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Lucía Puenzo – Die man nicht sieht

Ismael, Enana und Ajo sind die, die man nicht sieht. Denn als Straßenkinder schlagen sie sich auf den Straßen von Buenos Aires durch. Im Stadtviertel Once leben die drei und passen gegenseitig auf sich auf. Besonders der kleine Ajo steht unter dem Schutz von Enana und Ismael. Ihr Einkommen bestreiten sie durch Einbrüche in Häuser. Ihr Pate ist dabei ein Wachmann, der die Kinder zu ihren Missionen schickt und ihnen die Diebesbeute abnimmt.

Dieser hat für die drei nun eine ganz besondere Mission. Mit Schleusern schickt er sie per Schiff nach Urugay. Dort sollen die drei für andere kriminelle Strippenzieher arbeiten. Diese wollen ebenfalls, dass sie als Einbrecher tätig werden und die Villen der Schönen und Reichen ausräumen.

Doch der geneigte Leser ahnt es an dieser Stelle schon – es wäre ja langweilig und unersprießlich, wenn bei diesen Raubzügen alles glatt laufen sollte. Wie der Zufall in die Planung pfuscht, das beleuchtet die argentinische Autorin Lucía Puenzo in ihrem neuen Roman mit Hingabe. Die perfekt geplanten Einbrüche scheitern an der Realität und setzen gefährliche Dynamiken in Gang, die für Enana, Ismael und Ajo lebensbedrohlich werden.

Oder wie es die Autorin auf Seite 195 einmal selbst ausdrückt:

Aber manchmal lief eben alles nicht nach Drehbuch.

Puenzo, Lucía: Die man nicht sieht, S. 195

Apropos Drehbuch – damit kennt sich die 1976 geborene Argentinierin sehr gut aus. Neben den Romanen nimmt auch das Drehbuchschreiben in Puenzos Leben einen großen Raum ein. Über diese Tätigkeit kam sie dann zur Regie. So sorgte sie selbst für die Verfilmung eines früheren Romans (Wakolda) und gastierte mit ihrer filmischen Adaption ihres Romans Das Fischkind 2009 auch im Programm der Berlinale.

Wenn eine Drehbuchautorin einen Roman schreibt

Lucía Puenzo (Quelle: Acovarrubias05, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29055571)

Den filmischen Blick merkt man auch Die man nicht sieht an. Immer wieder schafft es Puenzo, einprägsame Szenerien zu entwerfen, über die die Psychologisierung ihrer Figuren prima funktioniert. Den Schwerpunkt legt sie in ihrer Erzählung aber eher auf die Handlung denn auf die tiefere Ausgestaltung ihrer Figuren. Vieles vom Personal im Roman bleibt schemenhaft, nur ihre drei kindlichen HeldInnen bekommen viel Raum. Immer wieder blitzt die Empathie durch, mit der Puenzo die drei SchicksalsgefährtInnen zeichnet. Wunderbar ist etwa eine Szene geraten, in der sich der kleine Ajo nächtens in die Fluten stürzt und zum ersten Mal die Gewalten des Meeres erlebt. Dann wird wieder klar, dass sich hinter den gewieften Einbrechern immer noch kleine Kinder verstecken, die von ihrer Umwelt nur als nützliche Helfer missbraucht werden, auf die man die Drecksarbeit bequem abwälzen kann.

Wegen dieser Schwerpunktlegung auf die Kinder würde ich auch davon absehen, den Roman als Krimi zu labeln. Natürlich zieht der Roman seine Spannung aus den Einbrüchen, was ja ein Urtopos der Kriminalliteratur ist. Doch bei allem Suspense – hier geht es eher um drei Kinder, die zufälligerweise in dieses Milieu gerutscht sind, und denen keine Wahl bleibt. Das Schicksal dieser Kinder zu zeigen, das ist es, worum es Lucía Puenzo hier geht.

Auch der Wagenbach-Verlag hat das erkannt und dem Buch den äußerst generellen aber eben auch durchaus treffenden Gattungsbegriff Roman auf den Umschlag appliziert.

Sprachlicher Durchschnitt vs. Handlungsdrive

Ein Wort an dieser Stelle sei noch zur sprachlichen Gestaltung dieses Romans verloren. Diese ist für mich nämlich ganz okay, aber nicht viel mehr als Durchschnittskost (Übertragung aus dem argentinischen Spanisch von Anja Lutter). Besondere Stilmittel, Sprachbilder oder raffinierte Metaphern sucht man in Die man nicht sieht vergeblich.

Stattdessen gibt es manchmal kleinere Irritationen im Text, wie etwa wenn von der Betäubung von Einbruchsopfern die Rede ist. Hier schleichen die Kinder mit Betäubungsgas durchs Haus und nähern sich ihren Opfern, um diese mithilfe des Gases in die Bewusstlosigkeit zu versetzen.

Sie hielt die Spraydose etwa zwanzig Meter vor seine Nase und sprühte ihm direkt ins Gesicht.

Puenzo, Lucía: Die man nicht sieht, S. 194 f.

Dieses Kunststück möchte man dann doch ganz gerne einmal sehen. Auch ist es in der Ausgestaltung der Kinder nicht logisch, wenn Ismael, der sein Leben auf der Straße verbringt und folglich wenig Bildung genossen hat, plötzlich die „geheimnisvollen kyrillischen Buchstaben“ (S. 194) betrachtet. Woher der Junge weiß, dass diese Buchstaben kyrillisch sind, das bleibt wohl sein Geheimnis.

Solche kleinen Unebenheiten fallen allerdings nicht weiter ins Gewicht, da der restliche Text wirklich Drive besitzt und nach angenehmen 204 Seiten mit einer letzten, sehr passenden Schlussblende schon an seinem Ende angelangt ist.

Die man nicht sieht ist kein neuer Gipfel südamerikanischer Literatur. Dazu lässt das Buch für meinen Geschmack an Tiefgang und an Reflexionspotential vermissen. Zwei oder drei spannende Stunden bietet der neue Roman von Lucía Puenzo aber auf alle Fälle und sei deswegen hiermit gerne empfohlen.

 

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Rodrigo Hasbún – Die Affekte

Hans Ertl war einst im Dritten Reich ein wichtiger Kameramann, der für Leni Riefenstahl drehte und spektakuläre Aufnahmen realisierte. So filmte er etwa Szenen unter Wasser und war damit der erste Kameramann, dem etwas Derartiges gelang. Doch im Nachkriegsmünchen ist der Filmemachter nicht mehr wohlgelitten, und beschließt deshalb, mit seiner Familie nach Bolivien zu ziehen.

Ein Projekt, das er vor Ort realisieren möchte, ist die Suche nach dem mystischen Städtchen Paititi im Dschungel Boliviens. Deshalb macht er sich mit einem Expeditionstreck und zwei seiner Töchter auf, um die versunkene Inkastadt aufzuspüren. Seine Frau und seine jüngste Tochter bleiben zu Hause.

Doch mit dieser Expedition setzt sich etwas fort, das bereits mit dem Aufbruch aus München begann – die Zersetzung der Familie Ertl. Die drei Töchter entfremden sich und bei der ältesten Tochter Monika wird dies in der Folge zu dramatischen privaten und politischen Verwerfungen führen, die sich so zunächst gar nicht abzeichneten.

Hasbún inszeniert diese Auflösung, indem sein Plot einer vielstimmigen Gestaltung folgt. In kurzen Kapitel erzählt er, aufgeteilt in zwei große Blöcke, von den verschiedenen Mitgliedern der Familie Ertl und ihrem Lebensweg. Immer wieder wechselt er den Tonfall und die Erzählperspektive (was die Unterscheidung der einzelnen AkteurInnen auch nicht immer leicht macht). Man liest in der Ich-Form, wird in Passagen mit Du angesprochen und auch die dritte Person ist häufig eine gewählte Erzählperspektive.

Dieser Gestaltungswillen beeindruckt, ist manchmal aber auch etwas zu viel des Guten. Insgesamt sind es für den knappen Umfang von  140 Seiten erstaunlich viele Themen, die Rodrigo Hasbún in Die Affekte packt. Radikalisierung, Auflösung von Strukturen, Suche nach Halt in Kunst – das alles steckt in diesem Buch, was es auch an mancher Stelle überfrachtet. Ein wenig mehr Entzerrung hätte dem Buch gut getan – so wirkt alles stark komprimiert und man muss wirklich genau lesen, um die Anschlüsse und Sprünge nicht zu verpassen.

Wem dieses Buch gefällt, empfehle ich zur weiterführenden und ergänzenden Lektüre den vor Kurzem im Rowohlt-Verlag erschienenen Roman Telex aus Kuba von Rachel Kushner. Radikalisierung und Befreiung von überkommenen Strukturen durch die Jugend – beide Romane haben viel gemein und komplementieren sich wunderbar, wie ich finde.

[Hasbún Rodrigo: Die Affekte ; Deutsch von Christian Hansen, 124 Seiten | erschienen im Suhrkamp-Verlag, ISBN 978-3-518-42764-4, Preis: 18,00 €]

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