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Bernardine Evaristo – Zuleika

Das Leben einer jungen schwarzen Teenagerin in London – und das zur Zeit der Römer auf der britischen Insel. Davon erzählt die Booker-Preisträgerin Bernardine Evaristo in ihrem Roman Zuleika aus dem Jahr 2001, der nun erstmals in der Übersetzung von Tanja Handels vorliegt. Dabei überrascht vor allem die Form von Evaristos Erzählen.


Zuleika, so heißt die junge Frau, die uns in Evaristos Roman ihr Leben präsentiert. Einst kamen ihre Eltern aus Khartum nach Londinium und nun hat es das nubische Mädchen- oder besser eigentlich ihr Vater – geschafft. Denn der mächtige Patrizier Lucius Aurelius Felix hat sich Zuleika zur Frau erwählt.

Das Schicksal der jungen Zuleika

Ein Umstand, der Zuleikas Vater jubeln lässt, in dem gerade einmal elfjährigen Mädchen allerdings eher Abscheu und Ekel auslöst, schließlich ist jener Felix „dreimal so alt und breit wie ich“. Mit weiblicher Mitbestimmung und Selbstbestimmung ist es im London des Jahres 211 nach Christus aber zumindest anfänglich nicht weit her. So wird sie, nachdem Felix Zuleika beim Baden ansichtig geworden ist, mehr oder minder als Vertragsgegenstand zwischen Vater und Patrizier behandelt und ausgehandelt.

Als Frau des Honoratioren, Großgrundbesitzers und Handlungsreisenden findet das Mädchen Aufnahme in dessen luxuriöser Londoner Villa am Walbrook River, was sie als Angehörige einer völlig anderen Gesellschaftsschicht anfangs mehr als befremdet. Kaum dem gemeinsamen Spiel mit ihrer Freundin Alba auf den Straßen entwachsen wird sie nun gebadet, findet sich in Sänften wieder, hat Personal, wird geschminkt und speist erlesene Köstlichkeiten.

Sie wird zu einer Art schwarzem It-Girl, woran Zuleika zunächst Gefallen findet. Doch die anfängliche Überwältigung ihres neuen Lebens weicht bald einer Langweile, ist doch auch die römische Oberschicht Londons in ihrem Streben nach Luxus und Überfluss eigentlich recht öde und berechenbar. Doch dann fällt der Blick von niemand geringerem als dem römischen Imperator Septimius Severus bei einem seiner Aufenthalte in Britannien auf die junge schwarze Frau…

Mädchen, Frau etc. im London der Römerzeit

Im Kern ist Zuleika die Geschichte eines jungen schwarzen Mädchens, das in der britischen Gesellschaft zur Zeit der Römer seinen Platz sucht und mehrere Rollen ausprobiert – oder der besser gesagt: dem von der patriarchalen Gesellschaft mehrere Rollen zugeteilt werden: Kind mit Migrationshintergrund, Teenagerin, gehorchende Ehefrau und verführerische Geliebte, mal passiv, mal aktiv gestaltend.

Bernardine Evaristo - Zuleika (Cover)

Mit dieser Vielzahl an Rollen und Lebensentwürfe schließt Bernardine Evaristo an ihren mit dem Bookerprize ausgezeichneten Roman Mädchen, Frau, etc. an, für den Evaristo 2019 die Ehrung erhielt. Obgleich man diese Reihenfolge eigentlich umdrehen muss, denn Zuleika erschien im Original bereits 2001, also achtzehn Jahre vor dem Buch, das Evaristo auch hierzulande ihren Durchbruch bescherte.

Dank dieses Erfolgs von Mädchen, Frau, etc. erschienen nun kontinuierlich weitere deutsche Übersetzungen aus dem Oeuvre Evaristos, darunter auch nun eben auch die Übersetzung dieses Frühwerks durch die Evaristo-erfahrene Übersetzerin Tanja Handels.

Was macht das Buch abseits der Themen aber jetzt so besonders? Es ist die Sprache und Form – denn Bernardine Evaristo greift wie jüngst etwa Maggie Milner in Paare oder vor einigen Jahren Christoph Ransmayr in Der fliegende Berg auf die Form des Versromans zurück, um Zuleika ihre Geschichte erzählen zu lassen.

Die Form eines Versromans

Zumeist in reimfreien Paaren bietet uns Zuleika ihre Geschichte dar, unterbrochen durch Einschübe wie kleine Gedichte in mal gebundener oder mal freier Form. Dem starren lyrischen Formskelett des Verses steht dabei eine Freiheit in Stil und Gestaltung entgegen, die sich in der Sprache Evaristos selbst fortsetzt.

Denn Zuleika kennzeichnet eine gerade aberwitzige und völlig synthetische Verbindung von alter römischer und moderner Welt, was sich in der Sprache und dem Stil des Buchs niederschlägt. So gibt es in Evaristos Version des römischen Londinium Coffee to go, man trägt Baggy Tuniken oder „Puff Daddy Fabius blies die Tuba“ (S. 125). Hier verschmelzen Elemente des Gangstarap, des Versepos, lateinische Vokabeln und Floskeln mit einer zeitgenössischen Sprache, die diese Brüche ausgiebig zelebriert.

Die Kunst von Evaristo ist nun, dass sich trotz aller Brüche und Künstlichkeit des Ganzen der Versroman doch zu einem erstaunlich glaubwürdigen und gut lesbaren Ganzen verbindet, der nachvollziehbar und anschaulich von der Lebenswelt der jungen schwarzen Zuleika in einer feindlichen Umgebung erzählt.

Fazit

Fremdbestimmung, Emanzipation, die Kraft der Verführung und die notwendige Anpassung an immer neue Situation sind Themen, die dieses Buch kennzeichnen und die sich gerade durch die hochgradig artifizielle, von Tanja Handels fabulös ins Deutsche hinübergerettete Sprache von anderen Werken mit ähnlichen Themen abheben. Hier findet die Lebenswelt der Römer zusammen mit einer geradezu postmodernen Sprache, die von ihren Brüchen, Widersprüchen und kleinen Anspielungen von Shakespeare bis zur Bibel lebt.

Ein wildes Buch, dessen Themen und Sprache trotz seines vordergründig historischen Settings auch dreiundzwanzig Jahre nach dem ursprünglichen Erscheinen absolut zeitgemäß und entdeckenswert sind!


  • Bernardine Evaristo – Zuleika
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-608-50238-1 (Tropen)
  • 264 Seiten. Preis: 25,00 €
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Alex Hay – Mayfair House

Während im Haus der Ball der Saison gegeben wird, räumt eine Truppe um die ehemalige Haushälterin das Herren – oder besser Damenhaus leer. Alex Hay transferiert in Mayfair House den klassischen Heist-Novel in die edwardianische Ära und macht damit erfreut damit die Herzen aller Downton Abbey-Nostalgiker.


Die Park Lane in London im Jahr 1905: hier befindet sich das spektakuläres Herrenhaus der de Vries‘. In Sachen Status ist dieses Haus ganz weit vorne. Eine Vielzahl an Zimmern, eine Bibliothek, ein Bakkaratzimmer, Kapelle, Vestibül und ein repräsentatives Treppenhaus. Dieses Anwesen hat alles, was sich der standesbewusste und mehr als wohlhabende Londoner zur Beginn des 20. Jahrhunderts nur vorstellen kann.

War in London jemals ein Haus mit einem solchen Übermaß an Prunkt, Protz und Pracht verziert gewesen? Wüsten aus eiskaltem Marmor, Öden aus glänzendem Parkett. Die Wände mit französischer Seide bespannt, im Rokokostil vertäfelt und durch Pilaster gegliedert. Und alles elektrifiziert: Spannung, die in den Wänden pulsierte, elektrische Kronleuchter, so groß wie Windmühlen. Monumentale Gaskamine. Unendliche Glasflächen, die stechend nach Essig rochen.

Und in allen Räumen echte Schätze: atemberaubende van Dycks, kolossale Kristallschalen, überquellend von Nelken. Kunstgegenstände aus Gold, Silber und Jade, Putten mit Augen aus Rubinen und Zehennägeln aus Smaragden. Mit Zebrafellen bezogene Sofas im Empfangssalon, Bakkarat-Tische aus Elfenbein und Nussbaum, rosa- und onyxfarbene Flamingos vor den Bädern. Die Bibliothek mit der teuersten privaten Büchersammlung in Mayfair. Das Rosenholzzimmer, der Rote Salon, der Ovale Salon, der Ballsaal. Ein Raum wie der andere mit Pfauenfedern und Lapislazuli verziert und einem unerschöpflichen Lilienvorrat geschmückt.

Nichts davon konnte Mrs King heute noch beeindrucken.

Alex Hay – Mayfair House, S. 14 f.

Nein, Mrs King ist wirklich nicht mehr zu beeindrucken. Denn ihr, die als emsige Haushälterin den Laden zusammenhielt und für die Bewirtschaftung des prunkenden Gebäudes sorgt, wurde soeben gekündigt. Ein nächtlicher Besuch im männlichen Dienstbotentrakt wurde ihr zum Verhängnis – weswegen sie nun auf eine Rache sinnt, die es in sich hat.

Verlobungsball und Raubzug in einem

Denn während sich die Erbin Miss de Vries mit dem Gedanken trägt, einen Ball zu geben, legt Mrs King derweil eine erstaunliche kriminelle Energie an den Tag. Sie schart eine Gruppe von Frauen um sich, darunter die Schauspielerin Hephzibah und die Unterweltgröße Mrs Bone. Sie alle wollen gemeinsam das luxuriöse Anwesen leerräubern, während Miss de Vries gleichzeitig im Haus einen Ball gibt, auf dem ihre Verlobung bekanntgegeben werden soll.

Alex Hay - Mayfair House (Cover)

Diese unterschiedlichen Stränge verknüpft Alex Hay nach einem schnellen Einstieg mit einem Countdown, der die Kapitel einleitet und der die vierundzwanzig Tage in rascher Folge herunterzählt, ehe Ende Juni 1905 die allesentscheidende Nacht stattfindet. Dabei zeigt May die mannigfachen Vorbereitungen für den Ball und den Coup die sich widersprechen und bei denen sich – ganz genrekonventionell – Interessen, Pläne und Beteiligte gegenseitig in die Quere kommen, was der Brite mit viel Lust am Pomp und dem Clash der vielen weiblichen Figuren inszeniert.

Hat das Genre Genre des Heist-Movies oder des Heist-Plots nicht erst seit Eric Amblers Topkapi oder der vor einem knappen Vierteljahrhundert erschienen Oceans-Reihe Reihe von Steve Soderbergh immer wieder neue Interpretationen erlebt (man denke nur an die höchst erfolgreiche Netflix-Serie Haus des Geldes), so verschmilzt Hay mit großer Lust den Herrenhausroman (oder hier vielmehr Damenhausroman) mit dem leichtgängigen Krimiplot, bei dem Männer wirklich nur eine Randerscheinung darstellen.

Das ist unterhaltsam gemacht, hat durch die beiden konträren Abendplanungen Drive und wurde von Regina Rawlinson in ein passend altmodisches Deutsch gekleidet. Hier ist von Schmu und Kalamitäten die Rede – und man beaugapfelt sich gar. All das lässt das historische Flair dieser überwiegend im Mayfair House spielenden Geschichte wirklich aufleben.

Fazit

Insgesamt gelingt Alex Hay mit diesem Roman ein historischer Roman, der einerseits im Herrenhaus-Ambiente schwelgt, auf der anderen Seite aber mit den Dienstmädchen und den anderen am Clou beteiligten Frauen jene Figuren in den Blick nimmt, die in zeitlich ähnlich gelagerten Romanen eher nur am Rande vorkommen. Das macht aus Mayfair House einen kurzweiligen Lesespaß, der nicht nur England-Nostalgiker gut unterhalten dürfte!


  • Alex Hay – Mayfair House
  • Aus dem Englischen von Regina Rawlinson
  • ISBN 978-3-458-64440-8 (Suhrkamp)
  • 405 Seiten. Preis: 20,00 €
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Nicola Upson – Experte in Sachen Mord

Tod und Intrigen im Londoner West End. Im ersten Band ihrer Reihe um Josephine Tey und Archibald Penrose nimmt Nicola Upson die Leser*innen mit in die flirrende Welt des Theaters und erzählt in Experte in Sachen Mord von Morden, Familiengeheimnissen und rauschenden Theatererfolgen zwischen Covent Garden und St. Martins Lane.


Auch wenn Josephine Tey selbst vom letzten Zug nach Schottland schrieb, so nimmt sie als fiktive Figur in Nicola Upsons Roman Experte in Sachen Mord den genau umgekehrten Weg. So reist sie zu Beginn des Romans aus ihrer schottischen Heimat in Inverness nach London. Der Grund für die Reise der eigentlich recht reisescheuen Elizabeth Mackintosh alias Josephine Tey hat aber einen guten Grund. So ist es ihr Theaterstück Richard von Bordeaux, das am Theater des Impresarios Bernard Aubrey sämtliche Rekorde bricht.

Die Theaterwelt im Londoner West End

Nicola Upson - Experte in Sachen Mord (Cover)

Ausverkaufte Vorstellungen, lange Schlangen vor den Ticketschaltern, Souvenirpuppen passend zur Inszenierung und Schauspieler, die in ihren Rollen zu Stars werden, darunter auch der junge John Terry (dessen reales Vorbild John Gielgud Upson im Roman kaum verhüllt). Teys Stück löst im Londoner West End einen regelrechten Hype aus, und so giert der Impresario natürlich nach weiteren Erfolgen, die er in Form einer geplanten Tour des Stücks mitsamt seinem Erfolgsschauspieler gefunden zu haben meint.

Auch Elspeth, eine junge Frau, ist großer Fan von Teys Stück und der Autorin selbst, mit der sie zufällig ein Zugabteil auf dem Weg nach London teilt. Kurz nach der Ankunft des Zuges im Bahnhof King’s Cross wird die junge Frau allerdings brutal ermordet. Der Tatort im Zugabteil ist geschmückt und wie ein Bühnenbild inszeniert. Das macht auch Archibald Penrose von Scotland Yard stutzig.

Der alte Freund Josephines beginnt mit seinen Ermittlungen, die ihn mitten hinein ins Londoner West End führen. Denn nicht nur vor den Kulissen der Theater gibt es Morde und Intrigen – auch dahinter geht es nicht minder gefährlich zu. Neidische Inspizientinnen, ambitionierte Stars und mittendrin Aubrey als Impresario, der alle Charaktere und Pläne zusammenhalten muss.

Archie Penrose und Josephine Tey ermitteln

Dass Experte in Sachen Mord der Auftakt einer Reihe ist, merkt man dem Krimi nur in einigen wenigen Aspekten an. So ist die Einführung der Nebenrollen etwas schematisch und die Zeichnung mancher Figuren doch etwas unterambitioniert – und auch gewisse Längen schleichen sich inmitten der Mördersuche im Westend ein. So sind 480 Seiten für den Plot etwas überdehnt, wenngleich es Nicola Upson schlussendlich gut gelingt, die einzelnen Fäden und Charaktere des Buchs zu einem wahren Familiendrama zusammenzuführen.

Die besondere Stärke liegt in der Atmosphäre, die die britische Autorin hier heraufzubeschwören weiß. Trinkrituale hinter der Bühne der Theater, Josephine Tey bei zwei Freundinnen, die als Ausstatterinnen entscheidend zum Erfolg vieler Theaterproduktionen beitragen, Klatsch und Tratsch und die Grillen mancher Theaterstars – Experte in Sachen Mord schöpft hier aus dem Vollen und lässt die Theaterbegeisterung der Zwischenkriegszeit lange vor Kino, Musicals und Co wiederauferstehen.

Ähnlich wie Reginald Arkell in seinem 1953 erschienenen Roman Charley Moon ist auch dieser historische Krimi eine Hommage an die flirrende Theaterwelt Londons und die seiner Stars – mit der ermittelnden Krimiautorin Josephine Tey mittendrin.

Zudem gibt es in ihrem Krimi auch Anklänge an die Schrecken des Ersten Weltkriegs, der noch immer in den Köpfen der Britinnen und Briten vorhanden war und der auch auf die Geschehnisse in Experte in Sachen Mord entscheidende Auswirkungen hat. Somit ist der Krimi voller Zeitgeschichte und Lokalkolorit, was entscheidend zur Qualität des Cosy Crime-Titels beiträgt.

Fazit

Insgesamt gelingt Nicola Upson mit dem ersten Band ihrer Krimireihe um Josephine Tey und Archibald „Archie“ Penrose ein wirklich guter Auftakt zu einer Serie, die im englischen Original mittlerweile schon elf Bände umfasst. Theaterwelt, eine (trotz zweier Leichen) recht unblutiger Krimi, gemächliches Tempo, verbunden mit nur ein paar kleineren Anlaufschwierigkeiten machen aus Experte in Sachen Mord einen wirklich guten Krimi für alle Theaterfans und Freunde klassischer britischer Krimis.

Weitere Informationen zu Josephine Tey und Nicola Upsons Reihe gibt es auch auf dem Lady-Blog. Und mit Mit dem Schnee kommt der Tod liegt noch ein weiterer, eher in weihnachtlichem Rahmen angesiedelter Band der Reihe bereits besprochen vor (es handelt sich um den neunten Band der Reihe).


  • Nicola Upson – Experte in Sachen Mord
  • Aus dem Englischen von Verena Kilchling
  • ISBN 978-3-0369-5013-6 (Kein & Aber)
  • 480 Seiten. Preis: 22,00 €
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Baret Magarian – Die Erfindung der Wirklichkeit

Es gibt wirklich spektakulärere Leben als jenes, das Oscar Babel führt. Nachdem der Erfolg und die Inspiration als Maler ausblieben, fristet er nun als Kinovorführer sein Dasein. Da ihm dieses Leben zu trist ist, beschließt sein Bekannter Daniel Bloch zumindest auf dem Papier für etwas Schwung in Babels Leben zu sorgen. Doch die Fiktion wird schnell zur Realität – mit ungeahnten Folgen, wie Baret Magarian in Die Erfindung der Wirklichkeit zeigt.


Es sind zunächst äußerst subtile Änderungen, die Bloch seiner Version von Oscar Babel auf den Leib schneidert beziehungsweise schreibt. Er mag plötzlich die Kompositionen Wagners und sein Vermieter, in realiter ein echter Haustyrann, umschlingt diesen mit Liebe. Beängstigend wird es allerdings, als diese auf dem Papier erdachten Veränderung tatsächlich in Babels Leben Einzug halten. Sein Vermieter ist frisch verliebt, Tristan und Isolde üben plötzlich einen hohen Reiz auf Babel aus, er wird zum Aktmodell – und ein Kätzchen läuft ihm auch noch zu.

Bei diesen Veränderungen bleibt es nicht – denn Babel gerät in den Fokus des Medien-Impressarios Ryan Rees, der Babel zu einer Art modernem Propheten aufbauen will. Er steckt viel Geld in eine Kampagne, die Oscar Babel bekannt machen soll. Bei der Verleihung des Duchamp-Preises beleidigt er die anwesenden potentiellen Preisträger*innen, später werden einzelne Reden von Babel aufgenommen und entwickeln sich zum Hit. Und dann bucht Rees auch noch den Park Kensington Gardens, wo Babel erstmals vor großem Auditorium auftreten soll. Dieser Gig entwickelt sich dann aber völlig unerwartet und weckt an Erinnerungen an das Geschehen, das einst ein literarischer Antiheld namens Jean-Baptiste Grenouille mit seinem Parfum auf dem Marktplatz von Grasse auslöste.

Der Aufstieg des einen, der Abstieg des anderen

Während Oscar Babel zum Stadtgespräch avanciert, geht es mit dem Initiator von Babels Aufstieg immer weiter bergab. Bloch will nach den beängstigenden Ergebnissen seiner Fiktion von Babels Neuschreibung ablassen – und wird immer kränker, während den Menschen um ihn herum allzu Unwahrscheinliches geschieht.

Baret Magarian - Die Erfindung der Wirklichkeit (Cover)

Davon erzählt Baret Magarian, der mit Die Erfindung der Wirklichkeit nun zum ersten Mal auf Deutsch zu lesen ist. Ähnlich wie seine Figur Oscar Babel hat auch Magarian schon als Aktmodell gearbeitet, zudem nennt der Verlag noch Tätigkeiten als Theaterregisseur, Übersetzer, Musiker oder Dozent, derer der Autor mit anglo-armenischen Wurzeln schon nachgegangen ist.

Seinem Buch stehe ich etwas zweigespalten gegenüber. So ist die Idee eines Aufstiegs eines Nobodys durch literarische Fiktion und skrupellose Medienmanager hin zu einem vieldiskutierten Mann mit hoher Reichweite durchaus interessant. Vor allem in Bezug auf das Spiel mit der Öffentlichkeit, die in Babel Dinge sehen möchte, die er gar nicht vorweisen kann, ist das Buch durchaus interessant und weist einige Parallelen zur Gegenwart auf.

Dennoch funktioniert das Buch für mich leider nicht wirklich. Mit Humor ist es ja eh so eine Sache, ist er doch höchst subjektiv und erreicht Menschen ganz unterschiedlich. Hier war ich für die Satire, die von vielen Seiten aus gepriesen wird, nicht wirklich empfänglich. Und auch in der „Gesellschaft der modernen europäischen Meister“ sehe ich dieses Buch im Gegensatz zum Klappentextlob von Jonathan Coe nicht wirklich, selbst wenn Magarian seinem Buch ein Zitat aus Bulgakows Der Meister und Magarita voranstellt.

Eine Nummernrevue und alberne Figurennamen

Das beginnt mit der Benennung von Figuren wie eben Oscar Babel, Vernon Lexicon, Tracy Fudge oder einer Journalistin namens Rebecca Murdeck, die man durchaus als satirisch bezeichnen kann, ich allerdings nur albern fand. Mag man über solche geschmacklichen Petitessen noch streiten, reichen meine Schwierigkeiten – und hier wird es deutlich gravierender – bis zur Struktur des Buchs selbst, das mir zu oft in eine klamaukige Nummernrevue zerfällt, anstatt eine stringente Geschichte zu erzählen.

So gibt es immer wieder eine komische Szenen wie die des Wahrsagers Alexi Sopso (auch hier wieder so ein überdrehter Name), der sich als völliger Dilettant seiner Zunft herausstellt. Das hält ihn dennoch nicht davon ab, seine Kundin zu überreden, bei einem Abendessen mit seinen strengen Eltern als Alibi-Freundin zu fungieren. Auch andere Szenen offenbaren Magarians Sinn für Komik, etwa wenn eine Figur ihr eigenes Haus anzündet oder Babel bei einem äußerst merkwürdigen Dreh für einen Dokumentarfilm zugegen ist.

Insgesamt fehlt der Geschichte in meinen Augen aber etwas der Zug und der klare Fokus auf die Erzählabsichten Baret Magarians. Sein Handling der Figuren ist nicht immer ganz souverän, denn während Bloch ziemlich schnell aus dem Fokus gerät, schieben sich andere Nebenfiguren in den Vordergrund, um erst viele Dutzend Seiten später wieder eine Rolle zu spielen, während sich immer wieder wirre Pamphlete Blochs oder Online-Artikel im Buch finden, die das Ganze etwas zerfahren wirken lassen. Darüber hinaus befremdeten mich Formulierungen wie die der Essenstafel beim Duchamp-Preis, die im Lauf des Abends langsam vergewaltigt wird.

Fazit

An solchen Stellen hatte ich das Gefühl, dass Magarian selbst seine Fabrikation, wie der Titel im englischen Original heißt, etwas entglitten ist. Vielleicht bin ich aber auch einfach nicht sonderlich empfänglich für den im Buch gepflegten Humor dieser parabelhaften Satire und kurzum schlicht der falsche Leser. Aber mit etwas mehr erzählerischem Zug, klareren Fokus auf die Hauptfiguren und eine weniger ausufernde Erzählweise hätte es vielleicht geklappt mit mir und der Erfindung der Wirklichkeit. So bleibt bei mir leider der Eindruck einer lauwarmen und deutlich zu langen Satire, der einige Straffungen gutgetan hätten.


  • Baret Magarian – Die Erfindung der Wirklichkeit
  • Aus dem Englischen von Cathrine Hornung
  • ISBN 978-3-85256-861-4 (Folio Verlag)
  • 481 Seiten. Preis: 28,00 €
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Tessa Hadley – Freie Liebe

Der Ehebruch, er ist in der Literatur ja ein mehr als gut verhandeltes Thema, von den Klassikern bis hin zu ganz aktuellen Romanen spielt weibliche Treue und weibliches Begehren immer wieder eine Rolle. Braucht es da noch einen Roman, der sich dieses Themas annimmt? Eigentlich nicht, aber wenn er von Tessa Hadley stammt, dann sollte man aufhorchen.


Es ist eigentlich eine ganz typische Durchschnitts-Existenz, die Phyllis Fischer führt. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern Colette und Hugh bewohnt die Vierzigjährige ein Haus mit großem Garten in guter Nachbarschaft, ihr Mann arbeitet als leitender Angestellter im Außenministerium, ein „mit allen Wassern gewaschener Arabist“ und Probleme quälen die Familie wirklich nicht.

Eigentlich war sie ganz einfach, ein einfacher Mensch, leicht glücklich zu machen, froh, wenn sie andere glücklich machen konnte. Sie war mit ihrem Leben zufrieden. Es war das Jahr 1967.

Tessa Hadley – Freie Liebe, S. 8

Doch gleich zu Beginn des Buchs soll ein abendliches Essen mit einem befreundeten Ehepaar stattfinden. Neben dem Ehepaar ist auch deren Sohn Nicholas „Nicky“ anwesend, der mit Phyllis von der Tafel aufbricht, um die Sandale eines der Kinder aus einem Brunnen bei den Nachbarn zu angeln. Die Rettungsmission gelingt – und es kommt zu einem folgenreichen Kuss im dunklen Garten der Nachbarn.

Fortan ist Phyllis in Liebe zu Nicky entbrannt – was auf Gegenseitigkeit beruht. Sie besucht diesen in seiner Londoner Bude und es entspinnt sich ein folgenreiches Tête-a-tête, das sich intensiviert.

Ein Riss im familiären Gefüge

Tessa Hadley - Freie Liebe (Cover)

Phyllis beschließt, auf unbestimmte Zeit zu ihrem jungen Liebhaber zu ziehen, der im Dunstkreis von Beatniks und Revoluzzern integraler Teil des „Swinging Londons“ ist. Kurzerhand schreibt sie ihrem Mann einen Zettel, auf dem sie knapp gefasst ihren Entschluss vermerkt, um fortan in der kärglichen Behausung bei Nicky ihr Glück inmitten von Diskussionen und freier Liebe zu finden

Roger versucht, sich wenig anmerken zu lassen und führt den Alltag fort, nur jetzt eben ohne Phyllis an seiner Seite. Der Sohn Hugh kommt ins Internat und Colette steht kurz vor ihren Abschlussprüfungen. Und obwohl zunächst der Riss im familiären Gefüge zunächst wenig sichtbar ist und von allen Beteiligten so gut es kaschiert wird, so ist er doch folgenreich und vertieft sich immer weiter.

Während sich Phyllis Hals über Kopf in das neue Leben mit ihrem jugendlichen Liebhaber stürzt, verliert die vorher so kontrollierter und emsige Colette nicht nur in der Schule alle Orientierung und gibt sich lieber mit neuen rebellischen Freunden ab, statt konzentriert für die Abschlussprüfungen zu lernen. Ihr Vater sucht bei Jean Halt, Nickys Mutter, deren Besuch an jenem Abend die fortwirkenden Ereignisse erst auslöste.

Ehebruch und Swinging London

Der Reiz an Tessa Hadleys Roman Freie Liebe ist nun, dass er die höchst private Ehebruch-Geschichte mit einem Porträt des tiefgreifenden Wandels in der englischen Gesellschaft, insbesondere des „Swinging Londons“ kombiniert. Während die Familie der Fischers zunehmend an Halt und Sicherheiten verliert, wälzt sich auch die Gesellschaft um, gelten die bisherigen Standards nicht mehr, drängt die „working class“ an die Macht und sucht die Konfrontation mit der staatlichen Gewalt.

Es wird über kommunistische Ideale diskutiert, Schwarze emanzipieren sich und treten für Gleichberechtigung ein – und mittendrin die unbedarfte Phyllis, die bislang mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter völlig zufrieden war und sich nun als Geliebte in einer aufregenden, aber auch komplizierten Welt wiederfindet. Die enge und ärmliche Kammer Nickys öffnet ihr eine ganz neue Welt – was aber nicht ohne Folgen bleiben wird und dabei von Tessa Hadley auch mit einem ödipalen Twist versehen wird, ohne an dieser Stelle zu viel verraten zu wollen.

Fazit

Das ist in der Verschränkung von Privatem und Öffentlichem, von familiären Strukturen und der freien Radikalität interessant und anschaulich gelungen. Ihre Figuren werden von Hadley gut ausgeleuchtet und dürfen auch in aller Widersprüchlichkeit bestehen. Zudem fängt sie den Zeitgeist und den Lokalkolorit im „Swinging London“ gelungen ein und entwickelt ihre werkimmanenten Themen (gefestigte Beziehungen von Figuren in der Mitte ihres Lebens, Begehren, Freundschaften und Familien) hier gelungen weiter, ohne sich selbst zu kopieren. Schön wäre es nun, wenn das Schaffen Tessa Hadleys hierzulande mehr Bekanntheit erführe – die Britin würde es verdienen.


  • Tessa Hadley – Freie Liebe
  • Aus dem Englischen von Christa Schuenke
  • ISBN 978 3 311 10042 3 (Kampa)
  • 384 Seiten. Preis: 22,00 €
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