Die Ereignisse am Sequoia Crescent
Zugegeben, ein Summen kann ganz schön nervtötend sein, besonders wenn es nachts von einer Schnake im eigenen Schlafzimmer stammt. Doch wenn niemand um einen herum dieses Summen hört und man sich ganz alleingelassen fühlt – wozu kann das Ganze dann führen? Jordan Tannahill exerziert es in seinem Roman Das Summen – Die Ereignisse am Sequoia Crescent durch
Dabei ist die Konsequenzen schon ab den ersten Seiten absehbar. Denn um seinen Roman einzuleiten und die Spannung im Roman aufzubauen, setzt Jordan Tannahill auf den alten erzählerischen Kniff eines Vorgriffs, den er der eigentlichen Handlung voransetzt.
Höchstwahrscheinlich sind Sie im Netz schon über das Meme gestolpert, in dem ich splitternackt vor einer Wand von Fernsehkameras herumbrülle. Ein viral gegangener Augenblick von Kontrollverlust, in ein GIF gepackt und dann weltweit in Twitterthreads und Textnachrichten kopiert und weitergeleitet. Höchstwahrscheinlich haben Sie auch die Berichterstattung über die tragischen Vorkommnisse verfolgt, die sich direkt danach am Sequoia Crescent ereignet haben. Und ebenso höchstwahrscheinlich halten Sie mich daher für eine Sektentussi, eine Verschwörungstheoretikerin, der irgendjemand eine gehörige Gehirnwäsche verpasst hat.
Falls Sie dieser oder einer der anderen hoffnungslos aufgebauschten Geschichten, die in den Tagen, Wochen und Monaten danach über mich verbreitet wurden, Glauben schenken, dann kann ich Ihnen das nicht verdenken.
Jordan Tannahill – Das Summen, S. 7
Wer ist diese Frau, die es so zum globalen Phänomen geschafft hat – und wie konnte das alles nur passieren? Das erzählt uns die Ich-Erzählerin Claire in der Rückschau selbst, schließlich ist es ihre Beichte, die wir hier in den Händen halten und die uns erklären soll, wie es soweit kommen konnte. So zumindest erklärt sie es auf den ersten Seiten des Romans selbst. Dabei beginnt alles eigentlich ganz beschaulich.
Ein Summen und Brummen in der Nacht
So lebt Claire ein unauffälliges Leben zusammen mit ihrem Mann Paul und ihrer Tochter in einer austauschbaren Vorstadtsiedlung. Die Wildheit der Jugend hat sie abgeschüttelt, von kreativen und bisweilen provokanten Inszenierungen der Highschool abgesehen, die sie als Englischlehrerin leitet. Regelmäßig trifft sie sich mit ihrem Frauenlesekreis, gibt Schüler*innen Anregungen für Aufsätze und hat sich gut eingerichtet in ihrem ganz bürgerlichen Leben. Doch eines Abends, während der Lektüre eines mittelmäßigen Schulaufsatzes, ist da plötzlich dieses sublime Summen, das außer ihr niemand im Haus wahrnimmt.
Die Suche nach der Ursache des Summens im eigenen Haus fördert keine wirkliche Geräuschquelle zutage. Auch die Suche auf der nächtlichen Vorstadtstraße bringt keine Klarheit. Nur das Summen, es hält an. Sogar tagsüber lässt das nervtötende Geräusch nicht nach. Stets umgibt Claire das Summen, wenn sie darauf achtet.
Dann beginnt das, was etwa Richard Wright oder Lukas Bärfuss in ihren Werken durchexerzierte. Ein kleiner Schritt aus dem gesamtgesellschaftlichen Takt sorgt dafür, dass man rasch durch alle Raster fällt. Wo Bärfuß nur drei Tage für den Abstieg seines Helden brauchte, da dauert es bei Jordan Tannahill deutlich länger. Beginnend bei ihrer Familie, die langsam von ihr abrückt, ist es Stück für Stück die ganze Gesellschaft, die sie meidet.
Dass Claire in einem Schüler einen akustischen Seelenverwandten erkennt, der das Geräusch ebenso wie sie wahrnimmt, hilft dabei aber nicht wirklich. Ähnlich wie Jessica, die von Tilda Swinton verkörperte Heldin im Film Memoria des Regisseurs Apichatpong Weerasethakul, erliegt auch hier die Heldin Claire des Sogkraft des nicht bestimmbaren Geräuschs und entwickelt daraus eine an Besessenheit grenzende Obsession, um die Ursache des Geräuschs zu ergründen. Halt findet sie dabei nach dem Verlust ihrer Arbeitsstelle und ihrer Familie schließlich bei einer Truppe Gleichgesinnter, die sich in einem Haus in der Vorstadt am Sequoia Crescent regelmäßig trifft.
Zunächst noch in losem Takt finden diese Treffen statt, doch die Truppe kommt immer häufiger zusammen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit den Treffen der Summen-Hörenden dort wächst sich die Versammlung zu einer wirklichen Stütze für Claire aus. Je mehr sie die Bindungen in der „realen“ Welt verliert, umso mehr fühlt sie sich dort am Sequoia Crescent geborgen – mit entsprechenden Konsequenzen, die Jordan Tannahill langsam vor uns ausrollt.
Fazit
Das Summen ist ein Roman, der nachzeichnet, wie leicht man aus dem gesellschaftlichen Raster heraustreten kann, wenn man sich einer bestimmten Sache verschreibt. Ist es bei Tannahill das Hören des Summens, lässt sich diese Schilderung aber auch parabelhaft auf andere Dinge übertragen, die zu Ausgrenzung oder auch der Hinwendung „spezieller“ Heilslehren führen, die im vorliegenden Fall aus der Gemeinschaft am Sequoia Crescent entwickelt werden.
Dabei löst Tannahill in seinem Roman nichts auf und bietet keine simplen Tricks, um das Summen zu erklären. Vielmehr konzentriert er sich auf die Beschreibung der Prozesse, die zur Radikalisierung Claires führen, wenngleich sich Außenperspektive und geschilderte Innenperspektive im Roman gewaltig unterscheiden. Denn was uns Claire hier als Bericht erzählt, bedingt doch auch einen exklusiven Blick auf die Geschehnisse, den man gerne von außen noch einmal neu überdenken und betrachten möchte.
Doch das verweigert der Roman, der uns so die Sichtweise aufzwingt und den Weg hin zum Internetphänomen und Tagesgespräch nachzeichnet. Das gelingt dem kanadischen Dramatiker Jordan Tannahill mit viel Sogkraft und Gespür für Stimmungen, sodass sich Das Summen in meinen Augen ebenbürtig neben den schon genannten Werken Hagard von Lukas Bärfuß und Der Mann im Untergrund von Richard Wright einreiht.
- Jordan Tannahill – Das Summen (Die Ereignisse am Sequoia Crescent)
- Aus dem Englischen von Frank Weigand
- ISBN: 978-3-8337-4579-9 (Goya Lit)
- 386 Seiten. Preis: 24,00 €