leider ein Satz zum Tragen, den die großartige, ebenfalls bei dtv verlegte Celeste Ng jüngst in einem Interview über ihre Leseerfahrung mit dem großen Ego-Isten Karl-Ove Knausgård äußerte:

The book I think is most overrated

My Struggle by Karl Ove Knausgård. What really frustrates me about it is that, for centuries, extremely average straight white men get volumes to tell every detail of their lives, while stories by anyone else (especially women and people of colour) have to fight to be published at all.

Das Buch, das ich für am überschätztesten halte

Mein Kampf (auf Deutsch unter den Titeln Sterben, Spielen, Lieben etc. publiziert) von Karl Ove Knausgård. Was mich daran ärgert ist, dass extrem durchschnittliche weiße Männer seit Jahrhunderten allen Platz eingeräumt bekommen, um jegliches Detail ihres Leben zu schildern, während die Geschichten von allen anderen (besonders Frauen und People of Color) um ihre Veröffentlichung kämpfen müssen.

Celeste Ng: I couldn’t finish Knausgård’s My Struggle. Time is finite. Guardian online

So muss ich für meinen Teil leider konstatieren: Die Wahrheit ist, dass ich diesen Ausflug Eshkol Nevos ins Genre der Autofiktion für etwas überflüssig halte. Ein Buch, das weder auf sprachlicher noch auf inhaltlicher Ebene wirklich überzeugen kann. Und das trotz der charmanten Idee des Selbstinterviews.

Andere Meinungen zum Buch gibts bei Spiegel Online sowie Letteratura und Buchrevier.

  • Eshkol Nevo – Die Wahrheit ist
  • aus dem Hebräischen von Markus Lemke
  • Deutsche Erstausgabe, 432 Seiten
  • ISBN 978-3-423-28219-2, dtv-Verlag
  • Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Verlagsvorstellung | Verlag das kulturelle Gedächtnis

Bei meinem Besuch der Frankfurter Buchmesse verbrachte ich viel Zeit in der Halle 4.1. Neben den an den Katzentisch verbannten rechten Verlagen, Big Playern wie Suhrkamp oder Dumont  waren in dieser Halle auch die kleinen, unabhängigen Verlagen – auch Indie-Verlage genannt, beheimatet.

Eine echte Entdeckung förderte mein Besuch am Stand E40 in der Halle zutage. Dort waren nämlich die Bücher des Verlags Das kulturelle Gedächtnis ausgestellt. Schande über mich – aber bislang kannte ich diesen Verlag überhaupt nicht.

Grund genug, mit den Machern des Verlags ein Gespräch über ihre Arbeit, die verlegten Bücher und noch vieles mehr zu führen. Tobias Roth stand mir Rede und Antwort. Viel Spaß mit dem Gespräch!


Erzählt doch mal für alle die euch nicht kennen- was ist der Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“?

Wir sind ein neuer, unabhängiger Verlag aus vier Kuratoren oder Gesellschaftern, wir machen gemeinsam Bücher, die wir nötig finden. Die Grundidee ist einfach, aber nicht ohne: alte Texte aus dem Gedächtnis schöpfen, die heute für uns brauchbar sind, die Themen berühren und behandeln, die uns heute auch umtreiben. Wir sind alle in der Buchbranche tätig, verschiedentlich, und im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis auch insofern unabhängig, als wir uns keine Honorare zahlen, möglichst wenige Kosten verursachen und unsere Arbeit offen halten für spontane Teilhabe; Gewinne bleiben im Verlag, ein Programm (nie mehr als vier Titel) soll das nächste tragen. Da diese Idee natürlich in der Bücherliebe wurzelt, bemühen wir uns zudem um die Schönheit unserer Titel. Der Verlag ist in diesem Sinne eine Machenschaft der Begeisterung und Liebe, die professionell geführt wird, und von gebündelter Erfahrung zehren kann.

Gab es ein auslösendes Moment oder eine bestimmte Fragestellung, die zur Verlagsgründung geführt hat?

Der Verlag ist buchstäblich am Küchentisch entstanden, und wenn man so will, spielt er sich auch nach wie vor an einem Küchentisch ab. Geselligkeit ist ein wichtiger Teil unsrer Vorgehensweise, auch unseres Zugriffs auf die Vergangenheit, wie ich finde. Es denkt sich schöner, wenn man gemeinsam denkt.

Nun befindet ihr euch auf der Auswahlliste für den neugegründeten Berliner Verlagspreis. Was bedeutet euch diese Nominierung?

Das war eine unglaublich freudvolle Überraschung! Es bedeutet uns sehr viel, dass der Zuspruch, den diese Nominierung darstellt, uns so prompt zuteil wird und unsere Arbeit bemerkt wird. Ich war total baff, als mich die Nachricht erreichte. Es ist wundervoll.

Wie findet ihr eure Bücher und Themen? Oder finden die Bücher am Ende euch?

Das kann ich kaum unterscheiden. Wir sind alle große Kreuzundquerleser, wir stehen mit Lesern im Austausch, und alle Vorschläge werden auf den Küchentisch geworfen und gemeinsam diskutiert, erkundet, befragt. Manchmal sucht man vom Thema her, manchmal ist der Titel da und offenbart im Gespräch sein Thema, seinen Blickwinkel auf das Heute. Und es ist ja das Wesen der Entdeckungsreise, dass man sich keinen Plan machen kann. Nach Kräften versuchen wir durchaus auch festzustellen, ob eine bestimmte Buchidee nur uns begeistert oder auch andere Leser begeistern kann.

Aktuelle Projekte des Verlags

Was ist euer aktuelles Projekt?

Gerade ist unser Herbstprogamm zur Frankfurter Messe erschienen, Günter Birkenfelds Roman Wolke, Orkan und Staub (http://daskulturellegedaechtnis.de/work/birkenfeld/) und John Keats Versroman Endymion in der Erstübersetzung von Mirko Bonné (http://daskulturellegedaechtnis.de/work/keats/). Etwas vor der Messe ist bereit die Menu-Sammlung Wohl bekam’s erschienen, die Moritz Rauchhaus und ich zusammengetragen und herausgegeben haben (http://daskulturellegedaechtnis.de/work/wohlbekams/). Es ist eine Sammlung von einhundert Menus aus der Geschichte, vom Mittelalter bis in den Sommer 2018, die Speisefolgen, die zu bestimmten Anlässen verspeist wurden. Also keine Rezepte. Zu diesen hundert Menus haben wir hundert kleine Essays geschrieben, damit das Buch (ein uraltes, aber immer noch anspruchsvolles Ziel) zugleich unterhält und belehrt.

Was kann uns so ein Buch mit Menus über vergangene Zeiten erzählen?

Das Tolle ist, dass eine Menufolge, die in der Tat serviert worden ist, der Phantasie keine Grenzen setzt. Nicht nur kann man sich sofort ausmalen, wie es ausgesehen oder geschmeckt haben könnte, sondern auch, was da für Leute am Tisch sitzen, was für Leute währenddessen in der Küche arbeiten. Welche Temperatur herrscht in der Küche und wie weit spannen die Zulieferbetriebe für Nahrungsmittel ihre Fäden über den Globus? Es geht sofort los, man ist mitten in der Welt. Das Gute daran aber ist die Tatsache des Essens: wie weit die Phantasie auch mit uns durchgeht, so bleibt doch die Realität auf den Tellern. So ein historisches Menu ist zwar nur ein Detail der Geschichte – aber es ist die Geschichte dessen, was tatsächlich passiert ist. Essen hat einfach mit allem zu tun; die Weisheit „Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist“, wird von unserem Buch gespiegelt: Wer schon einmal etwas gegessen hat, kann im Grunde etwas damit anfangen. Dazu kommt noch, dass die Fragen der Ernährung und der Nahrungsmittelindustrie Dinge sind, denen wir heute besondere Aufmerksamkeit zollen müssen.

Ich stelle mir die Vorarbeiten zu dem Buch sehr umfangreich vor. Gab es Schwierigkeiten oder Besonderheiten, die euch bei der Zusmmenstellung begegnet sind?

Die Recherche war natürlich sehr arbeitsintensiv. Wir sind durch Archive und Menukartensammlungen, durch alte Kochbücher und Zeitschriften, durch Memoiren und Briefwechsel, durch überwältigend spezialisierte Blogs. Das allermeiste musste erst transkribiert und dann übersetzt werden. Das Schwere war also auch das Schöne: so ein Buch gab es bisher in Deutschland nicht, es war eine ziemliche Pionierarbeit. Die größte Schwierigkeit aber bestand darin, Menus zu finden, die all unseren Kriterien entsprechen: ein relevantes Ereignis, also auch ein genaues Datum, ein genauer Ort, und eine restlos vollständige Speisenfolge. Wir haben lang gesucht, bis alles gepasst hat.

Bei „Wohl bekam’s“ fällt es direkt ins Auge. Daher meine Frage – wie wichtig ist euch das Aussehen und der bibliophile Charakter eurer Bücher?

Die Gestaltung unserer Bücher ist uns sehr wichtig, und zum Glück haben wir grandiose Gestalter an unserer Seite: nämlich 2xGoldstein, die in der Nähe von Karlsruhe sitzen, und das Studio stg in Berlin. Sie haben gemeinsam das Erscheinungsbild unsrer Bücher gestaltet und damit das Erscheinungsbild des gesamten Verlages. Einerseits kommen da traditionelle Elemente ins Spiel: der Kopffarbschnitt, die dezente Prägung für ein Verlagssignet, kein Schutzumschlag. Andrerseits ist die Aufmachung nicht nur modern und frisch im Allgemeinen, sondern auch im wahrsten Sinne fresh. Diese Kombination ist entscheidend, ist sprechend. „Wohl bekam’s“ und unsere Auswahl aus dem Grimmschen Wörterbuch (http://daskulturellegedaechtnis.de/work/grimm/), die beide von 2xGoldstein sind, sind unsere bisher opulentesten Titel, zweifarbig gedruckt, „Wohl bekam’s“ zudem durchzogen von Icons und Illustrationen, weit über 700 Stück. Voltaires Theaterstück Der Fanatismus oder Mohammed (http://daskulturellegedaechtnis.de/work/fanatismus/), das 2017 in unserem allerersten Programm erschienen ist, wurde prompt von der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet.

Teilhabe als Verlagsmerkmal

Nun haben es die Indie-Verlage im Wettbewerb gegen die Big Player mit ihren Werbeetats und Reichweiten natürlich immer ein bisschen schwerer. Wie kann man euch unterstützen?

In erster Linie kann man uns so unterstützen wie man jeden Verlag unterstützen kann: indem man unsere Bücher kauft und liest. Aber beim Kulturellen Gedächtnis geht es noch weiter, wir möchten ganz unmittelbar zur Teilhabe aufrufen; dazu kann ich auch auf unsere Homepage verweisen (http://daskulturellegedaechtnis.de/teilhabe/). Wir haben eine ganze Reihe von Komplizen, die uns helfen: Schauspieler, die für uns lesen oder etwas einsprechen, Korrekturleser und natürlich auch Ideengeber, die ihre Lesefrüchte teilen. Aber selbstverständlich kann man uns auch ganz einfach mit Geld unterstützen und ein stiller Teilhaber des Verlages werden.

Was sind künftige Projekte, die ihr in der Pipeline habt?

Der Herbst wird nun noch einen Schnellschuss bringen, eine Auswahl aus den Werken des Erasmus von Rotterdam, die wir aus gegebenem Anlass über den Sommer machen mussten (http://daskulturellegedaechtnis.de/work/erasmus/). Das Büchlein im kleinen, handlichen Format wird am 5. November erscheinen. Erasmus hat ja die Ehre, dass sich die parteinahe Stiftung der AfD nach ihm benannt hat, und da sein Name so viel berühmter ist als seine Inhalte, haben wir eine kleine Auswahl gebastelt, in der man auf kleinstem Raum sehen kann, wie Erasmus für Menschlichkeit, Großzügigkeit, Frieden und Duldsamkeit eingetreten ist. Vor dem Hintergrund dieser Werte, die Erasmus vertritt, begrüßen wir natürlich die Namenswahl der AfD und hoffen, dass nun Erasmus umso fleißiger gelesen wird. Das nächste Großprojekt, das ansteht, ist eine Anthologie von Egon Erwin Kisch, die im Januar erscheinen wird. Sie trägt den programmatischen Titel „Klassischer Journalismus“ (http://daskulturellegedaechtnis.de/work/kisch/). Kisch versammelt darin, nach den Gattungen der Zeitung geordnet, exemplarische Artikel. Er setzte einen Standard. Herausgegeben wird das Buch von Heribert Prantl, der die Auswahl einerseits kürzen und andererseits bis in unsere Gegenwart fortsetzen wird. Das ist so ein Fall: Gedanken der Vergangenheit entdecken, vermitteln, neu nutzbar machen. Wir hoffen, dass sich die Dringlichkeit solcher Operationen bezüglich des Themas Journalismus von selbst erklärt.

Das ist natürlich immer zu hoffen! Ich bedanke mich ganz herzlich bei Tobias Roth vom Verlag Das kulturelle Gedächtnis für unser Interview!

Diesen Beitrag teilen

Ein Verlag wird gegründet | Der Nord-Verlag

Auch wenn der Indie-Bookday schon wieder ein paar Tage her ist – hier ein Interview mit Camilla Zuleger vom neugegründeten Nord-Verlag. Der Nord-Verlag hat sich dieses Jahr gegründet und beschäftigt sich mit nordischer Literatur. Auf der Leipziger Buchmesse gab es eine Release-Party für die ersten übersetzen Bücher des Verlags. Was genau der Nord-Verlag so treibt und welche Ziele Camilla mit ihrem Verlag verfolgt – das und mehr wollte ich von ihr wissen …

Nehmt uns doch mal mit: wie kommt man von der Idee zu einem Verlag?

Ich, Camilla, die Verlagsgründerin, habe Literatur an der Uni studiert. Von Beginn an, wollte ich in einem Verlag arbeiten. Aber da Dänemark ein minikleines Land ist, und nicht jeder Däne liest, ist es nicht so einfach, einen Job in einem Verlag zu bekommen. Und eigentlich wollte ich immer auch selber entscheiden wie alles funktioniert. Erstmal überlegte ich, einen Verlag in Dänemark für deutsche Literatur zu gründen. Aber es gibt schon so viele kleine Verlag hier – und relativ wenige Leser, so dass ich dachte: Das wird wohl zu schwierig. Dann aber sagte ein Freund zu mir: Warum denn nicht ein Verlag in Deutschland für nordische Literatur? Und seitdem hat es sich 100 % richtig gefühlt.

Was unterscheidet euch von anderen Verlagen?

Ich würde erstmal sagen, dass wir mit anderen Verlagen viel gemeinsam haben. Wir sind aber eher ein Nischenverlag, und werden mit aller Wahrscheinlichkeit das Sortiment nicht auf nicht-übersetzte Literatur ausweiten. Aber unter den Nischenverlagen sind wir wahrscheinlich einer der wenigen, der sich auf neue, nordische Literatur auf Deutsch fokussiert. Und was uns auch noch unterscheidet, ist der Ort. Wir sitzen in Kopenhagen, und nicht in Deutschland. Ich würde sagen, dass die meisten Verlage durch eine große Liebe zur Literatur in allen Formen verbunden sind. In dem Sinn sind wir genau so wie alle andere Verlage – nur hoffentlich mit einer etwas anderen Ausgangslage und besonderem Ausdruck.

Was macht die skandinavische Literaturszene aus?

Die skandinavische Literaturszene, d.h. die norwegische, dänische und schwedische Literatur, ist besonders dadurch gekennzeichnet, dass wir eine Art gemeinsame Sprache haben. Obwohl es drei unterschiedliche Sprachen sind, können wir uns – mit ein bisschen Mühe – gegenseitig verstehen. Das bedeutet, dass es eine starke Bewegung innerhalb der nordischen Autoren gibt; sie studieren auf Autorenschulen in anderen Ländern, auf anderen Sprachen als ihrer eigentlich Muttersprache. Und dadurch beeinflusst die Literatur der verschiedenen Länder sich gegenseitig, und wird deswegen auch in gewissen Hinsichten ähnlich. Das finde ich, ist das Einzigartige an der Szene. Dazu kommt, dass es hier auch ein gutes Milieu für Debütanten gibt – nicht zuletzt in Form von Förderung, was es ermöglicht, dass Debütanten überhaupt arbeiten und veröffentlichen können.

Wie seid ihr auf eure DebütautorInnen gestoßen?

Sowohl Victor als auch Ingvild sind im Norden keine Geheimtipps – weit davon entfernt sogar. Sie waren mit ihren Bücher omnipräsent, als diese herauskamen. Über Ingvilds Buch hat man auch in Kopenhagen viel geredet, obwohl es gar nicht offiziell in Dänemark erschienen ist. GOLDvon Victor Boy Lindholm brachte etwas Neues in die Szene. Zusammen mit ein paar anderen jungen Autoren hat er sich getraut, eine andere Sprache innerhalb der Lyrik zu benutzten, die zuvor als “unpoetisch” oder “unschön” galt. Damit hat Victor es salonfähig gemacht, der modernen Pop- und Jugendkultur eine Rolle in der Poesie zu geben. Außerdem war er nur 22 Jahre alt, als sein Debüt erschien, was natürlich auch etwas besonderes ist. Ingvild Lothe, glaube ich, hat über etwas sehr Aktuelles und früher extrem Tabuisiertes, nämlich die dunklere Seite des Frauseins geschrieben – vor #metoo. Und das hat sie auf einer Art und Weise gemacht, die so einzigartig ist, dass es bald sowas wie einen neuen Stil geprägt hat.

Wieso diese Bücher als erste? Was haben sie uns zu sagen?

Wir haben sehr lange überlegt. Denn wenn man näher darüber nachdenkt, sind zwei Gedichtbände auf einmal vielleicht eine vollkommen blöde Idee. Aber ich wollte gern zeigen – und zwar sehr deutlich – dass es eine andere Seite der nordischen Literatur gibt. In den Regalen der Buchhandlungen gibt es nämlich viele Bücher von nordischen Autoren und auch mehrere sehr gute. Aber meistens sind das Krimis, Romane oder große Familiendramen; sozusagen die klassischen Bücher. Was ich gern präsentieren will, sind die Experimente; die Bücher, die vom Stil und Ausdruck her, neu und einzigartig sind; die Publikationen, die einen neuen Weg definiert haben. Und das machen sowohl GOLD als auch “Warum bin ich so traurig, wenn ich doch so süß bin” auf ihre Art und Weise. Dass sie keine „klassischen“ Bücher sind, hat eine große Rolle spielte, weil davon haben wir schon genug, oder?

Welche Rolle spielt die äußere Gestaltung?

Eine sehr große! Die nordische Kultur, die der Nordverlag vermittelt, wird sehr von einer visuellen Identität geprägt. Ich hatte das Glück, mit zwei so fantastischen Designern arbeiten zu dürfen: Matilde Juul und Fie Lindholm, die beide eine unglaublich tolle Arbeit mit Ingvild bzw. Victor geleistet haben. Ich bin auf das Resultat sehr stolz. Es ist aber auch sehr wichtig, da die Umschläge ja die erste Begegnung mit den potentiellen Lesern sind. Außerdem sind wir auch Papier-Nerds. Beide Bücher sind nicht aus beliebigem Papier, sondern aus sorgfältig ausgewählten Papiersorten, die alle umweltfreundlich sind und einem unvergleichbares Gefühl haben.

Was ist noch so alles geplant? Welche Autoren und Themen wollt ihr präsentieren?

Gerade schauen wir erstmal von einem Tag zum nächsten. Was in der Zukunft passieren wird, kann ich noch nicht genau sagen, aber Ideen haben wir genug. Erstmal liegt der Fokus auf den beiden ersten Büchern, und dann schauen wir mal. Doch kann ich sagen, da Norwegen nächstes Jahr Gastland bei der Frankfurter Buchmesse ist, dass man sich vorstellen könnte, dass man weitere norwegische Literatur sehen wird. Und dann werden wir auch weiter mit der visuellen Kunst in verschiedenen Formen arbeiten.

Wer jetzt neugierig geworden ist: zu den Büchern und der Webpräsenz des Verlags geht es hier entlang. Instagram und die Facebookseite finden sich hier. Zudem kuratieren die Macher aus dem Verlag immer wieder passende Songlisten auf Spotify, bieten Plakate und vieles mehr an. Eine große Empfehlung meinerseits!

Diesen Beitrag teilen