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Teresa Präauer – Kochen im falschen Jahrhundert

Ein Abend mit Freunden in der Altbauwohnung, eine Quiche und ein leichter Salat, dazu Crémant und gute Gespräche. Was sich nach einem makellosen Vorhaben anhört wird dann aber zu einem Abend, bei dem nicht nur der dänische Designtisch Macken davonträgt. Denn für die Protagonistin in Teresa Präauers neuem Roman fühlt sich hier alles nach Kochen im falschen Jahrhundert an.


Herzlich willkommen in Österreich, dem Land, wo das Essen ein wenig andere Namen als hierzulande trägt, man von Karfiol, Erdäpfeln, Fisolen und Schlagobers spricht. Hier planen die namenlose Gastgeberin und ihr Freund einen Abend mit Niveau. Zwar stehen die Bananenkisten vom Umzug in die Altbauwohnung im hippen Stadtviertel noch zur Hälfte unausgepackt daheim herum, der dänische Designtisch verheißt aber schon Gemeinschaft und Gemütlichkeit. Und so soll es ein Abend mit Freunden und gutem Essen werden.

Die Gastgeberin und ihr Freund laden dazu zwei befreundete Paare ein. Doch schon im Vorfeld zeigen sich Abweichungen vom Abend, der eigentlich perfekt werden sollte. Da ist zum Einen der Schweizer, der aufgrund terminlicher Unpässlichkeiten seiner Freundin alleine vor der Tür der Altbauwohnung steht. Und dann ist da auch noch das Ehepaar, dessen Nachwuchs für eine Verzögerung im Abendablauf sorgt. Denn während der Schweizer und die Gastgeber sich über die Knabbereien und die gut gekühlten Flaschen Crémant hermachen, lassen die verheirateten Partner*innen auf sich warten.

Ein Abendessen mit Stil

Während die Berieselung durch die Jazz-Playlist im Hintergrund gesichert ist, heißt es warten, debattieren und auf dem Balkon rauchen, ehe nach dem Eintreffen der Gäste dann der Genuss beginnen kann.

Der Quicheteig war knusprig geraten, fast bröselig, buttrig und gut gesalzen, die Füllung war mild, weich und mollig und hatte eine schöne gelbliche Farbe von Dotter. Der Speck war kross und würzig, die Zwiebeln beinah süß, der Lauch auch. Der Salat passte dazu, er schmeckte, das waren die richtigen Wörter, tatsächlich sommerlich und leicht, der Senf in der Vinaigrette verlieh ihm eine subtile Säure und Schärfe. Der Partner der Gastgeberin hatte die Quiche vorsorglich in schmale Stücke geteilt, und alle nahmen sich reihum noch etwas davon, und noch einmal, bis sie ganz aufgegessen war. Der Schweizer stecke den Finger in die Salatschüssel und leckte die restliche Vinaigrette davon ab. Wie damals als Kind zuhause! Die anderen lachten bei seinem Anblick und sagten zustimmend, ja, so müsse es sein. Man gratulierte der Gastgeberin zu einem gelungenen Abend, dem hervorragenden Essen. Man lobte ihr offenes Haus und ihren einladenden Tisch. Abermals entschuldigte man sich für das Zuspätkommen, aber nein, winkte die Gastgeberin ab, alles kein Problem.

Teresa Präauer – Kochen im falschen Jahrhundert. S. 132 f.

Man entstammt dem expeditiven Sinus-Milieu, ist aufgeklärt, problembewusst, diskutiert (oder besser parliert) gekonnt über Kulturelle Aneignung oder die günstig erstandenen und selbst aufgearbeiteten Möbel im Mid-Century-Stil. Rooftop-Bars in Abu Dhabi, Kenia, Japan- man war schon überall und hat sich doch bequem eingerichtet in den jeweiligen Leben.

Brüche in der Hochglanzfassade

Doch mit einer reinen Klischeetapete des bürgerlichen Lebens zwischen Spießertum und Hipstertum begnügt sich Teresa Präauer nicht – könnte man ansonsten doch auch einfach zu einem Manufactum-Katalog greifen, um der hier beschriebenen Lebenswelt nachzuspüren. Vielmehr arbeitet Präauer mit genauem Blick und verschiedenen inhaltlichen und stilistischen Mitteln die Brüche in der Hochglanzfassade des Abends zwischen Ottolenghi-Kochbuch und Gruppenselfie heraus.

Teresa Präauer - Kochen im falschen Jahrhundert (Cover)

Sinnbildlich ist der Wasserfleck, den der neue und bis dahin makellose dänische Designtisch aufgrund der Unachtsamkeit der Gäste davonträgt. Alles ist auf den ersten Blick perfekt und ohne Makel, aber doch weicht am Abend alles in unterschiedlichen Nuancen vom vermeintlichen Ideal ab, sei es im Kleinen am Tisch oder auch im Großen im Leben. Gäste kommen zu spät, die Nachbarin beschwert sich, uneingeladene Gäste und sogar die Polizei steht im Lauf des Abends vor der Tür, der sich immer weiter vom eigentlich geplanten Ideal entfernt. Insgesamt fühlt sich das Unternehmen der Abendgesellschaft für die Gastgeberin doch eher am, als würde sie im falschen Jahrhundert kochen, wie schon auch der Buchtitel auf die Bruchlinie hinweist.

Und auch Präauers Erzählansatz ist alles andere als glattgebügelt und zeichnet die Brüche nach. Sie wechselt sie die Perspektiven der Paare, manchmal scheinen die aneinandergereihten Szenen einen Schnittfehler zu enthalten und auch die Erzählhaltung selbst wechselt vom personalen Erzählen an zwei Stellen in eine Du-Anrede ihrer Figuren. Diese Brüche verbunden mit einigen Manierismen wie der Aufzählung jedes einzelnen Jazzstandards, immer wieder eingeflochtenen Betrachtungen über Austriazismen und eine konsequent durchgestaltete indirekte Rede kennzeichnen den Text Teresa Präauers, der seine ganze Raffinesse im Laufe des Abends beziehungsweise Buchs entfaltet.

Die feinen Unterschiede

So ganz bruchlos ist sie eben doch nicht, die eigene Existenz, um immer wieder treten im Lauf des Abends die feinen Unterschiede zwischen Wunsch und Wirklichkeit zutage – dass die polnische Nachbarin auf dem Balkon unter der Wohnung der Gastgeberin dabei auch noch Pierre Bourdieus berühmtes Werk liest, darf hier als programmatisch und schon fast überdeutlicher Wink auf eine mögliche Lesart von Kochen im falschen Jahrhundert gedeutet werden.

So wird die Abendgesellschaft hier zum Untersuchungsgegenstand, den Präauer mit scharfem Blick seziert und in ihren von Zutatenlisten unterbrochenen Kapiteln mithilfe verschiedener literarischer Mittel genau ausleuchtet. Ein Roman in der Tradition von Yasmina Reza und Vincenzo Latronico, der zwischen Klischees und Verwerfungslinien balanciert – und dabei gut unterhält, ohne zu gefällig zu sein. Das kann man sich schmecken lassen!


  • Teresa Präauer – Kochen im falschen Jahrhundert
  • ISBN 978-3-8353-5429-6 (Wallstein)
  • 198 Seiten. Preis: 22,00 €

Robert Seethaler – Das Café ohne Namen

Warum braucht ein Café unbedingt einen Namen? Es geht doch auch so, das beweist Robert Simon, der in Robert Seethalers neuem Roman im Wien des Jahres 1966 den Schritt in die Selbstständigkeit wagt. Er eröffnet ein Café am Karmelitenmark, das in der Folge zur Anlaufstelle für eine ganze Riege unterschiedlicher Menschen wird. Mit Das Café ohne Namen begibt sich der Österreicher Seethaler zurück in das Milieu der einfachen Leute – und damit auch zurück in der Erfolgsspur.


Mit seinen letzten beiden Romanen konnte Robert Seethaler nicht mehr wirklich an seine ebenso präzisen wie stimmigen Porträts Der Trafikant und Ein ganzes Leben anknüpfen. In Das Feld reduzierte er die Vita einer Stadt auf den Gang über einen Friedhofs mitsamt grabsteinkurzer Vignetten der Stadtbewohner und ihrer Schicksale. Mit Der letzte Satz schaffte er es dann vor zwei Jahren auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, diese Nominierung war aber auch von vielen kritischen Stimmen begleitet, in deren Chor auch ich mich einreihen musste. Sein Porträt Gustav Mahlers war allzu kurz und oberflächlich, schenkte der Musik, also dem zentralen Aspekt Mahlers Wirken, nicht wirklich viel Raum und ließ viele der Qualitäten vermissen, die Seethalers frühere Werke auszeichneten.

Umso schöner, dass er diese Qualitäten in Das Café ohne Namen nun wieder zeigt und so zu alter Stärke zurückkehrt. Das liegt in meinen Augen vor allem auf die Rückbesinnung auf Seethalers literarische Qualitäten, die für mich in der Konzentration auf das alltägliche Milieu der „einfachen“ Menschen liegen.

In seinem neuen Roman konzentriert sich Seethaler dabei auf Robert Simon, der als Kriegswaise in Wien aufwächst und sich in den 1960er Jahren als geschickter Arbeiter mit Hilfsarbeiten rund um den Karmelitenmarkt über Wasser hält.

Ein unerfahrener Wirt und ein Café ohne Namen

Das leerstehende Café an einer Ecke des Marktes und die Erinnerungen an frühere Zeiten lassen in ihm den Entschluss reifen, es trotz keiner großen gastronomischen Erfahrung dort auch einmal als Wirt zu probieren. Und so renoviert er die Liegenschaft und beginnt mit dem Betrieb des Cafés zunächst als reine Ich-AG. Er bietet ein bodenständiges Café mit einer kleinen Karte. Schmalzbrot, Wein in den Varianten rot und Weiß, Limonade, Soda und lokales Bier, das ist das Angebot des Cafés am Karmelitenmarkt. Schon kurz nach der Eröffnung wird Simons Gastronomie gut angenommen und erste Erfolge stellen sich ein.

Immer mehr Gäste kamen: Leute aus dem Viertel, Schichtarbeiter, Angestellte in Hemdsärmeln, die Mädchen aus der Schottenauer Garngabrik. Simon lief umher, nahm Bestellungen entgegen, zapfte Bier, füllte Gläser, spülte sie mit kaltem Wasser ab, putzte sie mit einem Lappen und wischte mit einem anderen über die Tische. Mit einer Holzzange fischte er Salzgurken aus dem Glas und mit einer schmalen Spachtel schmierte er Schmalz auf das Brot, das er beim Marktbäcker bestellt und am Morgen ofenwarm und wie ein Neugeborenes in ein weißes Tuch gewickelt abgeholt hatte.

Später kamen die Händler. Es hatte sich herumgesprochen, dass das Café wieder geöffnet hatte, nun waren sie neugierig. Sie besetzten die Tische oder lehnten am Treseen, wo sie die Hand über das glatt geschmirgelte Holz gleiten ließen und Simon beim Zapfen zusahen.

„Ein Seidel Bier! Für mich einen Roten! Drei Weiße! Zwei davon aufs Haus!“

Robert Seethaler – Das Café ohne Namen, S. 28 f.

Doch nicht nur die Erfolge stellen sich ein – Simon als Wirt stellt auch Personal in Form der jungen Mila ein, um den Betrieb seines Cafés gewährleisten zu können. So kümmern sich die beiden sechs Tage die Woche um das Wohl der Gäste, am Dienstag herrscht Ruhetag.

Gäste und die Dramen des Lebens

Robert Seethaler - Das Café ohne Namen (Cover)

Im Lauf der Zeit findet das Café zwar zu keinem wirklichen Namen, dafür aber zu einem Stammpublikum, das das Café regelmäßig frequentiert. Da ist der Ringer und Showkämpfer René Wurm, der regelmäßig im Prater auf die Bretter geschickt wird, die Fierantin Heide Bartholome die mit dem russischen Maler Mischa Troganjew in einer Art Hassliebe verbunden ist, Trinker mit Glasauge oder Priester, die unter Alkoholeinfluss ausfallend werden, traurige und glückliche Menschen – sie alle kehren mal mehr und mal weniger regelmäßig in Simons namenlosen Cafe dort am Karmelitenmarkt ein.

Bei Robert Seethaler wird das Café zur Bühne für die größeren und kleineren Dramen des Lebens, die er einfühlsam und mithilfe nur weniger Sätze umfassend zu schildern weiß. Das ist jene Stärke, die ich aufgrund der etwas überambitionierten und nicht wirklichen runden Romane der letzten Zeit vermisst hatte, und das nun in Das Café ohne Namen wieder zu entdecken ist.

Wie Seethaler im Kleinen große Geschichten zu erzählen vermag, wie er Platz für alle Gefühlsregungen schafft, sprachlich zwischen Alltagssprache und Sinn für den besonderen Moment pendelt und das alles mit einem Filter der Melancholie versieht, das ist für mich wieder richtig gut gelungen und deshalb eine ganz klare Empfehlung, auch wenn ich das Buch vor Kitsch-Anwürfen nicht in Schutz nehmen kann.

Seinen Drang zur Reduzierung hat Seethaler nach den letzten Miniaturromanen wieder einhegt (so umfasste Der letzte Satz gerade einmal 128 Seiten) und hat seiner neuen Erzählung mit 288 Seiten hier wieder mehr Raum gegeben.

Schnell liest man sich durch diese Seiten, mit denen Robert Seethaler nach dem Kein&Aber-Verlag und dem Wechsel zum Hanser-Verlag nun bei Claassen im Ullstein-Verlag eine neue Heimat gefunden hat. Ein Umstand, der rein optisch bis auf den klein gedruckten Verlagsnamen gar nicht auffallen würde, hat man sich bei Ullstein doch für gestalterische Konstanz (oder eine clevere Kopie) entschieden und setzt die Covergestaltung des Hanser-Verlags auch hier unter neuem Dach fort.

Fazit

Mit Das Café ohne Namen besinnt sich Robert Seethaler wieder auf seine alte Stärke und inszeniert das Café am Rande des Karmelitenmarktes in Wien als Bühne für die großen und kleinen Dramen des Lebens. Sein loser Ensembleroman rund um den Wirt Simon als Anker steht in der Tradition der früheren Werke Seethalers und zeigt eine Wirtschaft im Nachkriegswien, deren Kundschaft ebenso vielfältig ist wie die Geschichte, die sie erlebt und zu erzählen haben. Der Österreicher braucht auch hier wieder nur wenige Sätze, um ganze Leben und Dramen in Worte zu fassen. Dass Seethaler damit wieder viele Fans glücklich machen wird und die Bestsellerlisten erobert, das ist zu erwarten und durchaus gerechtfertigt.


  • Robert Seethaler – Das Café ohne Namen
  • ISBN 978-3-546-10032-8 (Claassen)
  • 288 Seiten. Preis: 24,00 €

Clemens J. Setz – Monde vor der Landung

Querdenken. Ein Begriff, der früher einmal ein Begriff für unkonventionelle Denkansätze und innovative Geistesarbeit stand. Heute steht das Querdenken als Synonym für das ziemliche Gegenteil. Krude Theorien, unbeirrbar vorgetragen, Inszenierung als Widerstand gegen den „Mainstream“, so das Bild, das sich verstärkt im Zuge der öffentlichen Kritik gegen die Corona-Schutzmaßnahmen auf den Straßen der Republik manifestierte. Selbsternannte Querdenker und Querdenkerinnen waren es, die ihre Wut auf die Straßen trugen und so zunehmend für eine Begriffsverschiebung des Querdenkens sorgte.

Clemens J. Setz porträrtiert in seinem neuen Roman Monde vor der Landung nun einen historischer Vorgänger solcher Querdenker, nämlich den Fantasten Peter Bender, der die Theorie der Hohlerde verficht.


Den alleinigen Besitzanspruch der Wahrheit, er ist nicht nur heutigen Querdenkern zu eigen. Auch in der Geschichte lassen sich Beispiele für Menschen finden, die unbeirrt ihre abstruse Sicht der Dinge und ihre eigenwillige Lesart der Welt fernab des wissenschaftlichen Konsens predigten und sich im alleinigen Besitz der Wahrheit glaubten. Der Büchnerpreisträger Clemens J. Setz hat ein Beispiel für einen solchen „Denker“ gefunden und aus den Archiven ausgegraben. Peter Bender ist sein Name, der in der Stadt Worms lebte und seine Forschungen und Theorien über die Hohlwelt dort publizierte.

Bei Clemens J. Setz gleicht das Worms, durch das sich Peter Bender bewegt, einer Art Lummerland. Da ist die Nachbarin Frau Blun oder der Briefträger Herr Erdelmeier, die grüßen, wenn Bender mal wieder durch die Gassen der herbstlichen Nibelungenstadt eilt. Meist bewegt er sich auf dem „von der Sonne knusprig gebratenen Laub“ (S. 13) auf dem Weg nach Hause zu seiner Familie oder zu seiner Geliebten Else

Das Weltbild einer hohlen Erde

Auch den Obrigkeiten der Stadt Worms ist Bender dabei wohlbekannt, wie Clemens J. Setz in einer Mischung aus Rückblenden und gegenwärtiger Handlung beschreibt. Immer wieder eckt er mit seinem Weltbild und der Agitation für selbiges an. Sich selbst und seine Frau Charlotte betrachtet er als eine Art Priesterpaar, das seine Anhänge der von ihm verkündeten Lehre um sich schart. Doch seine Reden und die Verstöße gegen die Sitten rufen auch die Verwaltung auf den Plan, denn Bender wird für seine ketzerischen Äußerungen auch für mehrere Wochen inhaftiert.

Clemens J. Setz - Monde vor der Landung (Cover)

Doch seinem missionarischen Eifer setzt das keine Grenzen. Mögen die Zeichen in der Zwischenkriegszeit noch so schlecht stehen, Bender lässt sich nicht beirren. Während das Rheinland besetzt wird und die Inflation galoppiert, ist er weiterhin mit der Theorie der hohlen Erde befasst, die im Inneren ihrer Kugel den Himmel und herabsinkende Monde umschließt. Auch mit anderen Theoretikern, die ähnliche Gedankenmodelle propagieren, steht Bender im Austausch und reist dafür sogar bis nach Augsburg, um befreundete Denker zu treffen.

Doch die Zeiten werden schlechter, zunehmend leidet die Familie unter Armut und Benders Frau Charlotte, die er während seiner Zeit als Jagdflieger in einem Lazarett in Polen kennenlernte, wird aufgrund ihrer jüdischen Herkunft immer mehr ausgegrenzt. Spätestens mit der Machtergreifung Hitlers gerät die Familie immer weiter unter Druck, obschon sich Hitler selbst als Anhänger der Astrologie auch für abstruse Gedankengebäude zu begeistern vermag, lässt die Unterstützung Benders immer mehr nach, der nach wie vor von seinem Gedanken eines „Weltbilderkongress“ zu Worms besessen ist.

Die Geschichte der Inhaftierung Benders wird sich wiederholen – diesmal allerdings unter bedeutend schlechteren Umständen, denn der Amtsarzt stellt Bender nun die Diagnose „Geisteskrankheit“ aus, was für diesen wieder in Haft bringen und später auch sein ganzes Schicksal besiegeln wird.

Ein spannendes Leben – mit Lücken

Clemens J. Setz hat eine spannende Biographie ausgegraben, bei der ich persönlich allerdings den Eindruck hatte, bei der trotz des großen Umfangs noch deutliche Lücken bleiben. So bleibt bei mir nach der Lektüre von Monde vor der Landung das etwas unkonkrete Gefühl, dass in dieser Geschichte noch deutlich mehr drin gewesen wäre, als das, was uns Setz hier auf 520 Seiten präsentiert. Vieles bleibt hier so nebulös und angedeutet, wie Benders Weltbild selbst.

Man erfährt von der sogenannten Koresh-Gemeinde in Florida, die ihrem Lehrer Dr. Cyrus Teeds huldigt, bekommt am Rande eine Ahnung eines Buchs, dass Charlotte Bender über ihren Kampf um Peter Bender geschrieben hat – und auch Benders Roman Karl Tormann findet an mehreren Stellen (und einigen – in meinen Augen überflüssigen -Text- und Bildabbildungen) Erwähnung.

So richtig greifbar werden diese seitlich erwähnten Einsprengsel nicht und bleiben so unkonkret wie auch die verschiedenen Abweichungen von Benders Hohlwelttheorien, die etwa die von Bender bewunderten Denker Lang oder Neupert propagieren und über die man zwar seitenweise debattiert, dann aber doch wieder zu keinem Ergebnis kommt, bewohnen diese Männer doch alle eigene Erden mit jeweils eigenen Weltbildern.

Parallelen zum Querdenken unserer Tage

Am selben Morgen hatte Anslinger noch zu Sonnleithner gesagt, er solle, bevor er mit irgendwelcher Wissenschaft daherkomme, lieber seine Hausaufgaben machen. Selbst recherchieren. Nicht in Zeitungen. Eigene Gedanken wagen.

„O Gott, verschone mich!“ Sonnleithner hatte geflucht. Das angewiderte Gesicht, dass dieser Pfarrerssohn aus Leipzig immer machte, wenn es um Monde und alternative Theorien ihrer Entstehung ging, war gerade das Witzigste an der Sache. Recherchiere doch selbst. Was sagen echte Wissenschaftler? Nicht die Zeitungen.

Sonnleithner hatte ihnen nicht einmal abgenommen, dass Gasmasken die Überlebenschancen bei einem Angriff in der Regel verringerten anstatt erhöhten. Sonnleithner glaubte lieber, was man ihm von staatlicher Seite an Wissen vorsetzte.

Clemens J. Setz – Monde vor der Landung, S. 77

Die Parallelen zu Verschwörungstheorien von QANON bis hin zu Impf-Mythen und Lügen in unseren Tagen liegen ja auf der Hand – sonderlich weit führt diese historische Blaupause aktueller diskursiver Entgleisungen allerdings nicht. Bender ist von seiner Theorie überzeugt, kann immer wieder Menschen, vor allem Frauen, mit Charisma von seinen Vorstellungen überzeugen, und doch hilft ihm auch sein Glauben an die hohle Erde nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht wirklich weiter. Clemens J. Setz versucht ihm nahezukommen und schafft das in vielen Passagen auch wirklich beeindruckend.

Fazit

Und doch fehlt mir für die Begeisterung das letzte Quäntchen, dass das Buch in seiner Gesamtkomposition wie auch seinen Verweisen auf die Gegenwart zum bestechenden Leseerlebnis macht. Es ist gut, bisweilen auch virtuos, durchsetzt mit Geschichte und Figuren, die zwischen Wahn und Genie kreisten wie etwa Hermann Oberth, den man wiederum aus dem Roman von Daniel Mellem kennt.

Aber das nicht wirklich greifbare Weltbild, die Verzerrung der Wirklichkeit, die widersprüchlichen Theorien von hohlen Erdkernen, herabsinkenden Monden und konkaven Erden, Benders sprunghaftes Handeln, das alles im Verbund mit einer deutlichen Überlänge hat mir ein leichtes Fremdeln mit dem Buch beschert, obschon ich mit dieser Meinung wirklich in der Minderheit sein dürfte. Andere Stimmen zu Monde vor der Landung finden sich unter anderem im Bücheratlas und dem NDR. Zudem ist das Buch für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 nominiert.


  • Clemens J. Setz – Monde vor der Landung
  • ISBN 978-3-518-43109-2 (Suhrkamp)
  • 528 Seiten. Preis: 26,00 €

Robert Menasse – Die Erweiterung

Nach Die Hauptstadt folgt Die Erweiterung. Sechs Jahre nach dem Erscheinen seines gefeierten und mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten EU-Romans wagt sich Robert Menasse nun an die Fortschreibung seiner Version der Europäischen Union. Kann das gelingen?


Sechs Jahre sind eigentlich keine allzu lange Zeit. Blickt man allerdings auf die Europäische Union und ihre Entwicklung seit dem Jahr 2017, als Robert Menasses Die Hauptstadt erschien, so kommt es einemdiese Zeitspanne doch eher wie ein Jahrzehnt oder noch deutlich länger vor.

Endlose Diskussionen rund um den Brexit und das finale Ausscheiden Großbritanniens aus der EU, der Rechtsdrift Polens und Ungarns mitsamt bedenklicher verfassungsrechtlicher Entwicklungen, Diskussionen um illegale Pushbacks an den EU-Außengrenzen, eine EU-Wahl mit zwei Spitzenkandidaten für Vorsitz der EU-Kommission, von denen anschließend keiner gewählt wurde, um lieber in bester Hinterzimmermanier eine deutsche Präsidentin zu installieren, die gar nicht auf dem Wahlzettel stand. Das Erstarken der rechten Kräfte in vielen Ländern, endlose Gipfel mit viel Streit um Themen wie Klimaschutz, Migration und Co. und wenig Ergebnissen sowie fehlende Zukunftsvisionen und Ideen für eine Entwicklung des europäischen Staatenverbundes. Kraftlos angesichts vieler Entwicklungen im Inneren und Äußeren, wenn nicht schon ganz abgehängt, so wirkt die EU dieser Tage.

Umso spannender die Frage, wie Robert Menasse als Verfechter der EU und ihrer Institutionen nun sechs Jahr seit seinem letzten Roman diese Entwicklungen aufgreifen würde und wie sein literarischer Kommentar auf den aktuellen Zustand ausfallen würde.

Albanien in die EU?

Ziemlich lang, überfrachtet und nicht wirklich stringent, so die Erkenntnis nach der Lektüre von Die Erweiterung. Dabei setzt Robert Menasse wie schon im ersten Band seiner EU-Saga auf das Stilmittel des Ensembleromans, um seine Geschichte(n) zu erzählen. Sogar der Auftakt seines neuen Romans kopiert die Monatetechnik des EU-Erstlings. War es damals ein Schwein, das durch Brüssel rannte, so bringt diesmal der Helm des Skanderbeg verschiedene Menschen im Kunsthistorischen Museum in Wien zusammen.

Dieser aus Albanien stammende Kopfschmuck ist es dann auch, der im Folgenden eine zentrale Rolle spielt und der für viel Verwirrung sorgt. Auslöser des Ganzen sind die Pläne der EU, die über Beitrittsgespräche mit Albanien grübelt. Soll man das Land in den europäischen Staatenverbund dazu holen? Keine leichte Frage, über die dann natürlich auch diverse Diplomaten und Technokraten auf verschiedensten EU-Ebenen grübeln müssen und die sich in Gestalt des Diplomaten Karl Auer auch selbst ein Bild der Lage vor Ort machen.

Keine Ahnung. Überhaupt: Tausende Touristen. Das hatte ihn schon in Saranda erstaunt. Wieso war dieses Land so überlaufen, von Touristen aus aller Welt, während es doch das Image hatte, ein schwarzes Loch mitten in Europa zu sein, terra incognita, nach Jahrzehnten der Abschottung völlig unbekannt, und kein Mensch hatte einen Vorstellung, eine Ahnung, und wenn, dann dachte man an Mittelalter oder an Schrullen, wie die Tausenden kleinen Bunker, die ein verrückter Diktator hatte errichten lassen, aber wenn man das erwähnte, galt man schon als Albanien-Spezialist … Es war so rätselhaft wie ermüdend.

Robert Menasse – Die Erweiterung, S. 51

Währenddessen treiben der ehemalige Basketballspieler und jetzige albanische Ministerpräsident Zoti Kryeministër als ZK und sein Einflüsterer, der poetisch veranlagte Fate Vasa, ihre Mission voran. Nach dem Veto Frankreichs gegen EU-Beitrittsverhandlungen wollen sie die EU zu Verhandlungen zwingen. Ihre Idee dahinter – ein potentielles albanisches Großreich als Schreckensvision, das die Verhandlungspartner an den Tisch zwingen soll. Zentrales Machtinstrument in ihrem Plan der Versammlung aller albanischen und albanisch-stämmigen Menschen ist dabei der Helm des Skanderbeg, der seinen Träger als Anführer aller Albanier*innen legitimiert.

Der Helm des Skanderbeg

In der Folge entspinnt sich ein groteskes Verwirrspiel um den Originalhelm und dessen Diebstahl aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien, eine von einem Schmied in Tirana angefertigte Kopie des Helms, den Ministerpräsidenten und seinen listigen Einflüsterer auf der einen und die EU-Bürokraten auf der anderen Seite.

Robert Menasse - Die Erweiterung (Cover)

Jene Bürokraten sehen sich zudem an vielen anderen Fronten gefordert. Adam Prawdower, der als Adviser Western Balkans Strategy bei der EU beschäftig ist, stammt aus Polen und ist über die Entwicklung des Landes unter Führung seines Jugendfreundes und Solidarnosc-Gefährten Mateusz hin zu einem autoritären Staat zunehmend beunruhigt. Karl Auer von der Abteilung D.4 Albanien, Bosnien und Herzegowina verliebt sich in die albanische Diplomatin mit dem sprechenden Namen Baia Muniq. Um diese Personen herum gruppiert Menasse noch österreichische Kommissare, albanische Ex-Journalisten und schlussendlich sticht das gesamte Ensemble auf den letzten hundert Seiten dieses mit 650 Seiten wirklich voluminösen Romans dann auch noch in See, an Bord des Staatsschiffs SS Skanderbeg.

Robert Menasse hat sich viel vorgenommen für seinen Roman. So greift er Entwicklungen aus den letzten Jahren mal mehr und mal weniger deutlich auf. Die schleichende Radikalisierung Polens ist bei ihm ein zentrales Thema, die anderen Themen wie der Brexit tauchen nur als kleiner Running Gag auf, etwa wenn der zum Iren gewordene David Charlton des Öfteren als Brite geschmäht wird, woraufhin er sich mit einem Hinweis auf seine irische Nationalität rechtfertigt.

Die Erweiterung des Kosmos von Robert Menasse

Nicht nur in der Montagetechnik dieses Ensembleromans knüpft Die Erweiterung an Die Hauptstadt an. Auch tauchen immer wieder kleine Verweise in Form von Motiven wie einem Schwein, Senf oder den nicht-funktionalen Kaminen in Brüssel auf. All das ist schön gelöst und steht in Tradition von Menasses erstem EU-Roman.

Und doch leidet das Buch unter einer Unwucht und mangelndem erzählerischen Fokus. Immer wieder verliert sich Menasse in Passagen wie etwa der über ein konsequent fehlerhaft befülltes Kreuzworträtsel oder biographische Exkurse etwa über einen namentlichen Doppelgänger Siegfried Lenzens oder die Frage um den Verbleib der SS-Standarte Skanderberg.

Neben solch kleinen den Lesefluss hemmenden Exkursen ist aber auch der große Plot wenig ausbalanciert. So stellt zwar der Klappentext den Konflikt zwischen Mateusz und Adam über das Schicksal Polens in den Mittelpunkt, tatsächlich spielt der Roman aber zum überwiegenden Teil in Albanien und ist eher auf die Beitrittsverhandlungen und deren strategischen Volten denn den polnischen Rechtsdrift fokussiert.

Eine Einführung in die Landeskunde Albaniens

An vielen Stellen wirkt Die Erweiterung wie eine Einführung in Sachen Landeskunde Albaniens. Dieses Land, das man wohl noch am ehesten für das Wüten des Diktator Enver Hoxhas oder als Herkunftsland von Mutter Teresa kennt, Robert Menasse für in seine wechselvolle Geschichte in aller Tiefe ein und beschert dabei viele neue Erkenntnisse, vom Rohstoffreichtum des Landes bis hin zu seiner muslimischen Prägung.

Aber zwischen EU-Beitrittsverhandlungen, dem schon manchmal an Slapstick erinnernden Hin und Her um den Helm des Skanderbeg und das abschließende Chaos auf der Jungfernfahrt des Staatsschiffs, das entgegen der Buchaufmachung einen deutlich geringeren Teil als angenommen einnimmt, mag sich einfach kein Gefühl eines runden Plots und einer stringenten Erzählentwicklung einstellen.

Zwar ist die Schlusspointe und die Metapher des Schiffs ganz grandios (inklusive eines Schiffsarzt, der natürlich, wie könnte es anders sein, auf den Namen Schumann hört), die vorherige erzählerische Unwucht und überbordende Detailfülle kann das aber leider auch nicht gänzlich retten.

Fazit

So gelingt es Robert Menasse in meinen Augen leider nicht wirklich, an seinen grandiosen ersten EU-Roman Die Hauptstadt anzuknüpfen. Allzu viele Themen mag er in seinem Roman verhandeln. Themen, zwischen denen sich keine rechte Balance findet und die in ihrer Fülle neben zu vielen erzählerischen Exkursen leider ein Gefühl der Unwucht und mangelnden gestalterischen Orientierung ergeben. Schade drum – aber als Einführung in die wechselvolle Geschichte Albaniens immerhin großartig!

Andere Meinungen gibt es unter anderem bei SWR und dem Deutschlandfunk.


  • Robert Menasse – Die Erweiterung
  • ISBN 978-3-518-43080-4 (Suhrkamp)
  • 653 Seiten. Preis: 28,00 €

Eva Menasse – Dunkelblum

Etwas wächst und wuchert da im Dunkeln. Ist es eine Blume oder doch eher dicht verflochtenes Wurzelwerk, kaum zu durchdringen, tückisch und an der Oberfläche fast nicht sichtbar? Eva Menasse erzählt in Dunkelblum von der Vergangenheit, die doch nicht tot ist, vielleicht noch nicht einmal vergangen. In Dunkelblum, kommen Knochen ans Tageslicht und mit ihnen viele Geschichte, die man in dort im kleinen österreichischen Dorf an der Grenze zu Ungarn doch lieber vergessen hätte.


Eigentlich ist es ein ganz unscheinbares Dorf, dieses Dunkelblum. Gelegen an der österreichisch-ungarischen Grenze im Burgenland wirkt es auf den ersten Blick recht austauschbar. Früher gab es ein wenig Adel, eine Synagoge und als besondere Sehenswürdigkeit eine Pestsäule. Erstere sind verschwunden, die Pestsäule in der Dorfmitte hat Bestand. Dass der Zahn der Zeit allerdings stark an dieser genagt hat, ist nicht nur für die Säule bezeichnend. Das ganze Dorf ist im Niedergang inbegriffen, so ganz weiß man auch nicht, wo man sich hinentwickeln will. Risse durchziehen hier nicht nur Bauwerke, sondern die ganze Gemeinschaft.

Es gibt einen historischen Ortskern und einen neueren Teil, den Bahnhof hat man gleich mehrfach abgerissen und neugebaut (immer schiacher allerdings, wie man dort sagen würde). Man ist sich uneins ob der Schwerpunktsetzung eines geplanten Museums (soll es eher die Geschichte der Grafen Dunkelblums oder handwerkliche Aspekte in den Vordergrund rücken?), man separiert sich in Stammtischbrüder und Auswärtige, der geografisch nicht weit von Dunkelblum entfernte Grenzzaun, er lässt sich in vielen Abwandlungen überall in Dunkelblum finden.

Sauber abgegrenzte Geschichte

Auch die Vergangenheit hat man dort im Burgenland sauber abgegrenzt und hinter sich gelassen. So meint man jedenfalls, bis einige Ereignisse beweisen, dass die Vergangenheit eben nicht tot ist, nicht einmal vergangen. Bei Probegrabungen auf einer Dorfwiese tauchen alte Knochen auf, die unschöne Erinnerungen wecken. Zudem ist es die Tochter einer Dorfbewohnerin, die sich ebenfalls sehr für die Dunkelblum’sche Vergangenheit interessiert. Flocke Malnitz tut sich mit dem Besitzer des Reiseladens zusammen, um die Geschichte ihres Heimatortes zu ergründen.

Das schmeckt nicht jedem in Dunkelblum, die die Vergangenheit lieber ruhen lassen würden. Schließlich gibt es einiges zu verbergen. Da war dieses Fest der Gräfin von Dunkelblum, in dessen Folgen es zu einem Massenmord kam, über den man sich lieber ausschweigt. Dass die jüdischen Mitbewohner aus Dunkelblum auf mal mehr oder weniger subtile Art und Weise einst aus dem Dorf verschwanden, auch das möchte man besser nicht so genau hinterfragen. Die letzten Tage vor dem Einmarsch der Russen, die Endphaseverbrechen, all das hat man recht erfolgreich aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt.

Da passt es jetzt ganz schlecht ins Bild, dass die junge Frau alten Staub aufwirbelt und hartnäckig die Nerven der Dunkelblumer und Dunkelblumerinnen strapaziert. Noch dazu kümmern sich plötzlich junge Menschen um den vergessenen alten jüdischen Friedhof, der doch so pittoresk vor sich hinverfallen ist und. Vom honorigen Alt-Nazi bis zum überforderten Ersatz-Bürgermeister – sie alle sind beunruhigt. Kann man es nicht einfach gut sein lassen mit diesen alten Geschichten?

Von der Kontinuität der Geschichte

Dunkelblum ist ein Roman, der sich mit der Kontinuität von Geschichte sowie der kollektiven Verdrängung beschäftigt. Die große Kunst des ganzen Buchs ist dabei die Tatsache, dass der Kern ihres Buchs ausgespart und nahezu gar nicht berührt wird. Die schier unfasslichen Verbrechen in der Endphase des Kriegs, die ihr historisches Vorbild im Massaker von Rechnitz haben, werden hier nur touchiert, manchmal in Gesprächen angerissen, ansonsten wird das Verbrechen hier gar nicht ausbuchstabiert. Menasse interessiert sich in Dunkelblum mehr für den Umgang mit dieser Schuld, die viele im Dorf auf sich geladen haben. Die Verarbeitung bzw. Verdrängung sind Themen, die die Österreicherin vielschichtig und nuanciert herausarbeitet.

Dabei gibt es zahlreiche Aspekte, die man an Eva Menasses Roman rühmen kann. Die Mühelosigkeit, mit der sie von Vergangenem zu Gegenwärtigem und wieder zurück wechselt. Die Sicherheit, mit der sie diese verschiedenen Zeitebenen verbindet und aus ihnen das Zeitlose destilliert. Die Frage von Schuld und Verdrängung. Die, welchen Preis Aufarbeitung haben kann und die, wie man sich mit dem Bösen arrangiert. Ihr Werk ist in viele Richtungen deutbar, besitzt Anknüpfungspunkte zu vielen Debatten unserer Tage und ist darüber hinaus nie schwer, sondern nur böse, unterhaltsam und von großem Anspruch.

Die Vermessung der österreichischen Seele

Ihr gelingt es hier, die österreichische Seele aus einem Dorfroman herauszudestillieren. Während die DDR-Flüchtlinge am Grenzzaun zu Österreich rütteln und ein leibhaftiger Flüchtling sogar im Dorf auftaucht, ist schon klar, dass mit aller Macht eine neue Zeit heranbricht. Dennoch versucht man in Dunkelblum alles so handzuhaben, wie man es immer schon gemacht hat. Nicht von ungefähr wird hier kurz auf den unseligen Kurt Waldheim und die damit verbundene Waldheim-Affäre angespielt. Erst diese Affäre, immerhin schon Anfang der 90er Jahre, setzte in Österreich einen Prozess der Aufarbeitung der eigenen Geschichte während des Dritten Reichs in Gang. Der falsche Mythos, dass Österreich immer Opfer gewesen sei, er wird auch in Eva Menasses Buch thematisiert und deutlich widerlegt.

Aber die in Berlin lebende Autorin blickt in Dunkelblum nicht nur zurück auf die dunklen Kapitel der Geschichte Österreichs – sie schafft auch Anknüpfungspunkte in die Gegenwart, etwa dann, wenn Nazi-Schmierereien auf dem jüdischen Friedhof auftauchen. Eine „b’soffene G’schicht“ sei das, nicht mehr, so redet der Bürgermeister dieses antisemitische Delikt klein. Jener Ausruf lässt doch dann sehr an H.C. Strache und dessen Verteidigungslinie im Ibiza-Skandal denken, der unlängst die Alpenrepublik erschütterte. Und so gibt es in diesem Buch viele Beispiele von Anknüpfungspunkten aus der Vergangenheit bis hinein in unsere Gegenwart. Das verleiht dem Buch in seiner Offenlegung historischer Kontinuitäten etwas Zeitloses, das ihn zum Klassiker der österreichischen Literatur bzw. Anti-Heimatliteratur machen könnte.

Auch sprachlich überzeugend

Auch auf der sprachlichen Ebene überzeugt ihr Buch vollends. Sie schafft ein gut lesbares österreichisches Kunst-Idiom, das vor wunderbaren Einfällen und (im Appendix erklärten) Austriazismen nur so strotzt. So verkündet etwa ein Nachfahre des Dunkelblumer Adels, dass die lokale Gruft dringend renovierungsbedürftig sei, da „die Vorfahren safteln“. Immer wieder sind es originelle Sprachbilder und Vergleiche, die Eva Menasse für ihre Erzählung findet. Gedanken „sedimentieren“ da bei einer Frau, der Aushilfsbürgermeister erinnert an ein Murmeltier, dass hilflos mit seinen Händchen ringt, der Geruch eines geschälten Eis ist hier „mephistophelisch“. Hier offenbart eine Autorin einen originellen Zugriff auf die Sprache, die ihre Erzählung zu jedem Zeitpunkt unterstützt.

Umso bedauerlicher der Umstand, dass dieses Buch für keinen großen Buchpreis in diesem Jahr nominiert wurde. mit diesem Roman nicht auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, lässt einen doch verwundert die Augen reiben. Dass dieser Roman dann noch nicht einmal für die Auswahl des Österreichischen Buchpreises beachtet wurde, lässt einen dann gar nicht mehr aus dem Staunen herauskommen. Wie konnten all die Jurys die Qualität verkennen, die diesem Werk innewohnt? Man sollte den Fehler dieser Literaturjurys nicht machen und in diesem Herbst an diesem Buch vorübergehen. Man würde es bereuen.

Fazit

Eigentlich bietet dieses Buch alles, was Literaturjurys hierzulande mögen und was im Trend liegt. Dunkelblum ist die Aufarbeitung von Historie, vom Dritten Reich bis zum Fall des Eisernen Vorhangs. Dunkelblum ist ein Dorfroman, der eine ganze Gesellschaft mithilfe einer Dorfgemeinschaft vor Augen ruft. Dunkelblum ist eine Erzählung von Erinnern und Vergessen, von Verdrängung und Aufdeckung. Ein stilistisch großartiger Roman, der zum besten zählt, das die österreichische Literatur seit Langem hervorgebracht hat. Dass er für die großen Preise in diesem Herbst übergangen wurde, man muss es nicht verstehen.


  • Eva Menasse – Dunkelblum
  • ISBN 978-3-462-04790-5 (KiWi)
  • 528 Seiten. Preis: 25,00 €