Tag Archives: Kindheit

Michael Ondaatje – Kriegslicht

Michael Ondaatje ist zurück. Kürzlich wurde sein Roman „Der Englische Patient“ im Rahmen des Man Booker Prize zum besten Buch der letzten 50 Jahre gewählt. Nun kehrt er mit „Kriegslicht“ wieder zu seinen Topoi von Kindheit, Erinnerung und Krieg zurück.

Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren.

Ondaatje, Michael: Kriegslicht, S. 13

So erzählt es uns der Ich-Erzähler Nathaniel, der in Kriegslicht (Deutsch von Anna Leube) die Erinnerung an seine Kindheit in London während und nach dem Zweiten Weltkrieg heraufbeschwört. Jene beiden möglicherweise Kriminellen, denen die Betreuung von Nathaniel und seiner Schwester Rachel übertragen wird, werden von den Kinder Der Boxer und Der Falter tituliert.

Von einer Betreuung der Kinder zu sprechen, ist allerdings zu hoch gegriffen. Rachel und Nathaniel bleiben sich meist selbst überlassen und werden manchmal von den beiden Erwachsenen für halbseidene Touren eingespannt. So wird das Flussnetz und die Architektur Londons Nathaniel schon bald sehr vertraut, da er immer wieder mit dem Boxer zu Touren aufbricht, bei denen sie Hunde für Rennen schmuggeln und Ähnliches wagen, das die Grenze der Legalität überschreitet. Doch alle Abenteuer im Dschungel der Großstadt Londons können nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine offene Wunde bei den Geschwistern zurückgeblieben ist – das Verschwinden ihrer Eltern.

Der alte Fluss Tyburn verschwand, auch Geografen und Historiker verloren seine Spur. So ähnlich glaubte auch ich, meine sorgfältig verzeichneten Gebäude an der Lower Richmond Road seien gefährlich gefährlich provisorisch,so wie große Gebäude im Krieg verlorengegangen waren, so wie wir Mütter und Väter verlieren

Ondaatje, Michael: Kriegslicht, S. 43

Doch – ohne hier Entscheidendes der Handlung vorwegnehmen zu wollen: Dieser Verlust ist kein dauerhafter. Denn Kriegslicht ist genauso die Geschichte von Nathaniel wie die seiner eigenen Mutter, deren Geheimnisse zentral für die Handlung von Ondaatjes neuem Roman sind. So schafft das Buch den Bogen vom Zweiten Weltkrieg hin zum Kalten Krieg, der aus den Ergebnissen jenes Zweiten Weltkriegs erwächst.

Ondaatjes Buch ist zum Teil eine Spionagegeschichte und zum Teil die Rekonstruktion eines Verlustes. Diese Ambivalenz macht das Buch reizvoll, lässt aber auch etwas Tiefe vermissen. So wird viel angerissen, vertieft wird es hingegen kaum. Dieses fragmentarische Schreiben lässt auch keinen durchgängigen Lesefluss entstehen, vielmehr muss man sich als Leser einen Teil der Geschichte selbst ausmalen. Das ist nicht immer bequem für den Rezipienten, funktioniert allerdings von der inneren Logik des Romans her ganz ausgezeichnet. In die Kategorie Saftiger Schmöker passt dieses Buch so eindeutig nicht (auch wenn der Inhalt dies eigentlich impliziert) – zudem lässt die Länge von gerade einmal 320 Seiten so etwas wie ein tiefes Abtauchen in die Doppelgeschichte kaum erwarten.

Kriegslicht hat unterschiedliche Themenschwerpunkte. So ist das Buch eine Hymne an ein London, das im Zuge von Gentrifizierung und Bauboom völlig zu verschwinden droht. Die Flüsse, die Gebäude, die Geschichte – all das drückt sich in diesem Buch genauso aus wie das Thema des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen. Die Kindheit und die Erinnerung fasziniert Ondaatje ebenso unübersehbar (es sei hier nur an seinen letzten Roman Katzentisch erinnert) – und so liest sich sein neues Buch tatsächlich auch ein Stück weit wie eine Synthese aus dem Englischen Patienten und letzterem Werk. Kein ganz leichtes oder zugängliches Buch, im Gegenteil. Das Sperrige ist hier immer präsent und zeigt einmal mehr, wie wahr das Zitat aus Benedict Wells Vom Ende der Einsamkeit ist

Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind. Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.

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Trevor Noah – Farbenblind

Trevor Noah ist einer der größten Comedystars auf dem amerikanischen Kontinent. 2015 beerbte er Jon Stewart und wurde der Nachfolger von dessen Daily Show. Mit seinen Bühnenprogrammen sorgt er für ausverkaufte Säle weltweit. Dabei ist Trevor Noah nicht einmal Amerikaner, sondern wurde in Südafrika während der Zeit der Apartheid geboren. Von seiner Kindheit erzählt sein erstes Buch mit dem Titel Farbenblind, das in der deutschen Übersetzung von Heike Schlatterer im Blessing-Verlag erschien.

Der Originaltitel seines Buch lautet Born a crime und fasst den Titel von Noahs Leben und Geschichten schon sehr gut zusammen. Denn der junge Südafrikaner wuchs in den Townships in Soweto auf und bekam die unmittelbaren Auswirkungen der Apartheid am eigenen Leib zu spüren. In den 18 Geschichten wirft er einen Blick zurück auf die seltsamen Regeln und Auswüchse der praktizierten Rassentrennung, berichtet vom täglichen Leben auf den Straßen der Townships und erzählt, wie es ist, als Verbrechen geboren zu sein. Denn Noah ist mit einer afrikanischen Mutter und einem Schweizer Vater ein Wandler zwischen den Welten. Weder Weiß noch Schwarz gehörte er keiner Ethnie wirklich an und saß von Kindesbeinen an zwischen den Stühlen.

Davon und noch mehr erzählen seine Episoden. Er schildert Erlebnisse aus seiner Kindheit, die von skurril bis hochdramatisch alle Facetten abdecken. Vor allem das Schlusskapitel, in dem er von den Misshandlungen seines Stiefvaters berichtet, ist sehr eindringlich und alles andere als witzig. Denn Noahs Stiefvater war ein schwerer Alkoholiker und misshandelte die ganze Familie, was dann darin gipfelte, dass er auf Trevor Noahs Mutter schoß und diese lebensgefährliche verletzte. Andere Episoden hingegen bringen den Leser auch zum Lachen, etwa wenn er davon berichtet, wie er als kleines Kind seine Notdurft in der Küche verrichtete, nichtsahnend dass seine blinde Großmutter wenige Meter von ihm entfernt am Kamin saß. Humorvoll auch die Geschichte rund um Noahs Dancecrew mit dem unangefochtenen Star Hitler – dessen Name aufgrund der mangelnden Schulbildung seines Umfelds entstand.

Wohltuenderweise verzichtet Noah in seinem Buch auf platte Gags, Schenkelklopfer und Pointen beziehungsweise dosiert diese sehr gut. Farbenblind wird so zu einer lesenswerten Autobiographie über ein Südafrika, das erst ganz langsam seinen Weg aus der Apartheid findet und in dem es trotz Nelson Mandelas Bemühungen auch heute noch an vielem krankt.

Aufgrund der Popularität des Stars ist zu hoffen, dass auch (junge) Menschen, die mit den Auswüchsen der Apartheid in Südafrika nicht in Berührung gekommen sind, durch dieses Buch etwas über dieses Kapitel afrikanische Zeitgeschichte lernen. Aber auch als humorvolle Autobiographie funktioniert dieses Buch – deshalb Empfehlung!

https://www.youtube.com/watch?v=Z3XCxV_pSBA

 

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Matthias Brandt – Raumpatrouille

Bonner Episoden

Matthias Brandt zählt zu den bekanntesten deutschen Schauspielern, egal ob als Polizeiruf-Kommissar Hanns von Meuffels oder in vielen preisgekrönten Filmen wie etwa Männertreu, In Sachen Kaminski oder Vor der Morgenröte. Als Schauspieler stand er anfangs noch im langen Schatten seines Vaters Willy Brandt, der als ehemaliger Bundeskanzler zu den überragenden Figuren der Bonner Republik zählte.

brandtDieses Verhältnis zu seinem Vater und seine Kindheitserinnerungen an jene Zeit, als die Stadt am Rhein die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland war, machen den Schwerpunkt des kurzen Erzählungsbandes Raumpatrouille aus. In großer Schrift gesetzt bietet das Büchlein 14 Episoden auf 160 Seiten. Die Geschichten sind – wie man sich ausrechnen kann – meist recht kurz und beackern die Erinnerungen des Ich-Erzählers, der wohl zum größten Teil deckungsgleich mit dem Autoren Matthias Brandt sein dürfte.

Seine Erinnerungen sind eine bunte, heterogene Mischung. Mal berichtet er von einem Besuch auf einem Volksfest mit seinem Vater und seiner Mutter inmitten einer Horde von Personenschützern, mal lässt er seine kindliche Freundschaft mit dem nebenan wohnenden Ex-Bundespräsidenten Heinrich Lübke aufleben. Er berichtet, wie Willy Brandt bei einem als Versöhnung gedachten Radausflug mit Herbert Wehner vom Rad fällt oder wie die Mondlandung 1969 den jungen Ich-Erzähler inspiriert und träumen lässt.

Brandts Geschichten sind eine bunte Sammlung von Vignetten aus der Zeit, als in den Wohnzimmern der geteilten Republik noch TriTop-Flaschen standen, Wim Thoelke im Fernsehen debütierte und James Last mit seinem Orchester in den Radios der Republik dudelte. Das Ganze ist sprachlich ganz solide gemacht und ist für mich ein Fall für die Kategorie nette Erinnerungen.

 

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Benedict Wells – Vom Ende der Einsamkeit

Fünf Jahre nach seinem letzten Titel meldet sich Benedict Wells mit seinem neuen Titel Vom Ende der Einsamkeit zurück – und wie: Einstieg auf Platz 3 der Bestsellerliste, sich überschlagende Lobeshymnen in den Blogs und Feuilletons. Doch sind die Lorbeeren wirklich gerechtfertigt? Mit großer Neugier nahm ich mir ein paar Stunden Zeit für das Buch und wurde mehr als belohnt.

 

„Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ (Lew Tolstoi, Anna Karenina)

 

Ende EinsamkeitDiesen berühmten Romananfang des Jahrhundertwerks Anna Karenina füllt Benedict Wells in seinem Roman mit neuem Leben. Er erzählt von Liz, Marty und Jules Moreau, dreier Geschwister, die schon früh ihre Eltern bei einem Autounfall verlieren. Dies wirft alle drei aus der Bahn und führt zu ganz unterschiedlichen Konsequenzen. Nach der Zeit im Internat taumelt der Ich-Erzähler Jules durch sein Leben, versucht sich in der Fotografie und Kurzgeschichten, doch sein Kompass im Leben scheint den Dienst zu versagen. Seine Schwester Liz treibt von Mann zu Mann, ohne wirklichen Inhalt im Leben zu finden. Und Jules‘ Bruder Marty wandelt sich vom Nerd zum Entrepreneuer, doch glücklich ist auch er nicht. Mit dem Verlust der Eltern haben die drei Figuren eine so schwerwiegende Last aufgeladen bekommen, dass sie alle drei ihr Leben lang daran zu tragen haben werden.

Einen Ausweg aus seinem Durchs-Leben-Treiben könnte Jules nur Alva bieten, zu der er seit seiner Kindheit im Internat eine enge Bindung hegt, doch auch diese Beziehung ist alles andere als einfach und verlangt von Jules alles ab. Bei seinem Kampf um Glück und die Befreiung von seinem schweren Ballast ist der Leser ganz nahe dran und verfolgt gebannt, ob Jules Moreau je das Ende der Einsamkeit erreichen wird.

 

Foto: © Bogenberger / autorenfotos

Foto: © Bogenberger / autorenfotos

Vom Ende der Einsamkeit ist ein großes, trauriges und dabei doch auch versöhnliches Buch, das nie in Pathos oder erdrückende Gefühlsduselei abgleitet. Hier schreibt ein neuer (und ich möchte fast sagen noch besserer) Benedict Wells. Viele Szenen, Dialoge oder Aphorismen möchte man aus dem Buch heraus notieren, zitieren und nie wieder vergessen. Seine einfühlsame Schilderung des Lebens seiner Figuren zeugt von großer Reife und Einsicht. Den Sound der Melancholie, den Wells schon in den ersten drei Büchern pflegte (Becks letzter Sommer, Spinner und Fast genial) hat er hier noch einmal perfektioniert, wenn auch mit einer erheblich traurigeren Grundorchestrierung.

Dass das alles nicht zu erdrückend wird, verdankt das Buch auch seiner tollen Erzählkonstruktion. Das chronologisch geraffte Erzählen (stets fasst Wells ein paar Jahre als Kapitel zusammen) durchbricht er mit Vorausschauen, die die Spannung und den Wunsch nach mehr hochhalten. Er hält die Balance zwischen seinen Figuren und fasst die 30 Jahre dauernde erzählte Zeit auf 360 Seiten so zusammen, dass alles passt und stimmig wirkt. Die Liebe und Mühe, die über fünf Jahre in dieses Buch geflossen sind, merkt man dem Titel definitiv an.

 Fazit:

Vom Ende der Einsamkeit ist ein trauriges, aber auch von Hoffnungsfäden durchwirktes Buch, das noch über die letzten Seiten und das Zuklappen des Buchs nachhallt. Zu recht ganz weit oben in den Bestsellerlisten und einer der stärksten Frühjahrstitel. So gut war das Diogenes-Programm schon lange nicht mehr (man denke nur auch an den nahezu parallel erschienen Trick von Emanuel Bergmann). Unbedingt lesenswert!

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Hanns-Josef Ortheil – Die Berlinreise

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Nach der Moselreise veröffentlicht der Schriftsteller und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus hier das zweite Buch aus seiner Kindheit. Nachdem er im Alter von 11 Jahren mit seinem Vater die Moselregion bereiste und in der Folge eine Collage aus Erlebnisbericht, Postkarten und Beschreibungen für seine Eltern anfertigte, tat er dies auch ein Jahr später in Berlin. Analog zur Moselreise collagiert der 12-jährige Hanns-Josef in der Berlinreise auch wieder Eindrücke, die er im Jahr 1964 aus der geteilten Stadt Berlin mitnahm. Über mehrere Tage hinweg durchstreift der Bub zusammen mit seinem Vater die Stadt, bereist Orte aus der Vergangenheit des Vaters und seiner Mutter und unternimmt auch einen Ausflug in den Ostsektor der Stadt.

Langsam fühlt sich Hanns-Josef in die Geschichte der Stadt und die Geschichte seiner Eltern ein. Einfühlsam von seinem Vater betreut erkundet er das Leben seiner Eltern während des zweiten Weltkriegs und erfährt traurige Geschichten seiner Familie, die sein Weltbild gehörig durcheinander wirbeln.

Der Text ist chronologisch in die Tage des Aufenthalts aufgeteilt, eingeleitet werden die Kapitel stets mit Bildern oder Postkarten aus jenen Tagen, die Ortheil während seiner Reise sammelte. Neben den Nacherzählungen seiner Erlebnisse, die er im Nachhinein der Reise arrangierte, wird der Text von Postkarten an seine Mutter unterbrochen, die aufgrund einer Erkrankung in Köln bleiben musste. Zudem ist der Text mit kurzen Einschüben und Betrachtungen des jungen Ortheils angereichert, in denen er seine kindliche Sicht auf bestimmte Dinge schildert, z. B. den Unterschied beim Frühstücken oder Bummeln in Köln und Berlin.

Auch in der Berlinreise lässt sich wieder der hellsichtige junge Beobachter Ortheil erkennen, dessen Talent zum Schreiben und Beobachten auf jeder Seite zu Tage tritt. Gewählt und stilsicher verfasst der 12-Jährige seine Beobachtungen und Collagen und ruft damit Erinnerungen an ein Berlin vergangener Tage wach, in dem die Mauer verlief, die Ausläufer des Wirtschaftswunders zu spüren waren und die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland Bonn hieß.

Der kindliche naive Ton verliert sich hier ein wenig, man merkt die Reifung des Kindes im Vergleich zur Moselreise. Das Volumen dieses Buchs ist mit 288 Seiten schon gewichtiger als Ortheils erster Reisebericht, schafft es aber, genauso anzurühren und den Leser in die vergangene Welt der Kindheit abtauchen zu lassen. Ein literarisches Dokument und der Erlebnisbericht aus einer vergangenen Epoche, der mich in seinen Bann zog und sicher nicht mein letzter Kontakt mit Hanns-Josef Ortheil bleiben wird.

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