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Nelio Biedermann – Lázár

Generationenroman, Dokumentation des Verfalls einer aristokratischen Familie und Beschreibung des Schreckens des Kommunismus – Nelio Biedermanns Roman Lázár weckt Assoziationen mit großen Vorbildern, tappert dann aber etwas hilflos in den Fußspuren der großen Meister.


Wieder einmal bedient sich ein junger Autor der beliebten Erzählweise des Generationenromans, um mithilfe der voranschreitenden Erzählzeit vom Vergehen des Alten und des Entstehends von Neuem zu erzählen. Bei ihm ist es das adelige Geschlecht der Lázárs, das im Mittelpunkt seines Romans steht. Die Mitglieder der Familie wohnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihrem Waldschloss in Ungarn.

Noch sind die Aristokraten als Teil der k. u. k.-Monarchie angesehen und leben mit Angestellten und Pferden im ungarischen Niemandsland. Doch schon bald wird nicht nur die Monarchie zu einem Ende kommen, auch die alte Generation findet umnachtet zu ihrem Ende und so ist es an Lajos von Lázár, die nächste Generation in das neue Zeitalter zu führen. Nach dem Ersten und dann dem Zweiten Weltkrieg ist es der Kommunismus, der nun erblüht und der für das Geschlecht der Lázárs tiefgreifende Veränderungen bereithalten wird.

Der ungarische Leopard

Nelio Biedermann - Lázár (Cover)

Eine Aristokratenfamilie, ein Jahrhundert, das seinem Ende kommt und die neue Generation, mit der alles anders werden soll – vieles in Nelio Biedermanns Roman erinnert an einen der großen Literaturklassiker, nämlich Giuseppe Tomasi di Lampedusas Der Leopard (mit dessen Verfasser Nelio Biedermann auch zumindest väterlicherseits die adelige Herkunft teilt). Legt man di Lampedusas Roman neben Lazár, zeigt sich aber, dass die Fußstapfen solcher Vorbilder doch etwas arg groß sind.

Denn auch wenn das Erzählgerüst funktioniert, der Wandel von der Monarchie hin zum Kommunismus mit all seinen Verheerungen recht sauber über die Familiengeschichte gelegt ist, hat das Ganze doch etwas leicht Schulbuchhaftes. So hakt der 2003 geborene Biedermann alle bekannten geschichtlichen Aspekte der Zeit ab (Vergewaltigungen durch die Rote Armee nach und Hinrichtung eines Nazi-kritischen Priesters während des Kriegs, sogar eine seltsam unmotiviert im Roman stehende Schilderung des Todes Stalins gibt es, die im Gesamtkontext des Romans nicht so recht Sinn ergeben mag).

Sprachlich nicht ganz stimmig

Auch sprachlich ist das Ganze nicht immer ganz stimmig.

Kaum war die Sonne hinter die Hügel gesunken, hatten Mária und Jonathan das Schloss verlassen, wobei sie links und er rechts um das Städtchen spaziert war. Hinter dem Friedhof hatten sich ihre Wege gekreuzt. Sie hatten sich schon von Weitem gesehen, denn der Sommerhimmel trug noch das Licht des Tages.

Zuerst hatten sie umdrehen wollen, sie waren sich noch nie außerhalb des Schlosses begegnet. Aber natürlich war das unmöglich, nun, da sie sich gegenseitig gesehen hatten.
Während sie weiter aufeinander zugegangen waren, ohne zu wissen, ob sie sich anschauen sollten oder nicht, hatten sie beide nach Worten und dem richtigen Ton gesucht, hatten leise vor sich hin murmelnd verschiedene Begrüßungen geübt und Gesprächsthemen probiert – um dann mit leeren Mündern voreinander zu stehen. Nicht einmal ein „Guten Abend“ kriegten sie hin, sie sahen sich nur panisch an, suchten vergeblich nach all den Worten, die sie vorhin noch vor sich hergesagt hatten, und begannen schließlich laut zu lachen.

Nelio Biedermann – Lázár, S, 69 f.

Da der Himmel, der noch das Licht des Tages trägt, dort das verdruckste Stammeln, bei dem die beiden nichts „hinkriegen“. Umgangssprache steht neben poetischen Ausflügen und findet an einigen Stellen zu keinem rechten Miteinander. So auch folgende Passage, in der das „Bissen runterbringen“ dem Rest der gehobenen Schilderungen entgegensteht.

Mittlerweile war sogar Frau Telke besorgt und wies Dora an, nur noch Matildas Lieblingsspeisen zu kochen, da sie glaubte, ihr Hungern sei eine Form des Streiks, mit dem sie sie erpressen wolle. Dabei brachte Matilda wirklich keinen Bissen runter.

Nelio Biedermann – Lázár, S. 162

Überstrapazierte Metaphern, vergessene Figuren und ein irrlichternder Stalin

Registerschwankungen wie auch schiefe Bilder und überstrapazierte Metaphern gibt es haufenweise in dem Text. Auch an anderen Stellen verfestigt sich der Eindruck von einer etwas argen Unbehauenheit des Texts, nämlich im Umgang Biedermanns mit seinen Motiven und Figuren.

Zu Beginn hebt der Roman mit Lajos von Lázárs gläsernem Körperbau an, ohne dass daraus irgendetwas Interessantes entstünde. Auch das Verschwinden der jungen Baronesse Ilona, die im Wald verlorengeht und später wiedergefunden wird und die in der Zwischenzeit einen immensen Appetit auf Fleischliches entwickelt hat, es bleibt ohne Folgen. Der Wald als Motiv oder als Erzählansatz wird nicht wirklich ausgedeutet. Auch andere Gestalten schiebt Biedermann aus dem Bild, wenn sie ihn nicht mehr interessieren. Allen voran der für verrückt erklärten Imre, der in einem Zimmer im Schloss vor sich hinvegetieren muss fällt komplett aus der Handlung und wird erst wenige Seiten vor Ende des Romans wieder von Biedermann hervorgezaubert.

Fazit

Feuilletons, die den jungen Biedermann als „Zauberer“ beschwören, kann ich so nicht ganz folgen. Seine Tricks sind doch recht durchschaubar und wollen für mein Empfinden nicht wirklich klappen, auch wenn man mit jungen Talenten auf der Variétebühne wie auf der literarischen Bühne natürlich auch etwas nachsichtig umgehen sollte. Dennoch ist dieses Buch mehr Illusionsbudenzauber als echte literarische Magie.

So kann ich mich auch dem Lob Daniel Kehlmanns, der das Buch auf der rückwärtigen Klappentext als Donnerschlag lobpreist, nicht so recht anschließen. Lázár ist gewiss nicht ganz schlecht und hat seine zahlreichen Fans in Feuilleton wie auch im Buchhandel (nicht umsonst ist das Buch als eines von fünf für den Preis des Lieblingsbuchs des unabhängigen Buchhandels nominiert und steht auf den Bestsellerlisten).

Dennoch weist das Buch handwerkliche Mängel auf, die trotz des jugendlichen Alters des Autors benannt werden müssen. So neige ich eher der Meinung der Rezensentin Eva-Sophie Lohmeier auf 54 Books zu, die in dem Buch einen Roman „voller schiefer Bilder, prätentiöser Sprache und halbverdauter Lektüre“ sieht, der zudem mit seiner überstrapazierten sexuellen Note und den schiefen Frauenfiguren verärgert.


  • Nelio Biedermann – Lázár
  • ISBN 978-3-7371-0226-1 (Rowohlt)
  • 336 Seiten. Preis: 24,00 €

Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe

Wenn der Weg über den Flur zum Anschauungsunterricht in Sachen Leben im Kommunismus wird, dann handelt es sich um den Roman Die Glühbirnendiebe von Tomasz Różycki. In diesem Buch schickt der polnische Autor einen Jungen zu Nachbarn, um dort Kaffeebohnen mahlen zu lassen. Der kurze Gang wird zu einer großen Reflektion über das Lebensgefühl und den Alltag im Plattenbau zur Zeit des Spätsozialismus


Kaffee, für viele von uns gehört er zum täglichen Leben dazu und ist meist auf Knopfdruck innerhalb von Minuten und nahezu überall verfügbar. Ganz anders jedoch bei Tomasz Różycki. Denn der Roman des 1970 geborenen Autors spielt irgendwann in der Spätphase des Kalten Kriegs in Polen.

Karol Wojtyla ist Papst und segnet auf Bildern und Fotos auch die Wohnungen der Familien im Plattenbau – Güter des täglichen Bedarfs sind aber weit weniger verfügbar als der omnipräsente Papst und Landsmann. Teils über Tage hinweg müssen sich Familienmitglieder gegenseitig abwechseln, um ihren Platz in langen Schlangen zu behaupten, an deren Ende im besten Fall einige wenige Rationen von Luxusgütern wie etwa Kaffee warten.

Die Sache mit dem Kaffee

Und wenn man aufgrund eines guten familiären Netzwerkes und einer wohlkoordinierten Anstelltaktik zu den Glücklichen zählt, dann kann es passieren, dass sich sich der sehnlich begehrte Kaffee als nicht verarbeitetes Produkt in Bohnenform herausstellte. So zumindest im Falle des Romans von Tomasz Różycki, der mit genau diesem Fall eröffnet, der sich in der Folge zu einem Panorama des Lebens im Spätsozialismus entfaltet.

Hört euch an, wie meine Mutter gesprungen ist. Also, das war so: Als es uns kurz vor Vaters Namenstag endlich gelungen war, Kaffee zu organisieren, und sich herausstellte, dass es Bohnen waren, sagte Vater, der vorm Fernseher saß, wo im pulsierenden grauen Pixelwirbel gelegentlich die fantastischen Formen des Plattenbaupanoramas von Ursynów auftaucheten, zu mir: „Geh zu Stefan und lass ihn mahlen“, denn sie hatten eine Kaffeemühle. Er ging natürlich nicht selbst, obwohl man dazu über den schrecklichen Dachboden musste, und wir klopften auch nicht bei den Nachbarn links und rechts, weil die von links keine Mühle und wir mit denen von rechts kein sonderlich gutes Verhältnis hatten, warum, wusste, keiner genau.

Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe, S. 5

Und so macht sich der junge Held Tadeusz auf den Weg hinauf zum Dachboden, wo der gefürchtete Gaang auf einer Länge von etwa 120 Meter die verschiedenen Plattenbauten miteinander verbindet, um die Kaffeebohnen in einen nutzbaren Daseinszustand verwandeln zu lassen.

Was eigentlich nicht länger als ein paar Minuten dauern dürfte, wird im Falle von Die Glühbirnendiebe zu einer Erzählung von 220 Seiten. In dieser Erzählung taucht man man mit Tadeusz gemeinsam tief ein in das Leben dort im Plattenbau ein und erhält eine Ahnung davon, wie Gemeinschaft und Alltag einst aussahen in jenem spätkommunistischen Betonmonstrum, das von Rissen und Brandnarben durchzogen am Rande eines Steinbruchs harrt.

Leben im Plattenbau

Tomasz Różycki - Die Glühbirnendiebe (Cover)

Aufgrund des Vandalismus, der sich auch im steten Diebstahl von Leuchtmitteln im Haus zeigt, ist der Gang äußerst schummrig beleuchtet. So flößt sich Różyckis junger Erzähler selbst Geschichten und Erinnerungen ein, um sich damit von der Schaurigkeit seines Wegs zu den Nachbarn abzulenken.

Meter um Meter kämpft sich Tadeusz dort oben auf dem Flur voran, während seine Gedanken immer wieder abschweifen und sich in Erinnerungen verharken. Der Müllschlucker, die ständigen Zündeleien und Brandstiftungen und die Risse im Gebäude, die einen Ausblick auf die Tristesse des Stadtteils Ursynów im Süden Warschaus erlauben, sie alle zeigt uns Tadeusz in seiner Art der Autosuggestion.

Ähnlich wie das aufgrund von Sprengungen im benachbarten Steinbruch immer wieder schwankende Gebäude zeigen sich auch im Alltag der Menschen immer mehr Risse und das System beginnt langsam zu bröckeln. Noch aber regiert der Sozialismus in seinem ganzen Lauf – was sich aber keineswegs einem grauen und deprimierenden Leseerlebnis äußert – ganz im Gegenteil.

Ein gewitzter Roman über den Spätsozialismus

Die Glühbirnendiebe ist ein gewitzter Roman, der mit viel Liebe zu seinem Erzählgegenstand den Alltag im Plattenbau mit all seinen Mängeln, vor allem aber mit der Findigkeit seiner Bewohner noch einmal wachruft. Die Familie Tadeusz‘, die aus der Ukraine stammt und in der vor allem die Altlemberger Flüche des Vaters Zeugnis von der Herkunft ablegen, die Nachbarn, die mal als äußerst kreative Denunanzianten die Mitbewohner im Plattenbau anschwärzen, mal mit besonders rigorosen Ernährungsvorschriften ihrer Kinder Tadeusz‘ Familie herausfordern, sie alle leben im wahrhaftigen Erinnerungsgang des Jungen auf.

Die Anforderungen, die das Leben im Block stellte, werden bis heute unterschätzt- Dabei war es eine echte Schule des Lebens, vielleicht eine kommunistische, aber eine Schule.

Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe, S. 53

Tomasz Różycki erzählt von Familienfeiern, deren Tabakkonsum alle Feinstaubmesswerte pulverisiert haben dürfte, von kuriosen Schwarzbrennereien in der Platte oder dem Fest, das die Zuteilung von Schweinsfüße bedeutete, denn das Endprodukt von Sülze konnte ganze Familien in kulinarische Ekstase versetzen, wie Die Glühbirnendiebe beweist.

Es sind die kleinen Momente, die so anschaulich vom Leben im großen Plattenbau erzählen. Tadeusz erweist sich als durchaus sprachmächtiger Erzähler (Übersetzung aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann), der von Menschen und deren Zusammenleben erzählt, und damit wieder einmal jenes vielzitierte und vielen Denker*innen zugeschriebene Zitat erfüllt, dem nach der Historiker sagt, wie es war und der Schriftsteller, wie es sich angefühlt hat.

Fazit

Wie es sich angefühlt hat, das Leben im Plattenbau, das zeigt Tomasz Różycki in seinem Roman eindringlich. Der Spätsozialismus ersteht in diesem Roman wieder auf und straft damit auch die Worte von Tadeusz‘ Freundin Bermuda Lügen. Denn diese bekennt, dass sie Bücher für Zeitverschwendung hält, das Lesen sie langweile. „Wozu lesen, wenn man leben kann?“ so ihre Haltung. Dabei sind es genau solche Bücher wie Die Glühbirnendiebe, bei denen man nicht nur Lesen, sondern gleich ganze Leben mitleben kann. Mehr kann gute Literatur nicht schaffen!


  • Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe
  • Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
  • ISBN 978-3-949262-45-6 (edition. fotoTAPETA)
  • 224 Seiten. Preis: 25,00 €

Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff

Ein Schiff, ausgelegt für zweitausend Passagiere, belegt nur mit einer Handvoll Menschen, die ihre Kabinen kaum verlassen dürfen. Ausgewiesene Personen allesamt, die im neuen Russland unter Trotzki keinen Platz mehr haben. Und unter ihnen die junge Anouk, die einem Schriftsteller namens Michael Köhlmeier in Das Philosophenschiff ihre Lebensgeschichte erzählt und so die Erfahrungen nach der Oktoberrevolution in Russland noch einmal lebendig werden lässt.


Einen guten, wenn auch etwas windigen Ruf als Schriftsteller als Schriftsteller habe er, Michael Köhlmeier. Stets sei sein Umgang mit Realität und Fiktion etwas eigen – was ihn zum perfekten Kandidaten für ihr Vorhaben mache, ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen. So eröffnet es ihm die fast hundertjährige Architekturprofessorin Anouk Perleman-Jacob, die Köhlmeier zu ihrem Geburtstag in ihre Villa nach Hietzing eingeladen hat, wo sich zahlreiche höhergestellte Persönlichkeiten einfinden, darunter sogar der Vizekanzler der Alpenrepublik.

Eine russische Scheherazade

Er möge am nächsten Tag noch einmal zu ihr nach Hause kommen, dann werde sie ihm die Geschichte erzählen. So lockt die 1908 in St. Petersburg geborene Frau den Schriftsteller zu sich, der tatsächlich auf eine Heimreise nach Vorarlberg verzichtet und sich so in einer fast an eine Scheherazade erinnernden Erzählung der betagten Dame wiederfindet.

Denn einst wurden ihre Eltern von Trotzki aus Russland ausgebürgert. Er ein renommierter Architekt, sie eine Ornithologin, beide mit Sympathien für die Bolschewiki – und dann die Tochter, die zusammen mit den Eltern im Alter von nur 14 Jahren aus Russland ausreisen musste.

Zusammen mit einer Handvoll andere kritischen Stimmen wurde die Familie in St. Petersburg auf ein Schiff gebracht, welches die unliebsamen Denker*innen aus dem neuen Russland nach der Oktoberrevolution entfernen sollte. Dort fand sich Anouk Perleman-Jacob in einer wirklich gespenstischen Atmosphäre wieder. Denn den Passagier*innen war es untersagt, sich längere Zeit außerhalb der Kabinen aufzuhalten, der Service auf dem eigentlich für zweitausend Gäste ausgelegten Schiff blieb unsichtbar. Doch bei ihren heimlichen Streifzügen stieß das junge Mädchen dann auf einen ganz besonderen Gast, wovon sie dem lauschenden Schriftsteller in einigen Etappen erzählt.

Vom Entgleisen linker Ideen

Das Philosophenschiff ist ein Roman, der vom Entgleisen linker Ideen erzählt. Lenin, Trotzki und später Stalin, das totalitäre Denken der Machthaber und die omnipräsente Furcht, die unter ihrer Herrschaft zunehmend um sich griff und in der schon so etwas Harmloses wie ein Gedicht Grund für eine Verhaftung oder gar Exekution sein konnte, all das scheint in den Erinnerungen Anouk Perleman-Jacobs auf.

Michael Köhlmeier - Das Philosophenschiff (Cover)

Die beklemmende und schon fast kafkaeske Atmosphäre der Familie vor der Deportationen und danach dann auf dem antriebslosen Schiff im Finnischen Meerbusen, die Verzweiflung der Menschen, Suizide und die ständig lauernde Gefahr, all das sind Erinnerungen, die Köhlmeier und seine Auftraggeberin gemeinsam durchwandern.

Durch die Klammer der Scheherazade erlebt diese Rekapitulation der damaligen Zustände, die aus der brutalen Geschichte Russlands erwuchsen, noch eine weitere Ebene. Denn Köhlmeier befasst sich während seiner nachmittäglichen Unterhaltungen mit der greisen Dame auch mit deren Hintergrundschichte und ihrem Umfeld.

Dieses hält ebenso wie seine eigene Geschichte Anknüpfungspunkte zu linkem Terrorismus und den entgleisten linken Ideen bereit. So umweht die Freundin, Betreuerin und ehemalige Studentin Anouk Perleman-Jacobs die Fama von Terrorismus in den USA – und auch Köhlmeiers Bekannter aus Studentenzeiten sympathisierte als Mitglied des KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschlands) einst mit linken Diktatoren wie Stalin oder Pol Pot. Dieser Bekannte erlebte dann sogar die Androhung einer Liquidation am eigenen Leib – womit sich wieder der Bogen zu den Geschehnissen in Russland unter Trotzki schließt, waren Attentate und staatliche Exekutionen doch ein Merkmal jener Zeit nach der Oktoberrevolution.

Erinnerungen und wie man sich diese vom Leib hält

Neben solchen großen Bögen in einem doch recht schmalen Buch ist Das Philosophenschiff auch ein Buch über Erinnerungen und darüber, wie man sie sich vom Leib zu halten versucht. Denn das Gedächtnis, es ist ein „ineffektives Gerät“, wie Anouk Perleman-Jacob im Gespräch mit Köhlmeier feststellt, der auch selbst mit dem autofiktionalen Erzählrahmen die Grenzen zwischen Fakt und Wirklichkeit verwischt, ganz wie es die Architekturprofessorin von ihm behauptet hat.

Welche Erinnerungen lassen wir zu, mit welchen Behauptungen und imaginierten Wahrheiten schützen wir uns selbst? Das führt Köhlmeiers Roman hervorragend vor, auch wenn das Buch noch etwas mehr erzählerisches Fleisch auf den Rippen verdient hätte. So kennzeichnen Andeutungen, Abschweifungen und Exkurse etwa über Begehren oder Küchenbrutzeleien den Roman, der seine eigene Geschichte des Schiffs mit seiner besonderen Besatzung immer mal wieder aus den Augen zu verlieren droht, in meinen Augen dann aber doch noch die Kurve bekommt, bevor die Erzählung dann abbricht. Köhlmeier könne sich die übrigen Lücken in der Geschichte ja zusammenreimen könne, so die etwas schroffe Aussage der Architektin am Ende des Buchs.

„Nun ist meine Geschichte zu Ende. Den Rest können Sie sich zusammenreimen aus den Stücken, die ich Ihnen bereits erzählt habe. Wenn Ihnen das nicht genügt, fragen Sie Alice, sie gibt Ihnen gern Auskunft. Aber vergessen Sie nicht, wer Sie sind: Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt.“

Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff, S. 221

Fazit

Ich hätte lieber noch von Anouk Perlemann-Jacob selbst diese Lücken gefüllt gesehen, aber auch so ist Das Philosophenschiff ein starker Roman über das, was passiert, wenn sich Ideen verselbstständigen und gute Theorien in besorgniserregende Praktiken kippen. Der Umgang mit Eliten und Erinnerungen, die gewaltgesättigte Vergangenheit Russlands, das Schiff und die Scheherazade, die Revolution und das junge Mädchen – all das sind Themen, die der österreichische Vielschreiber Michael Köhlmeier in diesem Roman voller doppelter Ebenen lesens- und nachdenkenswert umkreist.

Mehr Stimmen zu Das Philosophenschiff gibt es im NDR, bei der Frankfurter Rundschau, im SWR und bei Deutschlandfunk Kultur.


  • Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff
  • ISBN 978-3-446-27942-1 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 24,00 €

Dana Grigorcea – Die nicht sterben

Spukt Dracula noch immer in Rumänien herum? Diesen Verdacht könnte man hegen, wenn man Dana Grigorceas neuen Roman Die nicht sterben liest. Sie erzählt von einer in ihre Heimat zurückkehrenden Malerin, dem Mythos von Vlad dem Pfähler und dem modernen Rumänien.


Als Orientierung für diejenigen unter Ihnen, die von der Sache nichts mitbekommen haben, muss ich anführen, dass B. eine kleine Ortschaft in der Walachei ist, südlich von Transsilvanien gelegen, am Fuß der der Karpaten. Die Bukarester und die Kronstädter, die hier Ferienhäuser besaßen, bezeichneten die Ortschaft schlicht als Dorf, die Einheimischen allerdings sprachen trotzig von einer Stadt, weil am Fluss früher eine große Weberei stand, in der viele Bauern zu Arbeitern umfunktioniert wurden; für die Meinen war B., ganz versöhnlich, ein wundervoller Kurort. Dieser Ort also – darüber ist man sich einig -wurde bis zu den Ereignissen, über die hier zu berichten sein wird, weder mit Dracula noch mit anderen Vampirgeschichten in Verbindung gebracht.

Dana Grigorcea – Die nicht sterben, S. 9 f.

In diesen Ort B. kehrt die namenlose Protagonistin also zurück. In Frankreich verdingt sie sich als Malerin und findet bei ihrer Großtante Margot, genannt Mamargot, Aufnahme. Schon bald erschüttert eine unerhörte Begebenheit das Dorf. In einer Gruft findet die Protagonistin eine teilweise schon verweste Leiche. Es handelt sich um einen früheren Dorfbewohner von B.. Ein entscheidendes Detail an dem Fund erregt dann aber Aufmerksamkeit weit über das Dorf hinaus. Bei dem Grab, auf dem der Tote gefunden wurde, handelt es sich der Legende nach um das Grab von Vlad, dem Pfähler, alias Dracula. Spukt der Vampir immer noch durch die Landschaft Rumäniens? Und hat er sich in B. ein Opfer gesucht?

Ein unsterblicher Mythos

Dana Grigorcea - Die nicht sterben (Cover)

Der Mythos von Dracula ist im wahrsten Sinne nicht totzukriegen. Das muss auch die Protagonistin in Dana Grigorceas Buch feststellen. Der findige Bürgermeister kreiert nach dem Fund des Toten in B. schnell einen Dracula-Tourismus. Auch in der Familie der Protagonistin ist der Blutsauger-Mythos noch sehr gegenwärtig. Dieser speist er sich aber eher aus der Erfahrung des Lebens unter der Knute von Ceaușescu. Der Diktator, der Rumänien systematisch ausblutete und hartherzig regierte, trug im Volk auch den Beinamen „Dracula“.

Die Nachwehen dieser Erfahrung zeigen sich in Die nicht sterben vielfach. So regiert die Politik noch immer nach Gutdünken und auch die Natur wird ausgebeutet, so ist etwa die Abholzung der letzten Urwälder in Rumänien ein Thema, das Dana Grigorcea indirekt beleuchtet.

Wohin soll die Reise gehen?

All das sind vielversprechende Ansätze, über die das Buch leider zu keinem Zeitpunkt hinwegkommt. Mir drängte sich leider der Eindruck auf, als wüsste Dana Grigorcea nicht, was sie in ihrem Buch eigentlich erzählen wollte. Eine essayistische Betrachtung über das Fortwirken des Dracula- und Ceaușescu-Mythos im Rumänien der Gegenwart? Eine moderner Schauerroman? Eine Satire? Ein Krimi aus der rumänischen Provinz? Eine Update von Bram Stokers Vampirklassiker?

Ein moderner Blick auf den von Erzählungen und Legenden geprägte Leben in den Karpaten? Eine Betrachtung über die Auswirkungen des Kommunismus in der heutigen Zeit? Irgendwie steckt all das in Die nicht sterben, zu Ende geführt wird leider nichts. Auch gelingt es Dana Grigorcea nicht, einen wirklichen Lesefluss zu erzeugen. Bis die Geschichte etwas Fahrt aufnimmt, vergeht viel zu viel Zeit.

Stattdessen zoomt Grigorcea auf einzelne erzählerische Bilder, schweift in der Erzählung ab, hinterfragt mehrmals die Chronologie der Ereignisse und die Zuverlässigkeit des eigenen Erzählens. Was durchaus ein spannendes Erzählungsunterfangen hätte werden können gerät hier leider zu einem konfusen und wenig überzeugenden Themenallerlei, das keinen überzeugenden literarischen Ton findet und wild hin- und hermäandert. Schade drum!

Ich rate statt dieser Dracula-Annäherung weiterhin entschieden zu Bram Stokers epochemachenden Klassiker.


  • Dana Grigorcea – Die nicht sterben
  • 978-3-328-60153-1 (Penguin)
  • 272 Seiten. Preis: 22,00 €

Zora del Buono – Die Marschallin

Zora del Buono schreibt über Zora del Buono. Wer nun allerdings ein weiteres Werk des boomenden Genres Autofiktion erwartet, sieht sich schnell getäuscht. Vielmehr nähert sich die Autorin in Die Marschallin ihrer eigenen Großmutter literarisch an. Ein Buch, dessen starke zweite Hälfte die Mängel der ersten wettmacht.


Wenn es um die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts geht, steht uns die Bundesrepublik lebhaft vor Augen. Dass auch andere Regionen mit einer mindestens ebenso wechselhafte Geschichte aufwarten können, das verlieren wir leicht aus dem Blick. Besonders der ehemalige Ostblock mit seinen sich verändernden Ländergrenzen und ethnischen Spannungen ist ein spannendes Beispiel, das wir hier in Zentraleuropa nicht immer auf dem Schirm haben. Wie sehr die Verwerfungen ganze Generationen geprägt haben, davon erzählt Zora del Buonos Roman Die Marschallin. Darin erzählt sie die wechselhafte Geschichte ihrer eigenen Großmutter. Zeit ihres Lebens besaß diese nacheinander fünf Pässe, die ihre verschiedenen Nationalitäten dokumentierten. Aufgewachsen in den 1910er Jahren in Bovec, einem kleinen Ort im heutigen Slowenien, lebte sie ein Leben, das auch Stoff für ein ganzes Dutzend Romane ergeben würde.

Eine Kindheit mit vier Brüdern in Slowenien, ein Umzug nach Italien, die Hochzeit mit dem Arzt Pietro del Buono. Ein eigens geplantes Haus, drei Söhne. Der Aufstieg Mussolinis, der Aufstieg Titos an die Macht. Die Entstehung von Jugoslawien, Partisanenkriege, tragische Unglücksfälle en masse. In Zora del Buonos Leben spiegelt sich die ganze wechselvolle Geschichte dieses so besonderen Jahrhunderts.

Das wechselvolle Leben der Marschallin

Zora del Buono - Die Marschallin

Zora del Buono erzählt davon weitestgehend chronologisch und beginnt im Mai 1919 mit der Geschichte ihrer Großmutter. Sie springt von dort aus durch die Jahre, verfolgt Zoras Lebensgeschichte ebenso wie die ihres Mannes und der Kinder.

Bis nach El Shatt auf der Sinaihalbinsel in Ägypten entführt die Geschichte. Dorthin flohen im Zweiten Weltkrieg viele Italiener vor Mussolini. 17 Kapitel sind es, in denen Zora del Buono die Lebensgeschichten ihrer Familie bis hinein in das Jahr 1948 erzählt. Hiernach bricht die Erzählung ab, um mit einem erzählerischen Perspektivwechsel hin zu Zora selbst 1980 zu enden. Im Pflegeheim räsoniert sie über ihrer Geschichte und die Schicksale ihrer Familienmitglieder. Viele erzählerische Fäden werden hier zuende geführt, die im ersten Teil des Buchs noch in der Luft hingen.

Tatsächlich rundet auch erst dieser Teil das ganze Buch, das zuvor viele Themen angerissen hat, aber kaum Raum für eine zufriedenstellende Ausarbeitung bot. So ist da zum einen ja schon die Rasanz, mit der Zora del Buono erzählt. Auf nicht einmal 300 Seiten werden die 29 Jahre Familien- und Zeitgeschichte in Hochgeschwindigkeit abgehandelt. Zum anderen weist dieses Buch eine unglaubliche Fülle an Schauplätzen, Themen und Personal auf. 50 Personen führt alleine schon das Dramatis personae auf. Dann sind da auch noch jede Menge Themen wie Kommunismus, Partisanenkriege, Homosexualität, die Frage, was eine Familie ausmacht, Medizin, Tito, das Leben Antonio Gramscis und dergleichen mehr. Zu viele Themen für 300 Seiten, die so auch leider nur oberflächlich behandelt werden.

Der zweite Teil heilt den ersten

Dieser erste Teil stellte mich aufgrund dieser Hast und Überladenheit überhaupt nicht zufrieden. Zwar verfügt dieser über wirklich interessante Anlagen, allerdings ist er alles andere als rund. Umso besser, dass der zweite Teil die Mängel des ersten heilt. So ist Zora del Buono hier als hochbetagte Dame eine Ich-Erzählerin, die ich zuvor dem Buch schon gewünscht hätte. Wie sie davon erzählt, welche Schicksalsschläge sie und ihre Familie erlitten, unterbrochen immer wieder von kurzen Miniaturen über die Tode von Familienmitgliedern, dann rührt das doch an. Die Marschallin, die zuvor ihre Kinder die Isonzoschlachten nachspielen ließ oder Waffen schmuggelte, wird hier zur gesetzten und desillusionierten Generalin a.D., der die Zügel doch irgendwann aus der Hand glitten.

So ist Die Marschallin ein Buch, das etwas mehr Fleisch auf den erzählerischen Rippen benötigt hätte. Zwar versöhnt das Ende, aber bis dahin braucht es einen Durchhaltewillen. Ein Familienroman mit einem spannenden Setting, in dem allerdings mehr drin gewesen wäre.


  • Zora del Buono – Die Marschallin
  • ISBN 978-3-406-75482-1 (C.H. Beck)
  • 382 Seiten, 24,00 €