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Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff

Ein Schiff, ausgelegt für zweitausend Passagiere, belegt nur mit einer Handvoll Menschen, die ihre Kabinen kaum verlassen dürfen. Ausgewiesene Personen allesamt, die im neuen Russland unter Trotzki keinen Platz mehr haben. Und unter ihnen die junge Anouk, die einem Schriftsteller namens Michael Köhlmeier in Das Philosophenschiff ihre Lebensgeschichte erzählt und so die Erfahrungen nach der Oktoberrevolution in Russland noch einmal lebendig werden lässt.


Einen guten, wenn auch etwas windigen Ruf als Schriftsteller als Schriftsteller habe er, Michael Köhlmeier. Stets sei sein Umgang mit Realität und Fiktion etwas eigen – was ihn zum perfekten Kandidaten für ihr Vorhaben mache, ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen. So eröffnet es ihm die fast hundertjährige Architekturprofessorin Anouk Perleman-Jacob, die Köhlmeier zu ihrem Geburtstag in ihre Villa nach Hietzing eingeladen hat, wo sich zahlreiche höhergestellte Persönlichkeiten einfinden, darunter sogar der Vizekanzler der Alpenrepublik.

Eine russische Scheherazade

Er möge am nächsten Tag noch einmal zu ihr nach Hause kommen, dann werde sie ihm die Geschichte erzählen. So lockt die 1908 in St. Petersburg geborene Frau den Schriftsteller zu sich, der tatsächlich auf eine Heimreise nach Vorarlberg verzichtet und sich so in einer fast an eine Scheherazade erinnernden Erzählung der betagten Dame wiederfindet.

Denn einst wurden ihre Eltern von Trotzki aus Russland ausgebürgert. Er ein renommierter Architekt, sie eine Ornithologin, beide mit Sympathien für die Bolschewiki – und dann die Tochter, die zusammen mit den Eltern im Alter von nur 14 Jahren aus Russland ausreisen musste.

Zusammen mit einer Handvoll andere kritischen Stimmen wurde die Familie in St. Petersburg auf ein Schiff gebracht, welches die unliebsamen Denker*innen aus dem neuen Russland nach der Oktoberrevolution entfernen sollte. Dort fand sich Anouk Perleman-Jacob in einer wirklich gespenstischen Atmosphäre wieder. Denn den Passagier*innen war es untersagt, sich längere Zeit außerhalb der Kabinen aufzuhalten, der Service auf dem eigentlich für zweitausend Gäste ausgelegten Schiff blieb unsichtbar. Doch bei ihren heimlichen Streifzügen stieß das junge Mädchen dann auf einen ganz besonderen Gast, wovon sie dem lauschenden Schriftsteller in einigen Etappen erzählt.

Vom Entgleisen linker Ideen

Das Philosophenschiff ist ein Roman, der vom Entgleisen linker Ideen erzählt. Lenin, Trotzki und später Stalin, das totalitäre Denken der Machthaber und die omnipräsente Furcht, die unter ihrer Herrschaft zunehmend um sich griff und in der schon so etwas Harmloses wie ein Gedicht Grund für eine Verhaftung oder gar Exekution sein konnte, all das scheint in den Erinnerungen Anouk Perleman-Jacobs auf.

Michael Köhlmeier - Das Philosophenschiff (Cover)

Die beklemmende und schon fast kafkaeske Atmosphäre der Familie vor der Deportationen und danach dann auf dem antriebslosen Schiff im Finnischen Meerbusen, die Verzweiflung der Menschen, Suizide und die ständig lauernde Gefahr, all das sind Erinnerungen, die Köhlmeier und seine Auftraggeberin gemeinsam durchwandern.

Durch die Klammer der Scheherazade erlebt diese Rekapitulation der damaligen Zustände, die aus der brutalen Geschichte Russlands erwuchsen, noch eine weitere Ebene. Denn Köhlmeier befasst sich während seiner nachmittäglichen Unterhaltungen mit der greisen Dame auch mit deren Hintergrundschichte und ihrem Umfeld.

Dieses hält ebenso wie seine eigene Geschichte Anknüpfungspunkte zu linkem Terrorismus und den entgleisten linken Ideen bereit. So umweht die Freundin, Betreuerin und ehemalige Studentin Anouk Perleman-Jacobs die Fama von Terrorismus in den USA – und auch Köhlmeiers Bekannter aus Studentenzeiten sympathisierte als Mitglied des KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschlands) einst mit linken Diktatoren wie Stalin oder Pol Pot. Dieser Bekannte erlebte dann sogar die Androhung einer Liquidation am eigenen Leib – womit sich wieder der Bogen zu den Geschehnissen in Russland unter Trotzki schließt, waren Attentate und staatliche Exekutionen doch ein Merkmal jener Zeit nach der Oktoberrevolution.

Erinnerungen und wie man sich diese vom Leib hält

Neben solchen großen Bögen in einem doch recht schmalen Buch ist Das Philosophenschiff auch ein Buch über Erinnerungen und darüber, wie man sie sich vom Leib zu halten versucht. Denn das Gedächtnis, es ist ein „ineffektives Gerät“, wie Anouk Perleman-Jacob im Gespräch mit Köhlmeier feststellt, der auch selbst mit dem autofiktionalen Erzählrahmen die Grenzen zwischen Fakt und Wirklichkeit verwischt, ganz wie es die Architekturprofessorin von ihm behauptet hat.

Welche Erinnerungen lassen wir zu, mit welchen Behauptungen und imaginierten Wahrheiten schützen wir uns selbst? Das führt Köhlmeiers Roman hervorragend vor, auch wenn das Buch noch etwas mehr erzählerisches Fleisch auf den Rippen verdient hätte. So kennzeichnen Andeutungen, Abschweifungen und Exkurse etwa über Begehren oder Küchenbrutzeleien den Roman, der seine eigene Geschichte des Schiffs mit seiner besonderen Besatzung immer mal wieder aus den Augen zu verlieren droht, in meinen Augen dann aber doch noch die Kurve bekommt, bevor die Erzählung dann abbricht. Köhlmeier könne sich die übrigen Lücken in der Geschichte ja zusammenreimen könne, so die etwas schroffe Aussage der Architektin am Ende des Buchs.

„Nun ist meine Geschichte zu Ende. Den Rest können Sie sich zusammenreimen aus den Stücken, die ich Ihnen bereits erzählt habe. Wenn Ihnen das nicht genügt, fragen Sie Alice, sie gibt Ihnen gern Auskunft. Aber vergessen Sie nicht, wer Sie sind: Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt.“

Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff, S. 221

Fazit

Ich hätte lieber noch von Anouk Perlemann-Jacob selbst diese Lücken gefüllt gesehen, aber auch so ist Das Philosophenschiff ein starker Roman über das, was passiert, wenn sich Ideen verselbstständigen und gute Theorien in besorgniserregende Praktiken kippen. Der Umgang mit Eliten und Erinnerungen, die gewaltgesättigte Vergangenheit Russlands, das Schiff und die Scheherazade, die Revolution und das junge Mädchen – all das sind Themen, die der österreichische Vielschreiber Michael Köhlmeier in diesem Roman voller doppelter Ebenen lesens- und nachdenkenswert umkreist.

Mehr Stimmen zu Das Philosophenschiff gibt es im NDR, bei der Frankfurter Rundschau, im SWR und bei Deutschlandfunk Kultur.


  • Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff
  • ISBN 978-3-446-27942-1 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 24,00 €
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Dana Grigorcea – Die nicht sterben

Spukt Dracula noch immer in Rumänien herum? Diesen Verdacht könnte man hegen, wenn man Dana Grigorceas neuen Roman Die nicht sterben liest. Sie erzählt von einer in ihre Heimat zurückkehrenden Malerin, dem Mythos von Vlad dem Pfähler und dem modernen Rumänien.


Als Orientierung für diejenigen unter Ihnen, die von der Sache nichts mitbekommen haben, muss ich anführen, dass B. eine kleine Ortschaft in der Walachei ist, südlich von Transsilvanien gelegen, am Fuß der der Karpaten. Die Bukarester und die Kronstädter, die hier Ferienhäuser besaßen, bezeichneten die Ortschaft schlicht als Dorf, die Einheimischen allerdings sprachen trotzig von einer Stadt, weil am Fluss früher eine große Weberei stand, in der viele Bauern zu Arbeitern umfunktioniert wurden; für die Meinen war B., ganz versöhnlich, ein wundervoller Kurort. Dieser Ort also – darüber ist man sich einig -wurde bis zu den Ereignissen, über die hier zu berichten sein wird, weder mit Dracula noch mit anderen Vampirgeschichten in Verbindung gebracht.

Dana Grigorcea – Die nicht sterben, S. 9 f.

In diesen Ort B. kehrt die namenlose Protagonistin also zurück. In Frankreich verdingt sie sich als Malerin und findet bei ihrer Großtante Margot, genannt Mamargot, Aufnahme. Schon bald erschüttert eine unerhörte Begebenheit das Dorf. In einer Gruft findet die Protagonistin eine teilweise schon verweste Leiche. Es handelt sich um einen früheren Dorfbewohner von B.. Ein entscheidendes Detail an dem Fund erregt dann aber Aufmerksamkeit weit über das Dorf hinaus. Bei dem Grab, auf dem der Tote gefunden wurde, handelt es sich der Legende nach um das Grab von Vlad, dem Pfähler, alias Dracula. Spukt der Vampir immer noch durch die Landschaft Rumäniens? Und hat er sich in B. ein Opfer gesucht?

Ein unsterblicher Mythos

Dana Grigorcea - Die nicht sterben (Cover)

Der Mythos von Dracula ist im wahrsten Sinne nicht totzukriegen. Das muss auch die Protagonistin in Dana Grigorceas Buch feststellen. Der findige Bürgermeister kreiert nach dem Fund des Toten in B. schnell einen Dracula-Tourismus. Auch in der Familie der Protagonistin ist der Blutsauger-Mythos noch sehr gegenwärtig. Dieser speist er sich aber eher aus der Erfahrung des Lebens unter der Knute von Ceaușescu. Der Diktator, der Rumänien systematisch ausblutete und hartherzig regierte, trug im Volk auch den Beinamen „Dracula“.

Die Nachwehen dieser Erfahrung zeigen sich in Die nicht sterben vielfach. So regiert die Politik noch immer nach Gutdünken und auch die Natur wird ausgebeutet, so ist etwa die Abholzung der letzten Urwälder in Rumänien ein Thema, das Dana Grigorcea indirekt beleuchtet.

Wohin soll die Reise gehen?

All das sind vielversprechende Ansätze, über die das Buch leider zu keinem Zeitpunkt hinwegkommt. Mir drängte sich leider der Eindruck auf, als wüsste Dana Grigorcea nicht, was sie in ihrem Buch eigentlich erzählen wollte. Eine essayistische Betrachtung über das Fortwirken des Dracula- und Ceaușescu-Mythos im Rumänien der Gegenwart? Eine moderner Schauerroman? Eine Satire? Ein Krimi aus der rumänischen Provinz? Eine Update von Bram Stokers Vampirklassiker?

Ein moderner Blick auf den von Erzählungen und Legenden geprägte Leben in den Karpaten? Eine Betrachtung über die Auswirkungen des Kommunismus in der heutigen Zeit? Irgendwie steckt all das in Die nicht sterben, zu Ende geführt wird leider nichts. Auch gelingt es Dana Grigorcea nicht, einen wirklichen Lesefluss zu erzeugen. Bis die Geschichte etwas Fahrt aufnimmt, vergeht viel zu viel Zeit.

Stattdessen zoomt Grigorcea auf einzelne erzählerische Bilder, schweift in der Erzählung ab, hinterfragt mehrmals die Chronologie der Ereignisse und die Zuverlässigkeit des eigenen Erzählens. Was durchaus ein spannendes Erzählungsunterfangen hätte werden können gerät hier leider zu einem konfusen und wenig überzeugenden Themenallerlei, das keinen überzeugenden literarischen Ton findet und wild hin- und hermäandert. Schade drum!

Ich rate statt dieser Dracula-Annäherung weiterhin entschieden zu Bram Stokers epochemachenden Klassiker.


  • Dana Grigorcea – Die nicht sterben
  • 978-3-328-60153-1 (Penguin)
  • 272 Seiten. Preis: 22,00 €

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Zora del Buono – Die Marschallin

Zora del Buono schreibt über Zora del Buono. Wer nun allerdings ein weiteres Werk des boomenden Genres Autofiktion erwartet, sieht sich schnell getäuscht. Vielmehr nähert sich die Autorin in Die Marschallin ihrer eigenen Großmutter literarisch an. Ein Buch, dessen starke zweite Hälfte die Mängel der ersten wettmacht.


Wenn es um die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts geht, steht uns die Bundesrepublik lebhaft vor Augen. Dass auch andere Regionen mit einer mindestens ebenso wechselhafte Geschichte aufwarten können, das verlieren wir leicht aus dem Blick. Besonders der ehemalige Ostblock mit seinen sich verändernden Ländergrenzen und ethnischen Spannungen ist ein spannendes Beispiel, das wir hier in Zentraleuropa nicht immer auf dem Schirm haben. Wie sehr die Verwerfungen ganze Generationen geprägt haben, davon erzählt Zora del Buonos Roman Die Marschallin. Darin erzählt sie die wechselhafte Geschichte ihrer eigenen Großmutter. Zeit ihres Lebens besaß diese nacheinander fünf Pässe, die ihre verschiedenen Nationalitäten dokumentierten. Aufgewachsen in den 1910er Jahren in Bovec, einem kleinen Ort im heutigen Slowenien, lebte sie ein Leben, das auch Stoff für ein ganzes Dutzend Romane ergeben würde.

Eine Kindheit mit vier Brüdern in Slowenien, ein Umzug nach Italien, die Hochzeit mit dem Arzt Pietro del Buono. Ein eigens geplantes Haus, drei Söhne. Der Aufstieg Mussolinis, der Aufstieg Titos an die Macht. Die Entstehung von Jugoslawien, Partisanenkriege, tragische Unglücksfälle en masse. In Zora del Buonos Leben spiegelt sich die ganze wechselvolle Geschichte dieses so besonderen Jahrhunderts.

Das wechselvolle Leben der Marschallin

Zora del Buono - Die Marschallin

Zora del Buono erzählt davon weitestgehend chronologisch und beginnt im Mai 1919 mit der Geschichte ihrer Großmutter. Sie springt von dort aus durch die Jahre, verfolgt Zoras Lebensgeschichte ebenso wie die ihres Mannes und der Kinder.

Bis nach El Shatt auf der Sinaihalbinsel in Ägypten entführt die Geschichte. Dorthin flohen im Zweiten Weltkrieg viele Italiener vor Mussolini. 17 Kapitel sind es, in denen Zora del Buono die Lebensgeschichten ihrer Familie bis hinein in das Jahr 1948 erzählt. Hiernach bricht die Erzählung ab, um mit einem erzählerischen Perspektivwechsel hin zu Zora selbst 1980 zu enden. Im Pflegeheim räsoniert sie über ihrer Geschichte und die Schicksale ihrer Familienmitglieder. Viele erzählerische Fäden werden hier zuende geführt, die im ersten Teil des Buchs noch in der Luft hingen.

Tatsächlich rundet auch erst dieser Teil das ganze Buch, das zuvor viele Themen angerissen hat, aber kaum Raum für eine zufriedenstellende Ausarbeitung bot. So ist da zum einen ja schon die Rasanz, mit der Zora del Buono erzählt. Auf nicht einmal 300 Seiten werden die 29 Jahre Familien- und Zeitgeschichte in Hochgeschwindigkeit abgehandelt. Zum anderen weist dieses Buch eine unglaubliche Fülle an Schauplätzen, Themen und Personal auf. 50 Personen führt alleine schon das Dramatis personae auf. Dann sind da auch noch jede Menge Themen wie Kommunismus, Partisanenkriege, Homosexualität, die Frage, was eine Familie ausmacht, Medizin, Tito, das Leben Antonio Gramscis und dergleichen mehr. Zu viele Themen für 300 Seiten, die so auch leider nur oberflächlich behandelt werden.

Der zweite Teil heilt den ersten

Dieser erste Teil stellte mich aufgrund dieser Hast und Überladenheit überhaupt nicht zufrieden. Zwar verfügt dieser über wirklich interessante Anlagen, allerdings ist er alles andere als rund. Umso besser, dass der zweite Teil die Mängel des ersten heilt. So ist Zora del Buono hier als hochbetagte Dame eine Ich-Erzählerin, die ich zuvor dem Buch schon gewünscht hätte. Wie sie davon erzählt, welche Schicksalsschläge sie und ihre Familie erlitten, unterbrochen immer wieder von kurzen Miniaturen über die Tode von Familienmitgliedern, dann rührt das doch an. Die Marschallin, die zuvor ihre Kinder die Isonzoschlachten nachspielen ließ oder Waffen schmuggelte, wird hier zur gesetzten und desillusionierten Generalin a.D., der die Zügel doch irgendwann aus der Hand glitten.

So ist Die Marschallin ein Buch, das etwas mehr Fleisch auf den erzählerischen Rippen benötigt hätte. Zwar versöhnt das Ende, aber bis dahin braucht es einen Durchhaltewillen. Ein Familienroman mit einem spannenden Setting, in dem allerdings mehr drin gewesen wäre.


  • Zora del Buono – Die Marschallin
  • ISBN 978-3-406-75482-1 (C.H. Beck)
  • 382 Seiten, 24,00 €
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Kommunismus und Singularitäten – eine Kapitulation

Als fleißiger Buchblogger des Bayerischen Buchpreises ist es natürlich eine Ehrensache, sich allen nominierten Titeln zu nähern und diese auch zu lesen. Eigentlich. Denn jetzt muss ich mein Scheitern eingestehen, und dies sogar zweifach. Während ich die drei nominierten Belletristikbücher (Das Genie, Justizpalast und Das Floß der Medusa) sehr gerne las und mir auch das nominierte Sachbuch Blau mit Gewinn zu Gemüte führte, stieß ich nun an meine Grenzen als Leser, im ökonomischen und intellektuellen Sinn. Aber eins nach dem Anderen.

Der erste Titel, bei dem ich eingestehen musste, dass es mit mir und dem nominierten Buch nichts mehr wird, war der Titel Die Farbe Rot: Ursprünge und Geschichte des Kommunismus von Gerd Koenen. Koenen, dessen wissenschaftliches Schaffen um den Kommunismus und seine Auswüchse kreist, versucht sich in seinem Buch an nichts Geringerem als einer umfassenden Darstellung des Kommunismus von seinen Anfängen bis in die Gegenwart hinein.

Ein durchaus löbliches Vorhaben, dessen Umfang allerdings zu einem Malus für mich geriet, denn Koenen beschränkt sich nicht auf einzelne Schlaglichter und konzise Betrachtungen, sondern will das ganz ganz große Ganze. Auf mehr als 1100 Seiten widmet sich Koenen den Gedanken, Theorien und Auswirkungen des Kommunismus. Dabei ist Koenens Buch auch noch wirklich klein gesetzt und in Großkapitel unterteilt. Bereits nach den ersten einhundert Seiten machte sich in mir die Erkenntnis breit: ich werde dieses Buch zumindest vor der Verleihung des Bayerischen Buchpreises am 7.11 nicht mehr lesen können. Viel zu faktenreich und umfassend ist Koenens Darstellung, als dass man sie nebenher in handlichen Portionen konsumieren könnte.

Zudem macht Koenens Schreibstil dem Genre des Sachbuchs wirklich alle Ehre. Er erzählt sehr faktensatt und nahe am wissenschaftlichen Duktus. Dies macht aus Die Farbe Rot ein trockenes, wenn auch sehr erkenntnisreiches Buch, für das mir zumindest in der aktuellen Situation die Zeit und Muße fehlen. Der Begriff Lehnstuhlbuch meiner werten Kollegin Katharina Herrmann ist genau richtig. Für geschichtsinteressierte Leser, pensionierte Studienräte und passionierte Sachbuchleser ist Die Farbe Rot ein schönes Weihnachtsgeschenk oder für sonstige Gelegenheiten, wenn viele Tage Lesezeit zur Verfügung stehen. Ansonsten empfehlen sich eher gerafftere Darstellungen, möchte man kompakt und etwas zügiger über den Kommunismus informiert werden. Dennoch kein schlechtes Buch; wir beide haben einfach gerade nicht zueinander gefunden.

 


Ein anderes Buch, zu dem ich wahrscheinlich nie finden werde, ist der Titel Die Gesellschaft der Singularitäten von Andreas Reckwitz. Dies hat auch einen ziemlich einfachen Grund – ich bin kein studierter Soziologe. Und wer das nicht ist, dürfte Schwierigkeiten mit Reckwitz‘ Buch bekommen, das sich zu meiner Verwunderung auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste befindet und allerorten gelobt und gepriesen wird.

Nicht dass das Buch schlecht wäre, das vermag ich gar nicht zu beurteilen – ich verstehe das Buch einfach nicht, da mir das notwendige soziologische Rüstzeug und Hintergrundwissen fehlt, ohne das die Lektüre wenig ergibt. Denn Reckwitz scheint wenig Interesse für niedrige Einstiegshürden oder Erklärungen für Nicht-Kundige zu hegen. Stattdessen dominiert hier noch krasser als bei Koenen ein trockenster, von Fachbegriffen durchwirkter Stil, der sämtliche Lesefreude und -lust nimmt. Hier zeigt sich ein typisches Suhrkamp-Buch von seiner akademischsten Seite, viel Dünkel inklusive. Dabei wäre das Thema, zugänglich aufbereitet, durchaus ein preiswürdiger Kandidat, aber in dieser Darstellungsform wurde das mit dem Buch und mir leider überhaupt nichts.

Das ist besonders schade, wenn man an den Gewinnertitel des letztjährigen Bayerischen Buchpreises zurückdenkt, nämlich Andrea Wulfs Humboldt-Biografie Alexander von Humboldt und die Entdeckung der Natur. Eine ebenso erkenntnisreiches wie farbiges, sprachlich ansprechendes wie niedrigschwelliges Buch für Laien und Nicht-Laien. So etwas hätte ich mir auch gewünscht, aber von den drei #baybuch-nominierten Sachbüchern scheint wirklich nur Blau diese Rolle erfüllen zu können.

Insofern finde ich dies ärgerlich, weil hier eine Chance vertan wurde, um fürs breite Publikum interessante Titel in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Stattdessen setzt man hier auf Nischentitel, die außerhalb von Unibuchhandlungen wohl wenig Absatzchancen bekommen dürften. Betrachte ich auch mein durchaus akademisches geprägtes Freundesumfeld, fällt mir auch niemand ein, der sich für Kommunismus und Singularitäten (zumindest in dieser Darstellungsform) begeistern könnte. Insofern sind und bleiben meine Daumen im Sachbuchbereich für Jürgen Goldsteins Blau: eine Wunderkammer seiner Bedeutung gedrückt.

Ein wirklich großes Dankeschön geht an meine ebenso unerschrockene wie denkschnelle Mitbloggerin Katharina Herrmann vom Bloggerkollektiv 54Books, die diesen beiden Titeln, die mich ins Stolpern brachten, wacker entgegengetreten ist. Sie hat den beiden Büchern viel Lebens- und Lesezeit geschenkt und zwei (wie ich finde sehr treffende) Rezensionen zu Rot und Die Gesellschaft der Singularitäten verfasst. Ein herzliches Dankeschön an sie an dieser Stelle!

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