Nina Bußmann – Drei Wochen im August

Sommer, Sonne, Waldbrand. In ihrem Roman lässt die Schriftstellerin Nina Bußmann Teile einer Familie in den Urlaub nach Frankreich fahren, wo sie so einiges finden – Erholung zählt aber nicht dazu. Vielmehr dominieren zwischenmenschliche Spannungen, undurchsichtige Menschen und nicht wirklich klare Beziehungen. Und dann bedrohen auch noch Waldfeuer die geplante Idylle der Drei Wochen im August.


Es klang zu verlockend, das Angebot, das Ali ihrer Freundin und Angestellten Elena unterbreitet. Ihre Partnerin verfüge über ein Haus in Atlantiknähe in Frankreich, habe aber nicht mehr lange zu leben und befinde sich in medizinischer Behandlung. Im Sommer stünde das Haus deshalb leer. Ob Elena mit ihrer Familie nicht das Domizil beziehen wolle, um dort ihren gemeinsamen Urlaub zu verbringen?

Tatsächlich nimmt Elena das verlockende Angebot an, um mit ihren Kindern Rinus und Linn dort am Meer entspannte Wochen im August zu verbringen. Doch schon das Wort Familienurlaub führt etwas in die Irre. Denn Elenas Mann Kolja reist nicht mit in das wohlkuratierte Haus am Meer. Er will noch Handwerkerarbeiten zuhause abwarten und dann per Bahn nachkommen. An seiner statt entscheidet sich Elena, die Nanny Eve mit ins zeitweise Haus am Meer mitzunehmen.

Die Beziehung der Kinder zu Eve ist besser als die zu ihrer eigenen Mutter, und so hofft Elena auch auf eine für sie erholsame Zeit, die sie zum Arbeiten nutzen kann, während Eve die Betreuung der Kinder übernimmt. Als freie Kuratorin veredelt Elena die Kunst ihrer Chefin Ali mit allerlei Worthülsen und Theorien, um diesen theoretisch zu unterfüttern. Ein recht unkonturierter Job, der aber auch zur Unsicherheit passt, die den Aufenthalt der Frauen am Meer kennzeichnen wird.

Denn nicht nur, dass mit Eve ein extrafamiliärer Teil mit in den Urlaub kommt, mit Noémie gibt es einen weiteren Charakter, der außerhalb der Kernfamilie steht und die ebenfalls mit in das Haus am Meer kommt. Bei ihr handelt es sich um eine Freundin ihrer Tochter Linn, die Elena abweisend gegenübersteht und zu der sie noch schlechter als zu ihren eigenen Kindern einen Zugang findet, was ihr eigenes Fremdeln mit der jungen Generation verstärkt.

Kriselnde Beziehungen und drohende Buschfeuer

Nina Bussmann - Drei Wochen im August (Cover)

Abwechselnd blickt Nina Bußmann aus Sicht von Elena und Eve auf das Geschehen, das sich nun innerhalb der folgenden drei Wochen im August entfaltet. Dabei schaut sie ins Innere einer Familie, die wieder einmal von Auflösungserscheinungen gekennzeichnet ist.

Abwesende Väter, unverständige Töchter und im Umkehrschluss ebenso unverständige Mütter, dazu mit Ilyas ein Haushüter, dessen Beziehung zur Hausherrin wie auch seine Rolle im Haus nicht wirklich klar wird. Ebenso unklar ist der Status der Beziehung Elenas zu ihrem Mann Kolja, dessen Ankunft am Meer immer weiter auf sich warten lässt – und vielleicht gar nicht mehr eintritt, schließlich schwebt die Möglichkeit einer Trennung der beiden Eltern im Raum.

Und dann sind da auch noch die drohenden Buschfeuer in der Umgebung um das Haus, von denen man zwar nichts mitbekommt, deren Ausbruch und eine mögliche Evakuierung der Urlauber aber auch immer wieder im Raum steht. Selbst das Bad im Meer scheidet aus, denn auch das erweist sich als wenig familienfreundlich und wartet stattdessen mit Untiefen und gefährlichen Strömungen auf.

Statt Entspannung und Abschalten gibt es so also Nervosität und Frust, Geldprobleme und Unsicherheit, die sich mit den neu auftauchende Figuren dort im Feriendomizil weiter verstärkt. Immer größer werden die Probleme, die durch die gegenläufige Erzählperspektive der beiden Frauen besonders evident werden. Hat das Ganze aufgrund der überschaubaren Anzahl an Personen den Charakter zunächst eines Kammerspiels, ändert sich dieser Ton, als immer mehr Gäste in der Villa einfallen und den Urlaubern sogar ein Hund zuläuft.

Handlungsstark wie ein Wasserball im Swimmingpool

Was nun nach viel Handlung klingen mag, stellt sich allerdings in der Praxis als wenig handlungsstark heraus. Trotz dem Auftritt von immer neuen Figuren passiert in Drei Wochen im August eigentlich kaum etwas. Oftmals gleicht die Handlung einem Wasserball, der im Pool treibt und schaukelnd auf der Stelle verharrt, wenn er sich nicht langsam dreht oder sanft von einer Ecke des Pools in die andere getrieben wird.

Es ist weniger die Handlung als vielmehr die psychologische Ebene, die Nina Bußmann in ihrem Roman interessiert. Immer wieder wird Elena in ihrer Sehnsucht nach Vertrauen und Verbindung enttäuscht. Weder zu den Kindern noch zu Eve findet sie eine wirkliche Verbindung, obschon sie dieser tausend Euro bezahlt hat, um mit ihr als „Freundin“ den Sommerurlaub zu verbringen. Dieses Geldmittel hat ihr aber keine Freundschaft erkauft, vielmehr ist es Eve, die trotz der Abhängigkeiten über Elena steht, wie man durch die gegenläufigen Perspektiven erfährt.

Diese Umkehrung von Machthierachien, die Betrachtung von Klasse und seelischer Standfestigkeit, sie ist der reizvolle Subtext, der sich unter dem eher handlungsarmen Geschehen entfaltet und der vor allem mit Elena in ihrer Schwäche und ihrem Unvermögen eine stark gezeichnete Protagonistin hat, deren Wunsch nach Bindung im Urlaub enttäuscht werden wird, das ist ebenso nachvollziehbar wie unterhaltsam geschildert.

Fazit

Flirrend und beunruhigend, so ist dieser Sommer, den man gerne mit Bußmanns in Sachen zwischenmenschlicher Verbindungen nicht ganz trittfesten Figuren verbringt. Drei Wochen im August lässt über die möglichen Unzulänglichkeiten des eigenen Sommerurlaubs gut hinwegsehen. Hat man dieses Buch in seinen Reisekoffer gepackt, dann wird man den eigenen Urlaub noch einmal mehr zu schätzen wissen.

Wieder einmal zeigt sich: mag der Urlaub der anderen auch noch so instagramabel und luxuriös erscheinen, der Pool glitzern und die kunstvollen Statuen im Garten einen Eindruck von Wohlkuratiertheit und Wohlstand vermitteln, so tun sich in solch glänzenden Urlaubsfassaden doch auch immer wieder Risse auf, in die sich Nina Bußmann hier lesenswert hineinbegibt.


  • Nina Bußmann – Drei Wochen im August
  • ISBN 978-3-518-43221-1 (Suhrkamp)
  • 317 Seiten. Preis: 25,00 €
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Arno Frank – Ginsterburg

Hoffnung auf Größe, die wie Seifenblasen platzt. In seinem neuen Roman Ginsterburg zeichnet Arno Frank über eine Dekade hinweg den Weg Deutschlands in die Dunkelheit nach. Mit den Mitteln eines Kleinstadtromans erzählt er von den Jahren 1935 bis 1945, als auch in der fiktiven Kleinstadt die große Politik einschlug und Konsequenzen forderte.


Auf den ersten Seiten ist es ein Zirkus, der Einzug hält in der Kleinstadt Ginsterburg und der den Bewohnern und Bewohnerinnen dieser Stadt Abwechslung verheißt. Doch seine besseren Tage liegen schon lange hinter dem Zirkus. Ein Motorradfahrer, der vor jeder Steilwandfahrt sein Gefährt warten und reparieren muss, ein indischer Tiger, dessen Hauptbeschäftigung nurmehr der Schlaf ist, eine betagte Wahrsagerin, ein Seifenblasenzauberer, viel mehr hat der Zirkus nicht mehr aufzubieten.

Dennoch lässt sich der junge Lothar von der verheißungsvollen Magie der Artisten in der Stadt einnehmen und folgt den mit Rauch gefüllten Seifenblasen staunend, die als Ankündigung des Spektakels in den Himmel entschweben, ohne zu zerplatzen.

Dies wird so ziemlich das Einzige sein, das auf den folgenden 420 Seiten nicht zerplatzt. Denn in seinem neuen Roman blickt Arno Frank tief hinein in die dunklen Jahren Deutschlands, als Scharlatane, Blender, Karrieristen und Verführer das „Dritte Reich“ ausriefen und mit der Unterstützung der Bevölkerung das Land abermals in Tod und Leiden stürzten.

Ginsterburgs Weg ins Verderben

Arno Frank - Ginsterburg (Cover)

Auch in Ginsterburg lässt sich diese Entwicklung nachvollziehen. Dafür wählt Arno Frank einen dreiteiligen Erzählansatz, indem er zunächst vom Jahr 1935 in Ginsterburg erzählt, gefolgt von Sprüngen in die Jahre 1940 und 1945. Zunächst scheint noch alles geregelt, der junge Lothar singt im Kirchenchor, seine Mutter Merle bietet als Buchhändlerin neben erwünschten Büchern wie Barb – eine deutsche Frau auch Ricarda Huch an und begeistert sich als Leserin für die Bücher Friedells, Remarque oder Alice Behrend. Der steile Walter betreibt ein Kino und Blumengroßhändler Gürckel hat sein Geschäftsfeld weit über seinen Blumengroßhandel ausgedehnt und ist zum NSDAP-Kreisleiter und zum Bürgermeister der Stadt im Schatten des mit Gargoyle-Wasserspeiern geschmückten Münsters aufgestiegen.

Hier schon zeigen sich die ersten Anzeichen, des bald folgenden Kriegs. Die Zwillinge des Bürgermeisters paradieren in ihren Nazi-Uniformen, auf Merles Schaufenster werden in Ermangelung von nennenswerten jüdischen Geschäften Hakenkreuze geschmiert, wer kann, ist schon geflohen oder hat Suizid begangen, wie der Chefradakteur des Ginsterburger Boten, für den auch Eugen von Wieland schreibt, der außerdem mit Merle eine Affäre pflegt.

Der schon in seinem letzten Roman Seemann vom Siebener erprobte Ansatz des multipersonalen Erzählens findet auch in Ginsterburg wieder Anwendung. Immer wieder begegnen sich die Figuren im kleinen Städtchen, suchen sie ihren eigenen Vorteil oder das kleine Glück und entwickeln sich über die zehn Jahre. Merles Sohn Lothar etwa wird vom scheuen und verträumten Jungen zu einem vielgerühmten Kampfflieger, Gürckel wird von seiner Frau für einen Nazi-Goldfasan verlassen, nur damit sie später hochherrschaftlich zu ihm zurückfindet, während er sich in der Zwischenzeit das kleine Ginsterburger Schloss mit Tiepolo-Kunst angeeignet hat.

Große Geschichte in der Kleinstadt

Im Kleinen erzählt Arno Frank, was sich im Großen in diesen Jahren überall in Deutschland abspielte. Bereicherung, Hass und Hetze, Verfolgung Andersdenkender, Mitläufer und privater Widerstand, Verlobung, Tode und Schlachten, all diese Facetten greift Ginsterburg auf

Nicht alles ist dabei ganz rund. Der zu Beginn groß eingeführte Zirkus verschwindet abgesehen von kleinen rekurrierenden Momenten aus der Handlung, auch die auf den Seiten eingeführte Vorschau auf die Tode von einigen Figuren gibt Arno Frank als Stilmittel schnell auf und beachtet diese Form des Erzählens im Folgenden kaum. Hier liegt sicher noch etwas erzählerisches Potential, das Arno Frank in einer etwas stringenteren Form mit weiteren Romanen noch ausschöpfen könnte.

Ihm fehlt in einigen Passagen auch etwas die Konsequenz für die Folgen des Bösen, die Eva Menasse in Dunkelblum an den Tag legte, in dem sie das Dunkle der Schuld schmerzhaft hell ausleuchtete. Wenn dann aber die Brandbomben auch auf Ginsterburg fallen, dann ist man mit den kleineren Mängeln versöhnt und beobachtet atemlos die Folgen dessen, was die Kleinstadt über die Jahre zuvor mit ihrem Verhalten heraufbeschworen hat.

Auch lobenswert ist der Umstand, dass sich Arno Frank über die Sprache Gedanken gemacht hat, mit der er sein Personal sprechen lässt. Hier gibt es noch das Fräulein, Heranwachsende hecken Bubenstücke aus und man kommt direktemang zur Sache. Das verleiht Ginsterburg auch sprachlich eine Authentizität, die die Fiktion dieser Kleinstadt ein ganzes Stück weit wieder vergessen macht und die auch über die schreckliche Künstlichkeit des KI-generierten Covers hinweghilft.

Fazit

Das Platzen von Träumen, das Fallen von Bomben, die Zerstörung aller Illusionen – das beschreibt Arno Frank auf lesenswerte Art und Weise und zeigt sich damit als Schriftsteller noch einmal ein ganzes Stück gereift. Interessant montiert und sprachlich authentisch ist Ginsterburg ein Lehrstück über die Kräfte des Bösen und die Konsequenzen, die diesen folgen, egal ob in der Kleinstadt Ginsterburg oder im Großen. Das macht dieses Buch unbedingt lesens- und diskussionswert!


  • Arno Frank – Ginsterburg
  • ISBN 978-3-608-96648-0 (Klett Cotta)
  • 432 Seiten. Preis: 26,00 €
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Heinrich von Berenberg – Vom Stemmen der Gewichte

Einführung in das Portfolio seines Verlags, Hommage an den literarischen Herzensort Spanien, dazu noch mehr als ein Dutzend Schriftsteller*innenporträts aus der halben Welt. Heinrich von Berenberg macht mit der unter dem Titel Vom Stemmen der Gewichte veröffentlichten Zusammenstellung seiner Newsletter und charmanten Programmvorstellung Lust auf Literatur aus dem gleichnamigen Verlag.


Das Veröffentlichen von Büchern, es kann bisweilen ein echter Kraftakt sein. Was die Arbeit mit Autor*innen, Manuskripten und den Umgang mit der Öffentlichkeit anbelangt, kostet sie Verlagshäusern und deren Mitarbeitenden oftmals viel Energie. Da ist der kleine Gewichtheber nicht das schlechteste Bild, der minimal schurzberockt seit nunmehr 21 Jahren tapfer auf den Umschlägen des Berenberg-Verlags die kurz vor ihrem Bruch stehende, schwer beladene Gewichtstange nach oben stemmt.

Was für ein Kraftakt dieses Stemmen von literarischen Gewichten sein kann, das lässt sich aus dem Buch von Heinrich von Berenberg lernen. In diesem gibt er, versehen mit dem schönen Untertitel News and Letters, Einblicke in das Geschäft des Büchermachens. Auch erklärt der Verleger, wie der kleine Gewichtheber als Logo zum seinem Haus fand, der sich auf der Verlagshomepage mit folgenden Worten selbst so vorstellt: Der Berenberg Verlag ist ein Literaturverlag mit viel Non-Fiction im Programm. Wir bemühen uns um deutschsprachige Literatur, sind aber störrisch international.

Newsletter und Autor*innenporträts

Heinrich von Berenberg - Vom Stemmen der Gewichte (Cover)

Wie es kam mit dem Verlag und was den Verleger vom einstigen Lektor und Übersetzer bei Wagenbach mit Schwerpunkt der spanischen Literatur zu einem Verleger werden ließ, davon gibt das in Broschur im eigenen Verlag erschienene Buch Auskunft. Den Schwerpunkt des Buchs bilden Newsletter, die Heinrich von Berenberg als Verlegerpost in unregelmäßigen Abständen verfasst und in denen er seine Autor*innen vorstellt, weit über jegliches ökonomisches Interesse hinaus.

Es sind gelehrte Darstellung, die mit persönlichem Blick seine Bindung zu Autor*innen und Themen ergründen und die neugierig machen auf das jeweilige Werk und das Oeuvre der Autor*innen. Jene Werkvorstellungen lassen sich nun hier versammelt lesen und bilden damit die thematische Fülle ab, die die Verlagspublikationen mit den meist schmalen, fadengehefteten und dafür inhaltlich umso gehaltvolleren Büchern kennzeichnet.

So erzählt Heinrich von Berenberg von seinem erstmaligen Kontakt mit Richard von Schirach und der Arbeit, die hinter seinem Buch Die Nacht der Physiker steckte. Seine Hymne auf die Autorin Christine Wunnicke findet sich ebenso wie eine Hommage an schwierige Autoren wie Igal Avidan. Auch erzählt er von den Schwierigkeit, die das Leben bereithält, wenn etwa die Wahrnehmung der eigenen Personen mit der Fremddarstellung auseinanderklafft – so passiert etwa im Zug der Publikation der Tagebücher Michael Rutschkys.

Bis hin zum Ungemach, das die Debatte über den von Berenberg verlegten Roman Eine Nebensache von Adania Shibli brachte, reicht der Bogen, den von Berenberg in seinen Betrachtungen als Verleger spannt. Immer weisen seine Briefe und Vorstellungen über die einzelnen Werke oder Autor*innen hinaus und vermitteln einen Eindruck, wie vielfältig und herausfordernd das Büchermachen auch sein kann. Ein Kraftakt eben.

Faszination für die spanische Literatur

Aber auch seiner Faszination für Spanien und die lateinamerikanische Welt ergründet der Verleger in seinem Buch – und das gleich vorneweg. Die starke Prägung seit Jugendtagen und Einsichten in ein literarisch vielgestaltiges Land, dessen Fülle hierzulande gar nicht so wirklich bekannt ist, ihren Ursprung betrachtet von Berenberg und schreitet dabei biographische wie literarische Wegmarken seines Lebens ab.
Die Beschäftigung mit richtungsweisenden Autoren wie etwa Rafael Chirbes oder Roberto Bolaño, dessen Werk von Berenberg entdeckte und teilweise übersetzte, bis hin zu zeitgenössischen Autoren wie Vicente Valero oder Juan Pablo Villalobos, um deren Pflege sich der mehrfach preisgekrönte Verlag verdient gemacht hat, all das hat in diesem Buch seinen Platz.

Fazit

Liest man Vom Stemmen der Gewichte, bekommt man Lust, sich in die vom Verlag herausgegebene Literatur zu stürzen. Elegant und kenntnisreich geschrieben vermitteln von Berenbergs Porträts eine Ahnung von der Vielfalt, die auf Leser*innen abseits des Mainstreams wartet. Sein Buch ist weit mehr als nur eine Werbeveranstaltung für das eigene Programm – es ist ein Blick hinaus in die weite Welt der Literatur, ein Blick hinter die Kulissen des Literaturbetriebs und nicht zuletzt eine Anregung, sich auf Überraschungen einzulassen.


  • Heinrich von Berenberg – Vom Stemmen der Gewichte
  • ISBN 978-3-911327-07-7 (Berenberg)
  • 280 Seiten. Preis: 22,00 €
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Paul Ruban – Der Duft des Wals

Wie soll man sich bei diesem Gestank nur erholen? In Der Duft des Wals lässt der Kanadier Paul Ruban eine Familie im eigentlich paradiesischen Urlaubsparadies auf das Odeur eines geplatzten Wals treffen. Da liegt Ärger in der Luft…


Diesen Urlaub hatten sich alle Beteiligten wahrscheinlich anders vorgestellt. Sommer, Süden, Meer, Drinks für die Eltern und Planschen im Pool für die Kinder. Das, was für die viele Menschen als gelungener Sommerurlaub gilt, strebt auch die Familie um den früheren Eiskunstläufer Hugo und seine Frau Judith als gewünschte Art der Erholung an. Dafür haben sie sich an Bord eines Flugzeugs begeben, das sie in den Süden bringt, genauer gesagt ins Hotel Nuevo Gran Palacio, das all diese Zutaten aufweist, possierliche Nasenbären und dschungelhaftes Grün in der Umgebung inklusive. Doch dann das:

Bumm.
Eine dumpfe, aber heftige Explosion.

Ich reiße sofort die Augen auf.
Judith schläft ungerührt im anderen Bett weiter. Mit der Hand unter der Wange und etwas Spucke im Mundwinkel, wie sonst auch. Während ich in Hotels nie gut schlafe, könnte meine Frau genauso gut in einem Kanu oder einem Nagelbett schlafen. Ich schaue durch den offenen Türspalt im Wohnbereich, wo Ava auf einem Schlafsofa liegt. Auch sie hat nichts gemerkt. (…)

Ich starre wie hypnotisiert auf den kreisenden Deckenventilator und überlege, was die Explosion verursacht haben könnte. Sie war heftiger als eine explodierende Gasflasche, schwächer als ein in die Luft gejagtes Auto – zumindest verglichen mit denen aus Filmen – zumindest verglichen mit denen aus Filmen. Auch wenn sie durch die Hotelwand abgeschwächt wurde, war die Explosion doch in der Nähe. Dazu wirkte sie auf mich relativ fleischig, hatte eine etwas schleimige und nasse Texter. Es war mehr ein Bummplatsch als ein Bumm.

Paul Ruban – Der Duft des Wals, S. 27

Ein explodierter Wal im Urlaubsparadies

Paul Ruban - Der Duft des Wals (Cover)

Die akustische Analyse von Hugo erweist sich als durchaus richtig. Denn als er sich auf die Suche nach dem Ursprung des Explosionslauts begibt, stößt er auf einen gigantischen Walkadaver, der just am Strand in Hotelnähe explodiert ist und der seine Überrest über den Strand verteilt hat. Und damit nimmt jener Geruch seinen Ursprung, der Hotelpersonal wie Gäste im Folgenden bis in den Schlaf hinein malträtieren wird.

Ausgeteilte Nasenklammern, Citronella-Kerzen oder sogar eine waghalsige Ausbringungsaktion von Chanel-Parfüm per Drohne zeitigen keinen so rechten Erfolg. Mit dem explodierten Wal nebenan lässt sich nur unter Schwierigkeiten urlauben, wie es der Kanadier Paul Ruban unterhaltsam in seinem Roman illustriert.

Der multiperspektiv erzählte Roman erzählt von der Stewardess Celeste, der Familie um Hugo oder Waldemar, den alteingesessenen Gepäckträger Waldemar, der nun zum Fahren eines Golfcarts abkommandiert wurde. Sie alle müssen sich im Hotelkomplex mit den Auswirkungen der Explosion auseinandersetzen, wobei Der Duft des Wals rasch von Figur zu Figur wechselt und so manches Mal so gar Gegenschüsse wagt, wenn Hugo und seine Frau diametral gegenüberstehen, wobei die Zaubertafel ihrer Tochter Ava das einzige zu sein scheint, das in dieser Familie (noch) so recht funktioniert.

Explodierende Wale, implodierende Beziehungen

Wobei, ohne an dieser Stelle zu viel von der Handlung vorwegnehmen zu wollen: Der Duft des Wals zelebriert den Zerfall und die Zerstörung. Wale explodieren und Beziehungen implodieren, Schreckgespenster zerfallen, während sich an anderer Stelle neue auftun, während die Nasenbären um die Protagonisten des Buchs herumtappsen.

Der Duft des Wals ist das, was man einen Beachread nennt. Kurze Kapitel, Sprünge, hohes Tempo, ein Einstieg, der den Leser*innen leichtgemacht wird, ein überschaubarer Umfang, dazu noch ein exotisches Setting, das aber auch Platz lässt für die Auswüchse des modernen Tourismus und dessen Sinnlosigkeit nebst aller Zerstörung, die mit dem menschlichen Eingriff in solche Paradiese einhergeht.

Fazit

Der von Jennifer Dummer aus dem Französischen übersetzte Roman überzeugt mit schwarzem Humor, einem Blick in die Abgründe des Tourismus, die Klassenunterschiede in vermeintlichen Urlaubsparadiesen und dem lustvollen Blick auf die langsame, aber unausweichliche Zersetzung von Beziehungen. Als Negativbeispiel eines Urlaubs ist das ein hervorragender Beachread, bei dem zu bleiben hofft, dass die Umstände des eigenen Urlaubs dann positiver sind als die in Rubans Buch.


  • Paul Ruban – Der Duft des Wals
  • Aus dem Französischen von Jennifer Dummer
  • ISBN 978-3-351-04253-0
  • 223 Seiten. Preis: 22,00 €
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Fien Veldman – Xerox

Selbstgespräche mit dem Drucker, Kontemplation im Kämmerlein. In ihrem Roman Xerox erkundet Fien Veldman die moderne Arbeitswelt und erzählt von einer anonymen Arbeiterin, die beim Höher – Schneller – Weiter der modernen Arbeitswelt nicht mitmachen möchte und sich stattdessen ihre eigene Arbeitsnische sucht. Ein Büroroman im Geiste von Herman Melvilles Bartleby der Schreiber.


Mit seiner Ankündigung sorgte Mark Zuckerberg Anfang des Jahres für Schlagzeilen. Nicht nur, dass er im Geiste Elon Musks Faktenchecks und Moderationen bei Facebook abschaffen möchte, auch sollen fünf Prozent der Mitarbeiter beim Digitalkonzern entlassen werden. Treffen werde es leistungsschwache Arbeitnehmer, mit deren Performance man nicht zufrieden sei, so die Ankündigung des Multimilliardärs.

Damit reiht sich Zuckerberg ein in die Riege des Höher – Schneller – Weiter, das von den Mitarbeitenden mehr Effizienz und Leistung einfordert und damit ganz im Trend der Hochleistungsgesellschaft liegt. Wie es aber aussehen kann, wenn man gar nicht zu den Highperformern zählen möchte, sondern sich lieber mit seinem kleinen Arbeitsplatz und einem überschaubaren Arbeitsanspruch begnügen möchte, das erkundet Fien Veldman in ihrem Roman Xerox.

Einöde im Startup

Sie erzählt von einer anonymen Angestellten, die in einem Startup in einer Stadt mit Grachten ihren Dienst tut. In einem kleinen Kämmerlein sitzt sie, Gesellschaft leistet ihr der Xerox-Drucker, den sie mit Hingabe bedient und der ihr auch als Gesprächspartner dient. Die meiste Zeit verbringt die Angestellte für sich und hat eine Virtuosität in Sachen Erkennung von Papierqualität und Vermeidung von Papierstau entwickelt.

Fien Veldman - Xerox (Cover)

Ab und an soll sie aber auch die Betreuung des Kunden-Postfachs übernehmen und die Anliegen der Schreibenden beantworten – und das alles für den Mindestlohn, von dem auch noch Geld für das Mittagessen einbehalten wird. Motivation sieht anders aus, auch wenn ihr Chef ihr zu verstehen gibt, dass sie und ihre Arbeit gesehen werden.

Die größte Spannung in diesem recht einförmigen (Büro)Alltag bildet da schon ein Paket, das falsch adressiert wurde und dem sie nun neben dem Job durch die Straßen und Häuser in der Stadt hinterherjagt.

Doch dann zeigt sich, dass eines ihrer Selbstgespräche mit dem Drucker eines zu viel war – der Chef wittert Fremdbeschäftigtung und stellt seine Arbeitnehmerin frei, die in Gesprächen mit einem Therapeuten ihr Verhalten aufarbeiten soll. Dabei will sie ja eigentlich nur eines – wieder zurück in ihr Kämmerlein und zurück zum Xerox-Drucker.

Ich möchte einfach meine Briefe ausdrucken und verschicken und dann und wann die Tonerkartuschen austauschen. Ich möchte an meinem Papier fühlen können, ob es für den jeweiligen Tag geeignet ist, wie ich es immer tue. Ich möchte jeden Tag in mein kleines Kämmerlein gehen und dort in Ruhe gelassen werden. Ich möchte morgens meinen Drucker anmachen und seinen Aufwärmgeräuschen lauschen, während in den ersten Schluck Kaffee trinke aus der Tasse, die ich immer benutze und die ich selbst abwaschen, wenn nötig. Ich möchte den Tag mit meinem Gerät verbringen, die Stapel gedruckter Briefe wachsen sehen, ich möchte die Umschläge zählen, sie kategorisieren und in kleinere Stapel aufteilen, Adressetiketten ausdrucken und aufkleben.

Fien Weldman – Xerox, S. 115

Fien Veldman auf den Spuren Herman Melvilles

Xerox erzählt von der Sinnlosigkeit mancher Jobs, die im Kosmos eines Büros aber trotzdem verrichtet werden sollen. Wie die junge Arbeitnehmerin, die es in die Stadt mit den Grachten geschafft hat, jetzt an der Eintönigkeit im Start-Up leidet, sie aber auch sucht, das erinnert schon fast an Franz Kafka und seine Tätigkeit im Versicherungsbüro in Prag.

Doch statt großer Literatur entstehen bei der Arbeitnehmerin Gedanken, die sich zurückbewegen in ihre Kindheit, die wild assoziieren und die sich der Drucker ergeben anhört, ehe dieser zur großen Überraschung auch selbst zu Wort kommt (womit Fien Veldman nebenbei bemerkt auch die literarisch eigenwilligste und herausragendste Annäherung an das Phänomen Papierstau aus ungewöhnlicher Perspektive gelingt).

Vor allem aber erinnert Xerox auch an den Urvater aller Büroromane, nämlich Herman Melvilles Erzählung von Bartleby, dem Schreiber. Dieser versah in einer New Yorker Kanzlei seinen Dienst, ehe er mit der ikonischen Verweigerung I prefer not to sämtliche an ihn herangetragene Arbeit ablehnte und damit sein Umfeld in Verzweiflung und Ratlosigkeit stürzte.

Auf diesen Spuren wandelt Veldman und zeigt ihre Arbeitnehmerin als Rädchen im Getriebe, das gar nicht primär funktionieren, sondern leben will. Damit hätte sie es natürlich auch schwer, würde das Startup Facebook heißen und ihr Chef auf den Namen Mark Zuckerberg hören.

„Ich meine: es gibt Menschen, die sich mit ihrer Umgebung mitbewegen, Menschen die etwas tun. Und es gibt Menschen wie dich. Du kannst ruhig darauf warten, dass sich etwas von sich aus verändert, aber das wird schlichtweg nicht passieren, die Welt wird sich nicht an dich anpassen.“

Fien Veldman – Xerox, S. 135

Fazit

Mit ihrem Debüt Xerox reiht sich Fien Veldman ein in die Reihe von Büroromanen aus niederländischer Feder, wie sie Willem Elsschot oder J. J. Voskuil schrieben. Aber steht Veldmans Buch in der Tradition von Melville und Kafka. Ihr gelingt ein literarisch interessant gestaltetes Porträt einer namenlosen Arbeiterin und deren sanftes Opponieren gegen die anonyme Leistungsgesellschaft.


  • Fien Veldman – Xerox
  • Aus dem Niederländischen von Christina Brunnenkamp
  • ISBN 978-3-446-27952-0 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 23,00 €
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