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Benjamín Labatut – MANIAC

Mit seinem Werk Das blinde Licht hat sich der chilenische Autor Benjamín Labatut als Meister der Verknüpfung von literarischer Fiktion und naturwissenschaftlich-philosophischen Themenkomplexen erwiesen. In vier Geschichten brachte er damals das Denken und die naturwissenschaftlichen Revolutionen Einsteins, Bohrs, Grothendieks, Schrödingers oder Fritz Habers auf den Punkt. Nun tritt er mit MANIAC erneut den Beweis seiner literarischen Meisterschaft an und erzählt vom vergessenen Wissenschaftler John von Neumann und den Anfängen der Künstlichen Intelligenz.


Egal ob Chat GPT oder Midjourney – die Anwendungsgebiete und Fortschritte in Sachen Künstlicher Intelligenz wachsen in atemberaubenden Tempo an. Und auch die Literatur erschließt sich das Gebiet der KI immer mehr. So unternahmen die Schriftsteller Tom Hillenbrand oder Frank Schätzing im Gewand von Thrillern schon früh Versuche, die Potentiale und Risiken der Künstlichen Intelligenz zu beschreiben. Auch Raphaela Edelbauer wendete sich in ihrem zweiten Roman DAVE dem Thema der KI zu und stellte die Frage in den Mittelpunkt, wie man einem Programm Intelligenz verleiht und einen Rechner von binären Rechenschritten bis zu eigenständigem Denken und Entscheiden führt.

John von Neumann und der MANIAC

Einer der frühesten Denker, der sich auf diesem Gebiet wie auch in vielen anderen Disziplinen umtat, war der Denker John von Neumann, der eigentlich als János Lajos Neumann 1903 in Ungarn geboren wurde. Seine Geistesleistungen, sein von Logik und der Faszination für das Grenzüberschreitende geprägtes Denken und seine vielfachen Projekte wie die Entwicklung des ersten Supercomputer, sie stehen im Mittelpunkt dieses ebenso vielstimmig wie literarisch hochinteressant komponierten Romans.

Wir verdanken ihm so viel.

Er hat uns nicht nur zum bedeutendsten technologischen Durchbruch des zwanzigsten Jahrhunderts verholfen.

Er hat uns einen Teil seines Verstandes hinterlassen.

Getauft haben wir unsere Maschine Mathematical Analyzer, Numerical Integrator and Computer.

Benjamín Labatut – MANIAC, S. 185

Das sagt Julian Bigelow, ein Elektroingenieur und einer der vielen Stimmen, die in Labatuts Roman über ihre Begegnung mit John von Neumann erzählen dürfen. Bigelow, der am MIT Mathematik und Elektrotechnik studierte, war ein Gefolgsmann John von Neumanns, in dessen Auftrag er den Supercomputer MANIAC entwarf und federführend installierte.

Seit Kindertagen an war Neumann von Computern und der Möglichkeit der Programmierung begeistert. So erzählt sein Bruder – eine weitere der vielen Erzählstimmen – von Janos´ kindlicher Faszination für einen mechanischen Webstuhl, der per Lochkarte bedient wurde. Immer weiter trieb von Neumann später die Entwicklung des Computers, die ihn bis in die Wüste Mexikos führte, wo J. Robert Oppenheimer in Los Alamos an der Entwicklung der Atombombe arbeitete. Es war der von Neumann entwickelte Computer, dessen Berechnungen zur Wirksamkeit einer geplanten Wasserstoffbombe entscheidende technische Fortschritte ermöglichte.

Das Grenzüberschreitende in der Technik

Neben solchen militärischen Projekten war es vor allem das Grenzüberschreitende, das von Neumann begeisterte und herausforderte. Die Grenzen der Logik, mathematische Gesetzmäßigkeiten und das ihnen innewohnende Chaos, sie faszinierten von Neumann zeitlebens, wovon Labatut durch die vielstimmige Komposition gelungen Zeugnis ablegen kann.

Benjamín Labatut - MANIAC (Cover)

Begegnungen mit dem österreichischen Mathematiker Kurt Gödel, dessen Denken ihn in eine Krisis stürzte oder seine Unterstützung für den laut Augenzeugen „verrückten“ Wissenschaftler Nils Aall Barricelli, der Neumanns Erfindung des MANIAC dazu nutzen wollte, eine digitale Evolution von intelligentem Leben im Supercomputer nachzubilden. Sie alle geben einen Eindruck von etwas, das hinter der „normalen“ Logik und Technik liegen könnte, dem Neumann zeitlebens auf der Spur war, ihm aber nie wirklich nahekam, sondern (oder vielleicht auch deswegen) nach seiner Krebsdiagnose plötzlich den Glauben suchte.

Schwankend zwischen Technik und Transzendenz, zwischen Logik und Metaphysik zeigt MANIAC einen Menschen, den stets die schwarzen Löcher des Unerklärlichen anzogen und dessen visionäres Denken auch heute noch nachwirkt, obgleich der Name John von Neumann nicht mehr vielen Menschen ein Begriff sein dürfte.

Der Gottvater der KI

Durch die geschickte Montage des Romans gelingt es Benjamín Labatut, das Wirken von Neumanns und dessen Theorien sogar bis in die Jetztzeit zu dehnen. Denn neben der Auftaktepisode, die die Krisis des Physikers Paul Ehrenfest zeigt, der in den 30er Jahren an die Grenzen der Naturwissenschaften stößt, in Depressionen versinkt und seinen eigenen Sohn und später sich selbst erschießt, bindet Labatut dessen Grenzerfahrung und Limitation mit der einer völligen Entgrenzung zusammen.

Dies gelingt Labatut, indem er sich im letzten Teil des Romans in bewunderswerter Intensität und Plastizität dem Go-Spiel widmet. Jahre nach dem legendären Match des Schachgroßmeisters Gari Kasparow gegen den Schachcomputer DeepBlue von IBM war es eine Künstliche Intelligenz namens Alpha, der es erstmals gelang, einen Go-Meister in diesem hochkomplexen Spiel zu schlagen. Dieses Duell von Menschen und Maschine vermittelt Benjamín Labatut trotz komplizierten Regelwerk und Technik höchst verständlich und ja – mitreißend.

In diesen Schilderungen scheint die Kontinuität und noch gar nicht wirklich absehbare Konsequenz von John von Neumanns Erfindung auf. Was stellt man mit einem Supercomputer mit einer Rechenleistung an, die unser Denken ebenso weit überschreitet, wie dies auch der Physiker Paul Ehrenfest zu Beginn des Romans erfahren musste?

Im Gegensatz zu Ehrenfests Konsequenz aus dessen Erfahrung legt Labatut den notwendigen Tod von Mensch oder Maschine hier dann aber nicht nahe. Vielmehr hält sich sein Roman mit moralischen Einordnungen oder Wertungen angenehm zurück. Es zählt zu den Qualitäten dieses brillanten Romans, ein Gefühl der Potentiale und möglichen Konsequenzen der intelligenten Computer zu geben, ohne aber in den alarmistischen Weltuntergangssound zu verfallen, wie er vielen thematisch ähnlich gelagerten Büchern dieser Tage zueigen ist.

Fazit

Mitten hinein in unsere Gegenwart weist MANIAC, das mit John von Neumann einen faszinierenden Denker, einen Grenzüberschreiter und einen ruhelosen Geist in den Mittelpunkt stellt. Ebenso grenzüberschreitend wie das Denken des 1903 geborenen Visionärs ist auch dieser Roman in seiner Montage und erzählerischen Anlage. So nimmt sich das Buch manchmal geradezu wie eine Dokumentation aus, ist Einführung in die KI ebenso wie Porträt John von Neumanns, erzählt von Potentialen der Technik wie von schweren persönlichen Krisen und der Frage nach Verantwortung für unsere digitale Schöpfung.

Schwankend zwischen Technik und Transzendenz gelingt Benjamin Labatut hier ein hellsichtiges Buch, das zum Besten gehört, was bislang über Künstliche Intelligenz geschrieben wurde. Ihre Ursprünge und Kontingenz stellt der chilenische Autor anregend und elegant vor. Wer sich auf literarisch überzeugende Art und Weise in diesen Themenkomplex KI einlesen möchte, der kommt an Benjamín Labatuts Buch nicht vorbei!


  • Benjamín Labatut – MANIAC
  • Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
  • ISBN 978-3-518-43117-7 (Suhrkamp)
  • 395 Seiten. Preis: 26,00 €

Don Winslow – City of Dreams

Don Winslow setzt seine Neuinterpretation der großen griechischen Dramenstoffe im Gewand eines Mafiathrillers fort. Erlebte Danny Ryan in City on Fire eine Wiederauflage des Trojanischen Kriegs mit, so sieht er sich nun gestrandet in fernen Gestaden und darf der Verwandlung seines Lebens in einen Kinofilm in der City of Dreams beiwohnen. Hochtourige Mafiaaction, souverän ausgeführt und packend erzählt.


Schon im ersten Teil der geplanten Trilogie um den Mobster Danny Ryan zitierte Don Winslow neben Homers Ilias auch die Aeneis von Virgil. Im zweiten Teil der Reihe wird dieses Epos nun zur Vorlage für die Abenteuer und Irrfahrten, die Danny Ryan erleben muss.

Im 2. Buch [der Aeneis] flieht er [Aeneas] auf Geheiß Jupiters aus der brennenden Stadt, um ein neues Troja zu gründen. Er kann seinen Sohn Ascanius (Iulus), seinen Vater Anchises und die Penaten retten, nicht aber seine Frau Krëusa.

Wikipediaeintrag zur „Aeneis“

So fasst Wikipedia die Handlung des insgesamt aus 12 Bücher bestehenden Epos von Virgil zusammen. Auch Don Winslow kennt das Epos sehr gut, orientiert sich City of Dreams stark an diesem antiken Handlungsbogen. Bei Winslow setzt die Erzählung unmittelbar nach den brutalen Geschehnissen in Rhode Island Ende der 80er Jahre ein. Dort hat der Zwist um eine schöne Frau den bisherigen Frieden zwischen irischer und italienischer Mafia abrupt beendet – und für viele Tote und großes Leid gesorgt.

Von Rhode Island nach Hollywood

Danny Ryan und seine Crew unterlagen im Kampf um Rhode Island und so befindet sich Ryan nun zusammen mit seinem Vater und seinem Sohn auf der Flucht. Ryans Frau Terri hat die Geschehnisse in City on Fire nicht überlebt und so ist es nun an Ryan, für das Überleben seiner Familie und seinen Penaten, seiner Mafiacrew zu sorgen.

Don Winslow - City of Dreams (Cover)

Immer weiter nach Westen führt der Weg der Crew, wobei die Geschehnisse rund um den Konflikt, korrupte Polizisten und die Falle, in die Ryan getappt ist, immer noch in dessen Hinterkopf herumspuken. Auch die DEA macht noch Jagd auf Danny, sodass an ein normales Leben in der Öffentlichkeit nicht zu denken ist.

Doch nach einigen blutigen Volten und einem Königsmord im Kreis der italienischen Mafia könnte nun alles in ruhigere Bahnen kommen. Ryans einflussreiche Mutter kümmert sich in Las Vegas hingebungsvoll um ihren Enkel, Danny gewöhnt sich langsam an sein neues Leben – doch dann steht neuer Ärger in Form der „Messdiener“ Kevin und Sean ins Haus. Die beiden so geheißenen Mitglieder seiner Crew sind nämlich Gerüchte zu Ohren gekommen, dass in Hollywood ein Film über die brutalen Ereignisse in Rhode Island gedreht werden soll – Ereignisse, die sie ja aus erster Hand kennen. Und so heuern sie als „Berater“ am Filmset an und sorgen für viel Aufmerksamkeit, die Danny eigentlich überhaupt nicht gebrauchen kann.

Doch auch er macht es nicht besser – denn als er in Hollywood aufschlägt, um die Probleme zu bereinigen, verliebt er sich in die Hauptdarstellerin seines eigenen Films und schlägt dafür alle bisher geltenden Sicherheitsmaßnahmen in den Wind und wählt nun statt eines Lebens im Schatten nun das Leben im Licht der hellsten Studioscheinwerfer der Traumfabrik. Damit macht er aber auch alte Feinde auf sich aufmerksam und bringt all das, was er sich erabeitet hat, in Gefahr.

Ein moderner Aeneas

Es sind zahlreiche Motive aus der Aeneis-Dichtung, die Winslow ganz organisch in seinen Thriller einwebt. Die Rückblicke auf den Untergang Trojas alias Dogtown, Dannys mächtige Mutter, die ebenso wie Venus im Originalepos die Irrfahrten ihres Sohns durch die Liebe zu einer Frau beenden möchte, der Königsmord in Form der Hinrichtung des italienischen Paten, all das kann man im Abgleich des historischen Stoffs und Winslows Bearbeitung leicht herauslesen.

Man kann sich aber auch einfach nur von der geschmeidig erzählten Prosa mitnehmen lassen. Sein Talent zur Rhythmisierung und filmischen Gestaltung zeigt Winslow hier in City of Dreams einmal mehr. Brutale Morde, Momente aufkeimender Liebe, Ryans Sorge um seinen Sohne und die gleichzeitig Gewalt, derer er sich bedient. Hier vereint Winslow unterschiedliche Tempi und Register zu einem überzeugenden Thriller, der trotz der Vielzahl an Schauplätzen und Beteiligten nie unübersichtlich zu werden droht.

Winslow hält die erzählerischen Zügel souverän in der Hand und leitet durch Ryans Versteckspiel, Machtkämpfe und große Gefühle, was sich in City of Dreams hervorragend miteinander verbindet. Schade einzig und allein, dass nach diesem Thriller nur noch einmal die Irrfahrten und Kämpfe des modernen Aeneas alias Danny Ryan zu erleben sein werden. Denn mit der vorliegenden Trilogie wollte Don Winslow dann seine schriftstellerische Karriere letzten Meldungen zufolge beenden. Man kann nur hoffen, dass er es sich noch einmal überlegt, denn Thrillerautoren dieses Kalibers haben wir zu wenige, als dass man auf Don Winslow einfach so verzichten könnte, besonders hierzulande!


  • Don Winslow – City of Dreams
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-365-00169-1 (Harper Collins)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €

Niklas Maak & Leanne Shapton – Durch Manhattan

Es gibt Bücher, die haben eine ebenso einfache wie bestechende Grundidee. Durch Manhattan von Niklas Maak und Leanne Shapton zählt zu dieser Kategorie. Denn hier treffen sich eine Künstlerin (Shapton) sowie ein Architektur- und Kunstkritiker (Maak), um gemeinsam Manhattan zu durchqueren, von der Südspitze auf einer annähernd geraden Linie bis in den Norden zum Ende der Halbinsel. Auf ihrem Weg begegnen ihnen Menschen, Bauten und kleine Momente, die sie in Schrift und Bild einfangen. Ein schön gestaltetes Werk und das Zeitdokument eines New York kurz nach dem Umbruch, den die Präsidentschaft Donald Trumps bedeuten sollte.


STATEN ISLAND FERRY TERMINAL I

Wir fingen ganz unten an. Wir trafen uns am Staten Island Ferry Terminal. Wir hatten keinen genauen Plan, nur die Idee, das zu tun, was alle, die nach Manhattan kamen, seit Jahrhunderten taten: an der Südspitze ankommen und dann nach Norden gehen.

Wie erzählt man von einer Stadt – und was erzählt die Stadt, wenn man sie nicht nur nach Punkten absucht, an denen sich etwas Bedeutendes oder Bekanntes befinden soll; was findet man, wenn man nicht einfach Orte aufsucht, von denen man gehört hat, und so einen vorgezeichneten Weg folgt – sondern wenn man einfach losgeht, vom südlichsten Punkt der Insel bis zu ihrem nördlichen Ende, wenn man eine Linie zieht vom Staten Island Ferry Terminal nach oben und dann hinaufwandert entlang dieser Linie bis zur 220th Street, wo der Harlem River Manhattan von der Bronx trennt, entlang einer Linie, die keiner Regel, aber auch nicht dem Zufall folgt, sondern die Bewegung der Besiedlung Manhattans nachzeichnet?

Niklas Maak, Leanne Shapton – Durch Manhattan, S. 6

Von Süd nach Nord durch Manhattan

So beschreibt Maak das gedankliche Konzept, das Durch Manhattan zugrunde liegt. Ein Stadtplan, der zur groben Orientierung dient, ist mit im Gepäck, und schon geht es los mit den ersten Metern Manhattan, die Maak und Shapton in nuce den rasanten Wandel zeigen, den New York und insbesondere Manhattan seit den ersten Einwanderern erfuhr, die hier an der Südspitze Manhattans ankamen, nachdem sie auf Ellis Island die Erlaubnis zum Aufenthalt im Land of the free erhielten.

Niklas Maak, Leanne Shapton - Durch Manhattan (Cover)

Telefonzellen, die dort am Hafen in Zeiten von WhatsApp und Smartphones schon wieder reichlich anachronistisch wirken. Hausnummer, die auf den Türen der Häuser anstelle einer dauerhaften Montage nur geklebt werden und so einen Eindruck der Schnelllebigkeit geben. Schaukelnde Ampeln im Wind. Es sind kleine Beobachtungen, die Durch Manhattan ausmachen.

Aber auch bekannte Landmarken wie die Wall Street oder der Trump Tower werden von den beiden Flanierenden besucht. Während Maak über die Einsamkeit der Familienmitglieder Donald Trumps sinniert (der zum Zeitpunkt des Erscheinens gerade sein erstes Jahr der Präsidentschaft begann), lässt sich auch vor allem an der Wall Street die unglaubliche Schnelllebigkeit beobachten, wenn Maak noch einmal der Occupy Wall Street-Bewegung nachspürt, die heute schon wieder so ziemlich in Vergessenheit geraten ist.

Immer wieder gibt es neben den kleinen und größeren Beobachtungen auch biographische Skizzen, die Maak in den Spaziergang einflicht. Diese erzählen Einwandererschicksale oder bisweilen auch skurrile Begebenheiten, etwa die eines möglichen Seitensprungs, der durch Google Maps bezeugt wurde.

Ein vielstimmiges Portraits Manhattans

Wenn es ein Wort gibt, mit dem sich dem sich Stil und Inhalt von Durch Manhattan charakterisieren lassen, dann ist es das Wort Polyphon. Denn Maak und Shapton gelingt es, die ganze Vielstimmigkeit New Yorks in diesem Buch einzufangen. So finden alle Bevölkerungsschichten und Ethnien Widerhall in diesem Buch, neben den bekannten Sehenswürdigkeiten sind es auch Orte wie Hancock Place oder der Bryant Park, die die Popkultur Manhattans sonst eher ausspart.

Und auch thematisch offenbart Maaks und Shaptons Kollaboration eine unglaubliche Bandbreite, die von Überlegungen zum Reiz der Hamptons über die Bildwelten Edward Hoppers bis hin zur Beschreibung der Funktionsweise amerikanischer Fenster reicht. Hinter all dem scheint immer wieder die Herkunft Niklas Maaks als Gastprofessor für Architekturgeschichte und Architekturliebhaber durch, der mit seinem Wissen unangestrengt die ebenso eleganten wie präzisen Schilderungen von Gebäuden und deren Bewohner*innen grundiert.

Blick ins Buch nebst beigefügter Karte.

Und auch in den von Leanne Shapton aquarellierten Bildwelten drückt sich diese Vielstimmigkeit aus. Ihre Skizzen und Sketches treten mit Maaks Schilderungen in einen Dialog und ergänzen und umspielen die meist zweispaltigen Textkörper. Sie zeigen Shaptons Blick für die Besonderheiten abseits des Offensichtlichen und bieten Bildwelten, die von konkret bis abstrakt reichen und denen stets eine Erklärung des Dargestellten beigegeben ist.

Fazit

So entstanden ist ein Buch, der dem Flanieren huldigt, ähnlich wie das auch Teju Cole in seinem ebenso empfehlenswerten Roman Open City tat. Niklas Maaks und Leanne Shaptons zweitägige Tour mündet in einem Buch, das die Widersprüche und unterschiedlichen Facetten Manhattans gelungen porträtiert. Das Buch verbindet ein Auge für Architektur und stilistische Varianz. Kleine biographische und künstlerische Skizzen ergeben ein Buch, das dem Geist Manhattans nachspürt und diesen Geist Anfang des Jahres 2017 auch tatsächlich treffend einfängt. Mit viel Beobachtungsgabe und dem Auge für die Details abseits des Weges wissen die beiden über das Große im Kleinen viel über diese Halbinsel zu erzählen, die ebenso Sehnsuchtsort wie Albtraum sein kann.

Dieser Dialog von Stadt und Kunst ist ein großartiges Geschenkbuch, von dem man freilich keine tiefschürfende Analyse zu den Zuständen der USA erwarten soll. Aber als will Durch Manhattan auch gar nicht. Vielmehr ist es eine gelungene Lehntstuhlreise, die eine*n mitnimmt in die Häuserschluchten dort und ein Gefühl für den Puls dieses Stadtteils vermittelt und in dem man sich immer wieder festlesen kann!


  • Niklas Maak, Leanne Shapton – Durch Manhattan
  • ISBN 978-3-446-25666-8 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 25,00 €

Emma Cline – Die Einladung

Hochsommer in den Hamptons. Dort, wo die Schönen und Reichen vor den Toren New Yorks Urlaub machen, da möchte auch Alex sein und dazugehören. Nur Die Einladung zu diesem exklusiven Leben, sie fehlt ihr. Und so schnorrt sie sich in Emma Clines zweitem Roman von Tag zu Tag durch. Sommerlektüre irgendwo zwischen Victor Jestin und Peter Richter.


Die Hamptons, sie sind der Sommersitz der begüterten New Yorker. Im August ziehen sie sich zurück in ihre exklusiven Anwesen, um dort die heißen Tage zumeist bis zum Labor Day-Feiertag, dem ersten Montag im September, zu verbringen. Auch Alex will im Kreis der Hautevolee ihren Sommer verbringen. Einen einzigen Haken hat die Sache – die junge Frau hat keinerlei Einladung für die exklusiven Partys und Häuser. Und so schnorrt sie sich durch, prostituiert sich und lässt sich von anderen Männern aushalten, die ihr ein Ticket zur Upperclass verschaffen sollen.

Doch bei einem älteren Liebhaber leistet sich Alex auf einer Party im Alkohol- und Drogenrausch einen Fehltritt, sodass er sie aus seinem Haus komplimentiert. Nun gilt es für die junge Frau, sich in der Welt der Hamptons durchzuschlagen und neuen Anschluss zu finden. Denn zurück nach New York kann sie nicht, hat kein wirkliches Dach über dem Kopf und über so etwas wie Geld verfügt sie gleich zweimal nicht. Und so versucht sie unter größter Anstrengung die Fassade eines Lebens zu wahren, das eigentlich nur Schein statt Sein ist, immer mit dem verzweifelten Ziel vor Augen, ohne Geld und Dach über dem Kopf zu überstehen, um in ein paar Tagen zu einer Party ihres Sugardaddys zurückzukehren.

Alex ging eine Weile in der Sonne. Streckenweise, dort, wo sich die Baumkronen verflochten, lag die Straße im Schatten. Die Luftfeuchtigkeit brachte sie dennoch zum Schwitzen. Ihre Stirn war nass, auch der Hals. Sie hob den Saum ihres Shirts und versuchte eine Brise heraufzubeschwören. Ihre Sandalen scheuerten. Immer wieder musste sie stehen bleiben, sich vorbeugen, um einen Finger zwischen Haut und Sandalenriemchen zu schieben. Ihr Weekender war klein genug, um nach Strandtasche auszusehen, nicht nach einer Tasche, die ihr ganzes Hab und Gut enthielt, und das war wichtig. Es war wichtig, nicht zu verzweifelt zu wirken, nicht aus dem Rahmen zu fallen. Sie war ein Mädchen, das am Straßenrand entlangging, und solange sie sich an diese ruhigen Straßen hielt, war das nicht so ungewöhnlich.

Emma Cline – Die Einladung, S. 96 f.

Durchschnorren in den Hamptons

Emma Cline - Die Einladung (Cover)

Man verfolgt auf einem dramaturgisch recht gleich bleibenden Level die verzweifelten Versuche Alex, den Anschluss an ihr bisheriges Leben zu halten, das mit 22 Jahren noch recht kurz ausgefallen ist. Sie bezirzt Hausangestellte, simuliert auf Hauspartys Zugehörigkeit oder nutzt fremde Kinder, um auf Kosten derer Eltern die Kreditkarten mit ihrem Konsum zu belasten.

Dabei zeigt Emma Cline eine junge Frau, die zwischen Ignoranz, Selbsttäuschung und Skrupellosigkeit changiert – immer mit dem verzweifelten Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer Welt, die nicht die ihre ist. Mit Verve rennt Alex gegen diese unsichtbaren Klassenschranken an, wobei man nicht weiß, ob man die Dreistigkeit der jungen Frau bewundern oder bemitleiden soll.

Insgesamt gesehen passt der englische Originaltitel The Guest dabei eine ganze Nummer besser zu Emma Clines Buch als die deutsche Variante der Einladung, auch wenn Alex beständig einer solchen Einladung hinterherjagt. Aber die eigentliche Hauptdarstellerin ist und bleibt Alex, die sich in fremde Leben einzuschleichen versucht. Sie mag sich so verbiegen und verstellen, wie sie will, mag charmieren und das unbeschwerte Summergirl geben – und doch bleibt sie in der Welt der Hamptons immer nur ein Gast.

Damit führt Emma Cline gewissermaßen das Thema des Dazugehörigkeitsgefühl und der weiblichen Anpassung fort, das sie schon in ihrem Debütroman The Girls (2016) und dem Kurzgeschichtenband Daddy (2021) verhandelte.

Fazit

Emma Cline inszeniert ihre Geschichte in einer flirrenden, sommerhellen Stimmung, die aber auch genug Raum für untergründige Spannung und dunkle Momente lässt. Ihr Buch Die Einladung ist ein perfekter Summerread. Ihre Heldin Alex schwankt zwischen Leichtigkeit, Bangen, Exzess und Scharade. Angesichts dieser stimmigen Mischung verzeiht man sogar die gerade anfangs etwas rumpelnde Übersetzung gerne.


  • Emma Cline – Die Einladung
  • Aus dem Englischen von Monika Baark
  • ISBN 978-3-446-27757-1 (Hanser)
  • 320 Seiten. Preis: 26,00 €

J. Todd Scott – Weiße Sonne

Zurück im Big Bend County. Dort in der Einöde zwischen Texas und Mexiko bekommt es Sheriff Cherry und sein Team diesmal mit einer Gruppe Neonazis zu tun, die in Cherrys Bezirk eine Schneise der Gewalt und Verwüstung schlagen. Weiße Sonne von J. Todd Scott.


Es ist wirklich augenfällig. Auf den letzten Seiten dieses Romans greift der nach den Geschehnissen in J. Todd Scotts Erstling Die weite Leere zum Sheriff beförderte Chris Cherry zum Stift, um den langgehegten Traum eines Romans endlich anzugehen. Auch John Bassoff weist in seinem Nachwort auf diesen bemerkenswerten Umstand hin, geht Scotts Sheriff doch hier den umgekehrten Weg, den der Erschaffer der Figur selbst ging. Bevor sich Scott nämlich dem Schreiben zuwandte, arbeitete er als DEA-Agent im amerikanisch-mexikanischen Grenzland.

Nun gibt es mit Weiße Sonne den zweiten Roman rund um Chris Cherry und das Leben im Big Bend County zu lesen, geboren im Schatten von Scotts Erstling, wie es der Autor im Nachwort seines Krimis selbst beschreibt. Denn wo er für sein Debüt frei vor sich hin schreiben konnte, ohne Druck und Abgabefristen im Nacken, da hat Die weite Leere nun die Erwartungshaltung für einen zweiten Roman gesteigert.

Outlaws und Gesetzeshüter im Big Bend County

Tatsächlich verfolgt J. Todd Scott in seinem zweiten Roman einen ähnlich multiperspektivischen und handlungsreichen Ansatz, wie er es bereits bei seinem ersten Roman tat. So ist Sheriff Chris Cherry nur eine Person im Personengefüge der Ordnungsmacht. Neben ihm kommen auch seine Deputys, die mexikanischstämmiger América „Amé“ Reynosa und der erfahrene Ben Harper, in Erzählsträngen zu Wort. Erstere kämpft noch immer mit den Erlebnissen aus dem Vorgängerband und ihren familiären Verflechtungen mit den mexikanischen Kartellen, letzerer versucht Chris Cherry in der Sache ABT zu mehr Aktion denn Reaktion zu drängen. Bei der ABT handelt es sich um die Aryan Brotherhood of Texas, die ausgerechnet im kleinen Städtchen Killing eingefallen ist.

J. Todd Scott - Weiße Sonne

Im Falle eines ermordeten Flussführeres gelten die gefährlichen Männer als die Hauptverdächtigen. Doch richtig zu packen bekommt sie weder Chris noch seine beiden Deputys. Besonders Amé steht unter Druck, lastet die Begegnung mit einem mexikanischen Autodieb auf ihrem Gewissen. Denn sie schlug diesen im Affekt im gefesselten Zustand, während da dieser scheinbar kompromittierendes Wissen vor allem über Amés Vergangenheit besaß.

Gewalt gegen Gefangene, im Hintergrund lauernde Kartelle, eine Neonazi-Bande voller Outlaws und ein ermorderter Flussführer. J. Todd Scott führt einige Erzählstränge ein, die die Gesetzeshüter im Big Bend County mehr als herausfordern. Dazu erzählt Scott parallel auch noch aus der ABT-Vereinigung heraus, denn hier kommen sowohl die Outlaws als auch ein verdeckter Ermittler zu Wort, der eine ganz persönliche Agenda innerhalb der Gruppierung verfolgt.

Erneut ein multiperspektivischer Erzählansatz

Viele Personen und Erzählstränge also einmal mehr, die in einem großen und gewaltgeladenen Finale enden, dass über Murfee hereinbricht wie jene Regenschauer, die sich dort wenig später entladen.

J. Todd Scott mutet sich und den Leser*innen einiges zu, schafft es aber wieder, sein multiperspektivisches Erzählkonstrukt über die fast 500 Seiten nicht zum Einsturz zu bringen. Zwischen Outlaws, FBI-Agenten und Gesetzeshütern springt er immer wieder hin und her, bringt Rückblenden zum Geschehen in Die weite Leere und der Vergangenheit seiner Figuren an und findet darüber immer wieder Zeit für ruhige Momente und etwas Durchatmen, ehe das hochexplosive Finale dann startet.

Hierbei zeigt sich wie in der ganzen Anlage dieses Buchs, dass im Motorblock dieses Krimis ein Western alter Schule vor sich hinschnurrt. Der wüstenähnliche Schauplatz der Handlung, die verkommenen Verbrecher, die Gesetzeshüter um Chris Cherry, die sich den Bösen entgegenstellen, aber auch selbst nicht davor gefeit sind, die Grenze zum Unrecht zu überschreiten. Weiße Sonne hat all die Zutaten, die eine packende Lektüre ausmachen.

Mir imponiert die Unbarmherzigkeit, die J. Todd Scott seinem Ensemble zumutet. Hier löst sich eben nichts in Wohlgefallen auf, vielmehr ist dieser Krimi geradezu schmerzhaft konsequent und macht mit seiner ganzen Erzählweise Lust auf einen dritten Streich des schreibenden DEA-Agenten.


  • J. Todd Scott – Weiße Sonne
  • Aus dem Englischen von Harriet Fricke
  • Mit einem Nachwort von John Bassoff
  • ISBN 978-3-948392-71-0
  • 496 Seiten. Preis: 27,00 €