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Nora Bossong – Reichskanzlerplatz

Zwei Menschen und ihre Wege ins System des „Dritten Reichs“ untersucht Nora Bossong in ihrem neuen Roman Reichskanzlerplatz. Wo verläuft der Grat zwischen Anpassung und Unterstützung eines faschistischen Systems? Das ist die Frage, die hinter Bossongs Roman aufscheint.


Es beginnt alles 1919. In diesem Jahr setzt die Handlung von Reichskanzlerplatz ein, indem Nora Bossong gleich zu Beginn die drei Figuren einführt, die für das Geschehen in ihrem Roman zentral sein werden. Erzählt wird das Geschehen aus Sicht des Ich-Erzählers Hans Kesselbach, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg kämpfte und bei Neuve-Chapelle eine schwere Kriegsverletzung erlitt. In seiner Familie scheint noch die alte Kaiserzeit auf, die nun, kurz nach dem Ende des Großen Kriegs, an ihr Ende gekommen ist.

Als einziger Sohn lasten die Erwartungen seiner Familie auf ihm, der er als Zwölfjähriger nun das Arndt-Gymnasium in Dahlem besucht. Dieses 1909 steht die neugegründete Schule für preußischen Drill und Exzellenz, der den rein männlichen Schülern aus der Oberschicht hier beigebracht werden soll. Es ist der Ort, an dem Hans mit Hellmut einen Mitschüler kennenlernt, der entscheidenden Einfluss auf sein Leben nehmen soll.

Ich denke an Hellmuts Mutter. Sie starb kurz nach dem Krieg an der Spanischen Grippe, und ich habe sie nie kennengelernt. Hellmut kam erst einige Monate später in unsere Klasse, blass und schmal, als sei er selbst erkrankt. Der Tod seiner Mutter war das Erste, was wir über ihn wussten, das Zweite war, dass sein Vater ein großes Unternehmen führte, und in der Pause wurden wir von unserem Lehrer geschickt, ihm unser Beileid auszusprechen, man wusste nicht so recht üb für das eine oder das andere.

Nora Bossong – Reichskanzlerplatz, S. 11

Hans & Hellmut & Magda

Von Beginn an fühlt sich Hans zu Hellmut hingezogen, der diese Nähe auch zögerlich erwidert. Nach einer immer weiter voranschreitenden Annäherung führt dann allerdings das Geschenk eines Gedichtbandes von Oscar Wilde mitsamt der darin mitschwingenden Symbolik zu einer Zäsur zwischen den beiden Jungen. Für homosexuelle Neigungen ist im Neuen Berlin besonders in den Gesellschaftsschichten der Militärs und Industriellen kein Platz. Und so erfolgt erwartungsgemäß die Distanzierung von Hellmut zu Hans.

Nora Bossong - Reichskanzlerplatz (Cover)

Ein verbindendes Element gibt es aber zwischen den beiden Jungen über den Bruch hinweg, und das schon seit Beginn des ersten Kennenlernens an. Es handelt sich um Hellmuts Stiefmutter Magda. Diese hieß nach Adoption, wurde dann aber nach einem Kennenlernen des verwitweten Industriellen Günther Quandt im Alter von gerade einmal neunzehn Jahren zu dessen neuer Frau an seiner Seite, die sich um die Erziehung von Quandts Kindern, darunter eben auch Hellmut, kümmern sollte.

Schon beim ersten Treffen in der hochherrschaftlichen Villa fällt Hans Magda ins Auge. Verloren und mit ihrer Rolle fremdelnd, altersmäßig näher den beiden Jungen als an ihrem doppelt so alten Ehemann übt sie auf Hans schon seit der ersten Begegnung eine große Faszination aus. Langsam nähern sich die beiden an, musizieren sogar gemeinsam vierhändig.

Die nicht zu greifende Madame Quandt

Auch über den plötzlichen Tod hinaus bleibt die Faszination für diese niemals ganz zu greifende Madame Quandt bestehen und mündet in eine Affäre. Hans wird so zum Gast ihrer neuen und höchst luxuriösen Wohnung am Reichskanzlerplatz, in der er Magda besucht. Die Ironie der Geschichte dabei: diese Umstand einer neuen Wohnung für ihre Affäre hat Hans indirekt durch die Affäre selbst herbeigeführt. Denn als Günther Quandt Mann Kenntnis von der Affäre erlangt, will er die Scheidung und gesteht Magda eine Wohnung an dem Platz zu, der nur kurz auf den Namen Reichskanzlerplatz hören sollte.

Denn nach der Machtergreifung Hitlers wurde aus dem Reichskanzlerplatz der Adolf Hitler-Platz, aus dem nach einer Rückbenennung schließlich der Theodor Heuss-Platz wurde, unter den ihn Berliner*innen heute noch kennen. Damit steht der Platz in guter Tradition zu seiner kurzzeitigen Anwohnerin.

Denn auch die geborene Magda Friedländer ist kreativ in Sachen Umbenennung und Neuerfindung. Schon zu Beginn der Kennenlernphase äußerte Hellmut Hans gegenüber abfällig, Madame Quandt wechsele so oft ihre Namen wie auch ihren Glauben. Ein Eindruck, den ihr Lebensweg bestätigt. Sie, die vor der Heirat mit Günther Quandt schon mit dem christlichen, budddhistischen und jüdischen Glauben sympathisierte und zudem eine Schwäche für Astrologie hat, scheint in den Braunhemden und Hitler eine neue faszinierende Religion entdeckt zu haben.

Gegensätzliche Lebenswege

Sie sucht zunehmed die Nähe der Führungsfiguren der aufstrebenden Nationalsozialisten, womit sich die enge Bindung der Affäre mit Hans zunehmend lockert.

Aus Sicht von Hans schildert Nora Bossong diese zunehmende Entfremdung, die mit einer gegenläufigen Positionierung im neuen politischen System einhergeht. Denn während Hans seine Homosexualität kaschieren muss, sich mit Verfechtern sozialistischer Ideen abgibt und schließlich sogar nach Italien ausweicht, um dort im Staatsdienst im Konsulat als Grenzgänger zwischen der Schweiz und Italien sein Leben zu leben, wird Magda zur Frau an der Seite des von ihr Jupp geheißenen Propagandaminister Joseph Goebbels.

Chronologisch beschreibt Bossong das Voranschreiten dieser Lebenswege, die immer weiter auseinanderlaufen, durch den damaligen Tod Hellmuts aber immer noch eine Verbindung haben, die bis in die Endphase des Zweiten Weltkriegs hinein wirken wird.

Der Weg ins System und aus dem System heraus

Während sich Hans von Magda entfremdet und sogar und mit seinem Gang nach Italien Distanz zum Berlin der Nazis sucht, begibt sich Magda bewusst in das neue System hinein. Sie, die stets die Nähe der Führungselite um Hitler sucht, wird später zu DEM nationalsozialistischen Rolemodel einer „deutschen Mutter“.

Bei einer letzten Begegnung vor dem familiären Suizid im Bunker schleudert sie Hans entgegen, dass sie ihre Kinder allein sie für das Reich bekommen habe. Sie hat sich geschmeidig an die neuen Begebenheiten angepasst und diese aktiv gefördert. Mit Grandezza und Entschiedenheit weiß sie den Arm zum Hitlergruß zu recken, während Hans mit dieser Gellschaftsordnung zunehmend Probleme hat.

Das Fehlen einer Partnerin an seiner Seite, die Bekanntschaft zu Oppositioniellen, die Flucht aus Berlin, all das sind Makel, die der nicht nur optischen Makellosigkeit Magdas entgegenstehen: da die erste Frau im Reich, die stets präsent ist, dort der Homosexuelle, für dessen Neigungen im Reich der Nationalsozialisten kein Platz ist. Diese Dichotomien, den Weg ins System hinein und hinaus, die Gegensätzlichkeit ihrer Figuren, all das arbeitet Nora Bossong auf historischer Grundlage überzeugend heraus.

Fazit

Durch den subjektiven Blick des Ich-Erzählers Hans auf Magda auf die komplexe Beziehung der zunächst drei und später zwei Beteiligten und die Entwicklung der Beteiligten gelingt ihr Nora Bossong ein Roman, der einen erzählerischen Spagat schafft.

Einerseits bleibt die Erzählung eng an der Biografie Magda Goebbels, da Nora Bossong mit vielen Quellen und gestützt auf historisches Material arbeitet. Dennoch nimmt sich die Autorin auch erzählerische Freiräume und schafft es durch ihre literarische Umformung und den indirekten Erzählansatz über Hans, dass Magda Goebbels bei allen Erinnerungen und Gedanken doch amorph und nicht ganz zu greifen bleibt. Was ist hier Überzeugung und was Kalkül?

Am Ende bleiben über das Ende von Reichskanzlerplatz hinaus noch Fragen – die Nora Bossong durch ihre Erzählweise klug erzeugt. Wie man sich der „ikonischen“ Frau im Dritten Reich zwischen Muttermythos und Täterliteratur komplex und angemessen annähert, das macht Bossongs Buch vor und belässt vieles im Ungefähren, statt sich mit eindeutigen Zuordnungen und Einordnungen aufzuhalten.


  • Nora Bossong – Reichskanzlerplatz
  • ISBN 978-3-518-43190-0 (Suhrkamp)
  • 295 Seiten. Preis: 25,00 €

[Titelbild: Von Bundesarchiv, Bild 146-1978-086-03 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5419081]

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