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Jesmyn Ward – So gehn wir denn hinab

Hinab in den Süden, hinein in die eigene Geschichte und hinein den Überlebenskampf. In ihrem neuen Roman So gehn wir denn hinab präsentiert Jesmyn Ward einen nachtschwarzen Gospel, der eindrücklich vom Schicksal einer jungen Sklavin erzählt. Es ist eine Lektüre, die eine der großen Wunden der amerikanischen Gesellschaft betrachtet, die bis heute nicht verheilt ist.


Es geht auf ganz unterschiedlichen Wegen hinab für die junge Annis in Jesmyn Wards neuem Roman. Denn sie ist eine Sklavin, die wie ihre Mutter schon auf der Plantage ihres Besitzers in South Carolina arbeiten muss. Sie selbst ist gewissermaßen aus Gewalt geboren, entstammt sie doch einer Vergewaltigung ihrer Mutter durch den Plantagenbesitzer.

Nachts übt sie mit ihrer Mutter den Stockkampf, um wenigstens halbwegs für die Brutalität des Alltags gewirdmet zu sein. Einst wurde ihrer Mutter von ihren Ahnen jene Technik gelehrt, die sie nun wiederum an ihre Tochter weitergibt. Eigentlich stammen Annis Vorfahren aus Afrika, wo sie einst verkauft und über das Meer nach Amerika gebracht wurden.

Du bist mein Kind, Kind von meiner Mama. Von meiner Mutter, der Kämpferin – Azagueni hieß sie, aber ich hab sie Mama Aza genannt.

Jesmyn Ward – So gehn wir denn hinab, S. 10

Annis und die Ahnen

Doch mit der Einführung in die eigene Familiengeschichte und die Orientierung in dieser Welt ist es nicht weit her. Denn der relative Schutz im Haus durch ihre Mutter und ihre Abstammung vom Plantagenbesitzer währt nicht lange. Zunächst erwacht das sexuelle Interesse des Mannes an Annis, dann wird ihre Mutter verkauft – und wenig später findet auch Annis selbst sich in Fesseln wieder.

Jesmyn Ward - So gehn wir denn hinab (Cover)

So geht es für sie von South Carolina nun hinab in den Süden. Angetrieben von den unerbittlichen Sklaventreibern hoch zu Ross, Georgia-Männer genannt, wird Annis in den tiefsten amerikanischen Süden nach New Orleans gebracht. Eine lebensgefährliche Odyssee beginnt, die sie weit weg von ihrer Heimat und der dortigen Erfahrungswelt bringt.

Im sumpfigen Süden der USA wird sie wiederum verkauft und findet sich nun auf einer neuen Farm, die von einem ebenso unbarmherzigen Plantagenbesitzer geleitet wird.

Hunger, Gewalt und Schmerz dominieren auch hier die Tage, obschon es Annis eigentlich noch verhältnismäßig gut erwischt hat, da sie in der Küche ihren Dienst tun darf. Doch der Besitzer und seine argusäugige Frau kennen keine Gnade mit den versklavten Schwarzen. So müssen Frauen, Kinder und Erwachsene bei der Zuckerrohrernte auf der Farm mithelfen und sich bis zur Erschöpfung aufarbeiten.

Von South Carolina hinab nach New Orleans

Unbequeme Sklavinnen und Sklaven werden brutal kujoniert, indem sie tagelang ins „Loch“ gesperrt werden, ein unterirdisches Gefängnis mit spitzen Palisaden als Wände. Auch Annis selbst wird im Lauf dieses Romans dieses Schicksal ereilen.

Doch stets scheinen in dieser Welt aus Schmerz und Erniedrigung auch Momente der Hoffnung auf. Denn nicht nur, dass Annis Momente der Liebe in vielfacher Form erfahren darf. Auch ihre Ahnen sind in Form des Geistes Aza immer wieder präsent. Dieser wird zu Annis‘ Rettungsleine, ist der Geist doch auch in hoffnungslosen Momenten präsent oder zeigt sich nach eindringlichen Beschwörungen der jungen Sklavin. Die Verbindung zu ihren eigenen Ahnen ist ebenso stark wie Annis‘ Wille, sich einen eigenen Platz in der von Unterdrückung dominierten Gesellschaft zu erobern.

Jesmyn Ward verknüpft Spiritismus und Sklavereigeschichte aus Betroffenenperspektive zu einem eindringlichen Roman, der sich im Spannungsfeld zwischen Colson Whiteheads Underground Railroad und Percival Everetts James bewegt. Die brutale Herrschaft der Weißen, der Mangel an Nahrung und Perspektive, die allumfassende Hoffnungslosigkeit, das alles ist auf jeder Seite dieses Buchs zu greifen. Hinauf geht es für Annis eigentlich überhaupt nicht, ihr Schicksal kennt fast ausschließlich den Weg hinab.

Eine eindringliche Lektüre, die Resilienz der Leser*innen erfordert

Das macht aus So gehn wir denn hinab eine starke Lektüre, die allerdings auch einiges an Resilienz von den Leser*innen einfordert. Man muss den Mut und den Durchhaltewillen haben, sich auf diese Erzählung einzulassen und all die Gewalt auf den Plantagen und die schwer erträgliche Abwertung von Annis und ihrer Ahnen zu ertragen.

Hypnotisch und vorwärtsdrängend gleicht dieser Roman einem nachtschwarzen Gospel, der den Schmerz der Sklaverei und die bis heute nicht wirklich überwundene Benachteiligung Schwarzer in den USA in höchst poetische Worte fasst, die all der geschilderten Gewalt und Brutalität entgegenstehen.

Ganz auf die Schwarze Perspektive konzentriert zeigt Jesmyn Ward wie schon in ihrem Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt die Benachteiligung von Menschen im Süden der USA, diesmal durch das historische Setting noch einmal dringlicher, plakativ und kaum zu vergessen.

Weitere Meinungen zu So gehn wir denn hinab gibt es bei Bookster HRO und auf dem Blog von Frank-Michael Preuss.


  • Jesmyn Ward – So gehn wir denn hinab
  • Aus dem Englischen von Ulrike Becker
  • ISBN 978-3-95614-600-8 (Verlag Antje Kunstmann)
  • 304 Seiten. Preis: 26,00 €
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Percival Everett – James

In Mark Twains Die Abenteuer des Huckleberry Finn blieb für ihn nicht viel Platz im Rampenlicht – dafür holt ihn der US-amerikanische Schriftsteller Percival Everett nun umso eindrücklicher nach vorne auf die ganz große literarische Bühne: die Rede ist vom Sklaven Jim, der in Everetts Roman James seine Lebensgeschichte erzählen darf und so literarische Würde und Würdigung erhält.


Es ist eine Szene, die Leserinnen und Leser aus Mark Twains Die Abenteuer des Huckleberry Finn gut kennen. Zu Beginn verstecken sich Tom Sawyer und Huckleberry Finn wie weiland Max und Moritz giggelnd vor dem Sklaven Jim, dem sie einen Streich spielen wollen. Der tumbe Mann bekommt zwar mit, dass sich da irgendetwas draußen in den Büschen vor der Veranda versteckt, aber statt der Sache auf den Grund zu gehen, schläft er ein und erwacht wenig später desorientiert und ist ein billiges Opfer des juvenilen Unsinns von Tom und Huck. So zumindest, wenn man Twains Variante der Ereignisse Glauben schenken darf.

Ganz anders ist es, wenn man nun James von Percival Everett liest. Auch er steigt mit der Szene ein, lässt sie aber durch die Augen von Jim selbst erleben, wie auch das gesamte Buch einen literarischen Gegenschuss zu Twains Klassiker darstellt.

Ein literarischer Gegenschuss zu Mark Twain

Hier ist es nun ein intelligenter und alerter Mann, der durchaus die Urheber des Streichs auszumachen vermag und der sich über seine zugedachte Rolle in dem ganzen Mummenschanz nur allzu bewusst ist – der diese Rolle aber spielt, weil er sie spielen muss.

Percival Everett - James (Cover)

Denn eigenes Denken und eigenmächtiges Tun sind Dinge, die einem Sklaven wie Jim in den Südstaaten der USA alles andere als gut zu Gesicht stehen. Er ist stets Verfügungsmasse seiner weißen Besitzer – wird im Lauf des Buchs aber zu seinem eigenen Herr und verwandelt sich vom unterwürfigen Diener zum Herren seiner selbst, der in einem letzten Akt der Selbstermächtigung schließlich auch seinen verstümmelten Sklavennamen ablegt und zu James wird sich damit als Individuum aus seiner Fremdbestimmung löst.

Auslöser dieses Prozesses ist der Umstand, dass Jim verkauft werden soll. Seine Besitzerin Miss Watson möchte ihren Sklaven veräußern, wovon er Kenntnis erlangt und in den Norden zu fliehen beschließt, um später seine Familie zu sich holen zu können.

„Was heißt das, Miss Watson will dich den Fluss runter verkaufen?“

„Ich bin’n Sklave, Huck. Sie kann mich verkaufm, wenn sie will. Un scheints will sie. Un eh sie das macht, musstich weglaufm.“

„Aber du hast ne Familie.“

„Heißt gar nix, wenn du n Sklave bist“

Percival Everett – James, S. 42

Auf der Flucht durch den Süden der USA

Beistand auf seiner Flucht erhält er von Huckleberry Finn, der sich dem flüchtigen Sklaven anschließt. Mal zusammen, mal getrennt erleben die beiden Abenteuer, wobei das Wort Abenteuer eigentlich zu positiv konnotiert ist für das, was den beiden widerfährt. So wird Jim verkauft, findet sich in der Gegenwart zweier Lügner und Betrüger wieder, muss auf einem Schaufelraddampfer oder einem Sägewerk Dienst tun und wird als Höhepunkt aller Täuschungen und Scharaden als hellhäutiger Schwarzer Teil einer Minstrel-Gruppe, in der sich Weiße per Blackfacing als Schwarze ausgeben, um sich über diese lustig zu machen.

Ähnlich wie auch Colson Whitehead in Underground Railroad ist auch James eine Reise durch den rassistischen Süden und dessen allgegenwärtiger Gewalt. Eine Reise, die immer wieder schaudern macht, wenn man mit James dessen Unterdrückung und Verfügung über seine Existenz miterleben muss, vor allem da dieser James alias Jim ein durchaus hellsichtiger Erzähler ist, der des Lesens und Schreibens mächtig ist, im Kopf mit Voltaire debattiert und sein eigenes Martyrium schließlich zu Papier bringt, auch wenn der Preis dafür ein unmenschlicher ist.

James ist für mich eine Lektüre, die auch den Vorgängerroman Die Bäume zumindest für mich noch einmal deutlich zugänglicher machte, wo ich zuvor mit Everetts nachtschwarzer und reichlich überdrehter Racheburleske haderte. Aber wie er hier den Rassismus, die allgegenwärtige Gewalt gegen Schwarze, die Unterdrückung und die weithin etablierte Abwertung von Leben beschreibt, daraus folgt die Gewalt und Wut, die sich in Die Bäume Bahn bricht.

Sklaverei, Rassismus und die Macht der Sprache

Zudem – und vor allem ist James aber auch ein Roman, der die Kraft der Sprache und des geschriebenen, zuvorderst aber die Macht des gesprochenen Worts eindrücklich vor Augen führt. Denn während Jim für die Weißen die Rolle des tumben Schwarzen spielt, dessen Diktion wie im obigen Zitat verwaschen und ungebildet klingt, verfügt er doch über eine Gabe, die den Weißen völlig fehlt. Wie den anderen Sklaven ist es auch ihm möglich, zwischen den Sprachen hin- und herzuwechseln, seine Besitzer im Unklaren über seine wahre Geisteskraft zu lassen – und sich blitzschnell von Beredsamkeit und Belesenheit zu stammelnder Hilflosigkeit zu verwandeln. Es ist eine Mehrsprachigkeit, deren bedachter Einsatz Leben retten, in unbedachten Momenten aber auch für große Gefahr sorgen kann.

Das führt der im Buch angewandte Kunstdialekt vor Augen, für den Übersetzer Nikolaus Stingl eine eigene deutsche Sprachversion voller Verschleifungen und phonetischer Nachbildung von Wörtern gefunden hat, um so dem speziellen Südstaatenslang von Twains und damit auch Everetts Welt eine Entsprechung zu verleihen.

Könnte man auf den ersten Blick Everetts Vorhaben, einem der wichtigsten Klassiker der amerikanischen Literatur und einen der zentralen Schlüsseltexte in der Geschichte dieses Landes eine literarische Antwort oder Gegenperspektive gegenüberzustellen, als vermessen abtun, zeigt James aber doch, welche neuen Räume und Sichtweisen ein solches Vorhaben durch eine gelungene Ausführung eröffnen kann.

James bleibt einerseits im historischen und literarischen Rahmen, weitet damit aber auch die Geschichte um die entscheidenden historischen und sozialen Aspekte, die in Twains Roman durch die gewählte Perspektive der beiden Jungen Tom Sawyer und Huckleberry Finn nicht in dem Maße offenbar werden, wie sie es hier tun.

Fazit

Percival Everett gelingt sein großes Vorhaben bravourös. James ist eine Reise in die brutale und zutiefst rassistische Geschichte der Südstaaten. Dennoch scheint auch Hoffnung hier gleich in zweierlei Form auf. Zum einen im Leben James‘, der sich der Fremdbestimmung entgegenstellt – und in der Geschichte des Landes, da der Roman auch die Anfänge des US-amerikanische Bürgerkriegs schildert und der sich anschickt, eines der dunkelsten Kapitel der US-Historie zu überwinden.

Ein literarischer Gegenschuss zu einem Klassiker, der trotz alles historischem Rahmens doch auch in die Gegenwart hineinweist und eine der großen Bruchlinien der US-Gesellschaft auf fiktional höchst spannende Weise vermisst. Große Literatur!


  • Percival Everett – James
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27948-3 (Hanser)
  • 336 Seiten. Preis: 26,00 €
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Lee Cole – Kentucky

Kentucky, kurz vor den Wahlen 2016. Lee Cole zeigt in seinem Debüt einen jungen Mann, der an seiner eigenen Herkunft und Klasse zu verzweifeln droht und der sich zwischen Baumschnitt, Verliebtheit und familiären Schwierigkeiten zurechtfinden muss. Ein großartiges Debüt!


Dass die Durchschnittlichkeit eines amerikanischen Mittelschicht-Lebens trotzdem eine spannende Angelegenheit sein kann, das beweist nicht nur Richard Russo in seinen Romanen. Sollte sich der Autor der Great American Novels eines Tages zur Ruhe setzen – mit Lee Cole stünde ein würdiger Nachfolger bereit.

Der im ländlichen Westen Kentuckys aufgewachsene Autor legt mit Kentucky sein Debüt vor, das von Jan Schönherr ins Deutsche übertragen wurde. Darin erzählt er zumindest partikular einen Campusroman, der sich von „normalen“ amerikanischen Campusromanen doch deutlich unterscheidet. Denn hier steht kein privilegierter junger Mensch im Mittelpunkt, der auf dem Campus zwischen akademischen Partys und Verbindungshäusern hin- und herhuscht.

Vielmehr spielt der Roman tatsächlich zu großen Teilen auf dem Campus, der für Owen Callahan, den Helden von Lee Coles Buch zwar Studien- aber vor allem auch Arbeitsort ist. Denn da der junge Mann alles andere als begütert ist und nach einigen Drogenexzessen in früheren Tagen so gut wie kein Erspartes besitzt, gelingt ihm der Zutritt zur akademischen Welt nur über die Arbeit der Baumpflege.

Baumpflege und Studium

Die Universität von Louisville bietet ihren Baumpflegekräften auf dem Campus eine Art Work & Study an. Tagsüber stutzen Owen, Rando und James zusammen die Bäume auf dem Campus und dem angeschlossenen Arboretum, danach darf Owen Vorlesungen zum Thema Kreatives Schreiben besuchen, was sich hier als ein bisweilen recht skurriles Seminars zum Thema „Dschungelnarrative“ entpuppt.

Lee Cole - Kentucky (Cover)

Derweil hängt Owen in Studentenkneipen wie der „Schadenfreude“ herum und sucht nach seinem Platz im Leben. Nach Hause zieht es ihn nicht wirklich, vor allem weil man seine Bleibe kaum als Zuhause bezeichnen kann. Abgebrannt lebt er im Keller bei seinem Großvater, der ihm neben dem kostenlosen Zimmer auch seinen Truck zur Verfügung gestellt hat. Mit im Haus wohnt zudem sein Onkel Cort, der als eine Art Frührentner seine Tage mit Zocken oder dem stundenlangen gemeinschaftlichen Konsum von Cowboystreifen und Western verbringt.

Man hat sich irgendwie arrangiert, aber immer wieder fliegen die Fetzen und spätestens als Cort in seinem Zimmer ein von der Straßenseite aus gut einsehbares Plakat mit dem Slogan Make America Great Again anbringt, wird klar, dass hier Welten aufeinanderprallen.

Das Leben in den Südstaaten

Besonders deutlich wird dies Owen selbst, als er sich in die aus Bosnien stammende und an seiner Uni lehrende Alma verliebt, die mit ihrer Lyrik und Prosa schon aufhorchen ließ. Ihre sich entwickelnde Liebesgeschichte lässt Owen noch einmal neu auf seine Heimat dort in den Südstaaten und die trostlose Existenz seiner getrennt lebenden Mittelschichtseltern blicken.

Kentucky ist ein Roman, der vordergründig kaum Handlung bereithält. So mäandert Owens Leben zwischen der sich entwickelenden Romanze mit Alma, seiner trostlosen und von Armut geprägten Wohnsituation, seinem Job auf dem Campus und den Gehversuchen als Literat hin und her. Dabei beherzigt Lee Cole aber auch, was er in seinem Roman Alma über Literatur sagen lässt:

Viele große Romane mäandern vor sich hin, und der Plot entsteht nur durch die Abfolge von Ereignisse. Ich meine, ein Plot kann ja manchmal auch bloß darin bestehen, dass Zeit vergeht. Weißt du was ich meine?

Lee Cole – Kentucky, S. 238 f.

Möchte man diesen Roman zusammenfassen, dann ist es nicht die besondere Handlung oder besondere Figuren. Alles mäandert hier in seiner Durchschnittlichkeit dahin. Die Kunst von Lee Cole ist es aber nun, ähnlich wie Richard Russo dieses Mittelmaß als etwas Besonderes zu inszenieren.

Das Besondere im Durchschnittlichen

Sein Romanpersonal ist an Durchschnittlichkeit nicht zu überbieten. Die leicht rassistischen Eltern, Trump-Unterstützer, Republikaner dort im Süden, auf der anderen Seite die Einwandererfamilie Almas, die sich nach der Flucht aus Jugoslawien rasch den neuen Verhältnissen in ihrer Heimat angepasst hat.

Die deprimierende Kulinarik der faden Restaurants und Kneipen, in denen die Dates von Owen und Alma stattfinden, die Flohmärkte auf Parkplätzen, evangelikale Gottesdienste mitsamt der Verfechtung der These des Kreationismus, die Hoffnungslosigkeit und der Stolz der Einwohner dort im Süden der USA, für die auch die Südstaatenflagge irgendwie zur Identität und zum Nationalstolz zählt, von all dem erzählt Lee Cole in seinem Debüt eindringlich und anschaulich.

Aber es ist nicht allein der Blick auf die amerikanische Mittelschicht, kurz vor der spektakulären Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA. Lee Cole beweist in Kentucky neben seinem Auge für die soziologischen Aggregatszustände im Herzland der USA, dass er auch den Aufstiegsmythos der USA zu dekonstuieren in der Lage ist. Wie er das Strampeln Owens für ein vernünftiges Auskommen und wenigstens etwas finanziellen Spielraum zeigt, das ist wirklich gut gemacht.

Irgendwie genoss ich es, ihr meine Schrottjobs aufzulisten. Ich hatte Häuser gestrichen, Burger gebraten und Kinderbücher in einer Bibliothek einsortiert. Vor dem Gastspiel als Baumpfleger in Denver hatte ich in einem Thai-Restaurant in Boulder das Geschirr gespült. Besonders in Colorado war ein Großteil meines Gehalts für Bier, Pillen und das dort eben erst legalisierte Gras draufgegangen. Meine Familie nannte das gern euphemistisch „Party machen“, im Sinne von „Wann hörst du endlich auf, immer nur Party zu machen, und kriegst mal dein Leben auf die Reihe?“. Diese Frage kann ich in den verschiedensten Versionen.

Aber wie eine Party war mir dieses Leben eigentlich nie erschienen. Vor allem hatte ich mich einsam und erbärmlich gefühlt, und diese Einsamkeit hatte irgendwann einen Siedepunkt erreicht, ab dem sie nicht mehr auszuhalten war.

Lee Cole – Kentucky, S. 67 f.

So sehr sich Owen auch für Stipendien bemühen mag und einen Job als Leitung des Baumpflegeteams anstrebt – so wirklich gelingt ihm das Vorankommen nicht. Seinem Milieu und seiner sozialen Prägung kann er nicht wirklich entkommen, wenngleich er sich bei Familientreffen auch streitet und seine liberale Weltsicht mit der der Hinterwäldler-Eltern kollidiert. Letzten Endes ist der amerikanische Traum und das Aufstiegsversprechen aber doch nur ein fernes Glimmen am Horizont. Das zeigt Lee Cole in Kentucky sehr deutlich.

Fazit

Das macht aus Kentucky ein wirklich lesenswertes Buch, das die amerikanische Mittelschicht mit Scharfsinn und Beobachtungsgabe in den Blick nimmt. Lee Cole gelingt ein Roman, der weniger durch seine Handlung als vielmehr durch sein Talent für die Schilderung der Lebenswelt von ganz durchschnittlichen Amerikanern in der Tradition von Richard Russo besticht. Großartige Literatur aus dem Bible Belt im Jahr 2016, das durch den großen Realitätsgehalt und die Schilderung des Großen im Kleinen überzeugt. Ein großartiges Debüt, das noch viel erhoffen lässt.


  • Lee Cole – Kentucky
  • Aus dem Englischen von Jan Schönherr
  • ISBN 978-3-498-00270-1 (Rowohlt)
  • 416 Seiten. Preis: 25,00 €
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Esi Edugyan – Washington Black

Man nehme etwa 30 Prozent Jules Verne und 70 Prozent Colson Whitehead, vermische kräftig, rühre einmal um et voilà: man erhält Washington Black von Esi Edugyan. Ein Roman, der von einer unglaublichen Reise erzählt, von Rassismus und von unbändigem Forscherdrang (übersetzt von Anabelle Assaf).


Schon das Cover zeigt die Richtung, in die sich das Buch bewegt. Denn die darauf abgebildete Flugmaschine spielt eine zentrale Rolle in Edugyans Buch. Sie ist es, die den Sklavenjungen George Washington Black und den Weißen Christopher Wilde zusammenbringt. Dieser ist der Bruder von Blacks Herr und Plantagenbesitzer Erasmus Wilde. Jener herrscht auf Barbados über seine Leibeigenen mit sadistischer Härte und quält sie, wo er nur kann. Ganz anders sein Bruder Christopher, der Erasmus besuchen kommt und zu dem Washington schon bald eine Beziehung aufbaut.

Christopher, genannt Titch, ist ein Charakter, der Züge Alexander von Humboldts trägt: Naturwissenschaftler, aufgeschlossener Geist und Abolitionist. Ihn treibt der Plan eines Luftschiffs um – und Washington Black erscheint ihm dafür der perfekte Partner zu sein. Der junge Schwarze ist ein talentierter Zeichner, neugierig und ergänzt sich intuitiv mit Wilde. Zusammen arbeiten sie an dem Start der wunderlichen Flugmaschine, die tatsächlich bald zur Notwendigkeit für Titch und Washington wird. Denn nach dem Freitod von Christophers Cousin müssen die beiden von Erasmus‘ Plantage fliehen. Zusammen treten sie die Reise im Fluggerät an, die die beiden einmal um die Welt führen wird. Südamerika, Nova Scotia und England sind dabei nur ein paar Stationen, die wir mit Washington im Laufe des Buchs bereisen.

Einmal um die halbe Welt

Washington Black ist eine reizvolle Mischung aus historischer Fiktion und Reiseroman. Wie der eingangs erwähnt Jules Verne hat auch Esi Edugyan viel Freude dabei, technische Gerätschaften zu erfinden, mit der sie ihr Personal auf Reisen schickt. Doch eine heitere Schnitzeljagd ist ihr Buch zu keiner Zeit. Stattdessen wirft sie auch einen genauen Blick auf die damaligen Zustände auf Barbados, Südamerika und anderswo. Die brutale Sklaverei (die Colson Whitehead in seinem Roman Underground Railroad ähnlich präzise beschrieb) und die ständige Gefahr, selbst außerhalb der Südstaaten gefangen genommen und versklavt zu werden, Edugyan schildert sie eindrücklich. Sie zeigt den brutalen Rassismus ungeschönt und wie verschiedene Gesellschaften auf Washington Black reagieren (etwa im vermeintlich aufgeklärten England oder im Ewigen Eis).

Dennoch hat ihr Roman nie eine zu große Schwere, weil Esi Edugyan eben auch viel auf Tempo und Handlung setzt. Auf den über 500 Seiten hetzen die beiden Protagonisten manchmal fast etwas atemlos (und für meinen Geschmack zu reibungslos) durch die Weltgeschichte. Kleine Abzüge gibt es von mir auch für die Figurengestaltung, denn Washington Black ist ja eigentlich noch ein Kind. Er hat nie eine Schulbildung erhalten und wird nur kursorisch von Titch erzogen. Dennoch teilt er uns Lesern mit, dass es nach „Holzkohle und Naphthalin“ (S. 337) röche. Woher er eine derartige Benennungsstärke und solche olfaktorischen Kenntnisse hat, das erschließt sich mir nicht ganz. Solche Unstimmigkeiten gibt es einige im Lauf des Buchs, wo die Perspektive verrutscht oder Washington mehr Kenntnisse besitzt, als er eigentlich haben kann. Hier merkt man die Schwäche des historischen Romans, der doch mit unserer heutigen Sicht auf die Welt verfasst ist, statt eine genuine Figur in den Mittelpunkt zu stellen. Auch fehlen Widerstände, die eine solche im Buch beschriebene Reise mit sich bringen würde (Krankheiten, Irrwege, etc.). Alles geht glatt.

Fazit

Nichtsdestotrotz unterhält das Buch wirklich gut. Es besitzt Tempo und Drive, nimmt die Leser*innen mit an exotische Schauplätze und wirft einen Blick auf die Themen Sklaverei und Rassismus. Unstimmigkeiten in der Figurengestaltung oder leichte Unwuchten im Plot seien da verziehen. Ein Buch in der Tradition von Underground Railroad.

Weitere Meinungen zum Buch gibts auch hier: Lesen in vollen Zügen (die auch ein Interview mit der Autorin geführt hat), Schiefgelesen und Bingereader.

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Colson Whitehead – Underground Railroad

Bitte Einsteigen zu einer literarischen Tour der besonderen Art. Colson Whitehead lädt ein zu einer Fahrt mit der Underground Railroad zu den Wurzeln des Rassismus und ethnischen Konflikten. Doch Achtung – es wird keine gefällige Fahrt werden – Ruckeln und Bremsungen inklusive!

Sein literarischer Zug besteht aus verschiedenen Charakteren und Stationen. Die Hauptstrecke wird von Cora, einer jungen Sklavin mit unbändigem Freiheitsdrang, bestritten. Diese beschließt es ihrer Mutter nachzutun und von der Baumwollplantage in den Norden zu fliehen. Helfen soll ihr dabei die Underground Railroad, die Colson Whitehead als besonderer Kniff seines Romans einfach wörtlich genommen hat. Die Fluchtroute für die Sklaven in den Norden ist bei ihm nämlich nicht nur eine einfache Schmuggelroute, sondern tatsächlich ein unter der Erde Amerikas existierenden Eisenbahnnetz. Dieses gut geschützte Geheimnis wird von verschiedenen Stationsvorstehern bewacht. Für Cora stellt es die Lösung dar, um ihrer Baumwollplantage und ihrem Schicksal zu entkommen und nach North Carolina zu fliehen.

Dort herrscht eine mildere Form der Rassentrennung; Abolitionismus und Anerkennung von entlaufenen Sklaven kennzeichnen diesen Staat. Dass gut gemeint auch immer noch bestürzend fatal sein kann, zeigt Colson ins Szenen und Dialogen, die heute nur noch den Kopf schütteln lassen. Wie etwa denen, in denen es um Vergewaltigung und Zwangssterilisation geht:

„Die Entscheidung liegt natürlich bei dir“ sagte der Arzt. „Seit dieser Woche ist die Operation für einige im Staat zwingend vorgeschrieben. Für farbige Frauen, die schon mehr als zwei Kinder geboren habe, im Sinne der Bevölkerungskontrolle. Für Schwachsinnige und anderweitig geistig Ungeeignete, aus naheliegenden Gründen. Für Gewohnheitsverbrecher. Aber für dich gilt das nicht, Bessie.“ (Whitehead, Colson: Underground Railroad, S. 134)

Gerade in diesen Szenen und Beschreibungen gelingt es dem amerikanischen Autor, ein vielgestaltiges und nuanciertes Bild der Sklaverei- und Rassismusproblematik zu zeichnen. In diesen Szenen ist das Buch besonders stark und berührt und verstört durch die ungefilterte Darstellung der Leiden Coras, die stellvertretend für Millionen Schicksale steht.

Immer wieder wechselt Whitehead seine erzählerischen Abteile, springt von Cora zum Kopfgeldjäger Ridgeway, der die Verfolgung der jungen Sklavin aufgenommen hat. Er bremst die Erzählung manchmal auf ein gemächliches Tempo herunter, dann beschleunigt er und rafft die Handlung, sodass der Leser sich manchmal anstrengen muss, um an Bord zu bleiben. Durch verschiedene Staaten geht es, verschiedene Menschen erzählen (Deutsche Übersetzung durch Nikolaus Stingl).

Mit der ganzen Fülle der Details gelingt ihm ein umfassendes Porträt des zentralen (amerikanischen) Problems, das bis heute in die Gesellschaft fortwirkt. Erschütternd zu sehen, welchem Leid und welcher Verfolgung die farbige Bevölkerung ausgesetzt war – und noch erschütternder zu sehen, dass auch heute noch genau die gleichen Probleme existent sind. Ein amerikanischer Präsident, der das Wirken des KuKluxKlans nicht verurteilen mag, White Supremacists und die Black Lives Matter Bewegung – all das sind nur einige Schlagworte, die zeigen, wie immanent wichtig Whiteheads Buch ist, um die amerikanische Gesellschaft in Ansätzen verstehen zu wollen. Deshalb ist das Buch für mich auch ein Schlüsselroman Amerikas und unbedingt zu empfehlen

Ein sperriges Buch, eine fantasievoller Roman – oder um mit den Worten Colson Whiteheads zu schließen:

Wenn man sehen will was es mit diesem Land auf sich hat, dann muss man auf die Schiene. Schaut hinaus, während ihr hindurch rast und ihr werdet das wahre Gesicht Amerikas sehen (Whitehead, Colson: Underground Railroad, S. 301).

 

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