Yannick Dreßen über Meravliagiosa Creatura

Fünf Jahre ist es her, dass der vom Blogger Tobias Nazemi initiierte Bloggerpreis Blogbuster das letzte Mal über die Bühne ging. 15 Blogger*innen fungierten damals als eine Vorjury, an die sich Autor*innen mit ihren bislang unpublizierten Manuskripten wenden konnten. Diese sichteten die eingegangenen Texte und schickten den aus ihrer Sicht besten Text auf die Longlist, aus der eine Fachjury, bestehend aus Verlegern, Kritikern und Literaturagenten dann einen Siegertext kürte. Dieser wiederum erhielt dann einen Platz im Programm des am jeweiligen am Preis beteiligten Verlagshäuser, wie etwa Klett-Cotta oder Eichborn.

Drei Mal ging der Preis über die Bühne – und im bislang letzten Preisjahr 2020 wurde mir die Ehre zuteil, auch Teil der Bloggerjury beim Blogbuster zu sein. Zahlreiche Einsendungen von Manuskripten fanden den Weg zu mir. Alle nahm ich in Augenschein und entschied mich schlussendlich für das Manuskript von Yannick Dreßen, das damals noch den Titel Verdichtet trug.

Darin erzählt er die Geschichte eines Autors, der sich in zwei unterschiedlichen Welten wiederfindet. Realität und Wahn fließen ineinander über, sodass man beständig in seiner Beurteilung der Lage schwankt. Liegt der Mann delirierend in einem Krankenhausbett oder ist er ein erfolgreicher Schriftsteller, der in Italien urlaubt und der sich bei seiner Arbeit in die Welt des Delirierenden imaginiert? Ein reizvolles Wechselspiel nimmt seinen Ausgang, das ich gerne in der Endrunde des Preises schicken wollte.

Auch wenn das Buch damals nicht den Sieg errang, so war ich dennoch gespannt, wie es weitergehen würde mit dem Text, schließlich schafften es immer wieder Teilnehmer*innen aus dem Umfeld des Preises in ganz unterschiedliche Verlagsprogramme.

Jahre und einen Podcast später überbrachte mir Yannick auf der Frankfurter Buchmesse im vergangene Jahr die frohe Kunde, dass es auch bei ihm geklappt hatte und ein Verlag für sein Buch gefunden war. Nun ist das damalige Manuskript tatsächlich zu einem echten Buch geworden.

Grund genug, mich mit Yannick über die Geschichte und den Werdegang seines Romans Meravigliosa Creatura zu unterhalten!


Lieber Yannick, nimm uns doch einmal mit zur Entstehung deines Romans. Wie hat das mit dir und deinem Roman angefangen? Welche Überlegungen und Gedanken haben dich dazu verleitet, einen Roman zu schreiben?

Da müssen wir wirklich sehr weit zurückgehen, und zwar ins Jahr 2007. Ich habe schon in jungen Jahren viel und gerne geschrieben, aber in der Jugend rückten dann für lange Zeit erst einmal andere Interessen in den Fokus. Erst mit Anfang 20 wurde die Leidenschaft für Literatur und auch fürs Schreiben neu entfacht. Nach einigen Gedichten und Kurzgeschichten hatte ich schließlich die Idee zu diesem Roman, in dem es um zwei entgegengesetzte aber vermeintlich reale Welten gehen sollte, die ich dann auf circa 50 Seiten ausführte. In den folgenden Jahren habe ich die Geschichte immer wieder bearbeitet, weitergesponnen und umgeschrieben, auch wenn das Grundgerüst bis heute dasselbe blieb.

2012 habe ich die Geschichte mit damals rund 100 Seiten sogar zeitweise in einem Selbstverlag publiziert. Danach habe ich sie lange ruhen lassen und erst zum Blogbuster Preis 2019 wiederhervorgeholt. Uwe Kalkowski, dem ich das Manuskript damals zugeschickt hatte, schrieb mir netterweise seine Gedanken dazu, woraufhin ich intensiv daran weiter feilte. Ein Jahr später ging die Geschichte dann in gänzlich neuem Gewand zu dir in die Runde.

Ich selbst bin dann auf dein Manuskript im Rahmen des „Blogbuster“-Preises gestoßen, bei dem Autor*innen dazu aufgerufen waren, unveröffentlichte Manuskripte an teilnehmende Literaturblogger zu schicken, die sich dann für eines der Manuskripte entschieden, das sich dann der letztendlichen Auswahl einer Fachjury stellen sollte. Nun liegt der Wettbewerb ja schon wieder ein paar Jahre zurück – wie ist es dir seither ergangen und welche Wege hat das Manuskript dann genommen, ehe wir alles es nun lesen können? Und vor allem – wie fühlt es sich an, sein Buch erstmals in Händen zu halten?

Das Gefühl, dieses Buch endlich in den Händen zu halten, nach beinahe 18 Jahren, nach so vielen Fassungen und Überarbeitungen, nach so vielen Rückschlägen und Enttäuschungen … das kann ich nicht beschreiben. Das ist einfach nur unglaublich. Ich habe immer an die Geschichte geglaubt und war einfach davon überzeugt, dass auch andere es mit Freude lesen würden. Leider sahen das viele Verlage erst einmal nicht so. Nachdem du mein Manuskript auf die Longlist des Blogbuster Preises gesetzt hattest, begab ich mich intensiv auf Verlagssuche, erhielt aber eine Absage nach der anderen.

Das war natürlich enttäuschend, aber irgendwie habe ich mich nicht entmutigen lassen, habe nochmal viel Zeit in die stilistische Überarbeitung investiert und ganz nebenbei noch ein neues Ende gefunden. Als ich es dann schließlich fertig wähnte, habe ich mich nochmal auf die Suche nach Verlagen begeben und kul-ja! publishing gefunden, die sofort von der Story begeistert waren und die Geschichte unbedingt veröffentlichen wollten. Vom Verlagsvertrag bis zur Veröffentlichung vergingen aber nochmal mehr als anderthalb Jahre.

Begibt man sich in die Welt – oder besser die Welten – von Meravigliosa Creatura, stellt man schnell fest, dass Realität und Fantasie sowie deren Grenzbereiche eine große Rolle spielen. Denn die Welt des Autors Friedrich könnte fragiler sein, als es zunächst den Anschein hat. Er wird sich – ohne an dieser Stelle zu viel zu verraten – in einer anderen Welt wiederfinden als in der Toskana, in der er sich eigentlich mit seiner Familie befindet. Was hat dich am Spiel mit den zwei Realitätsebenen gereizt? Und wie bist du bei der Konstruktion dieser Welten vorgegangen?

Gereizt hat mich schon immer dieses Konstrukt der Realität, das wir auf unserer Wahrnehmung aufbauen und als unverrückbar erachten, das aber vielleicht nicht so stabil ist, wie wir annehmen. Denn was ist eigentlich Realität? Woraus besteht sie? Gibt es womöglich verschiedene Realitäten? Und welche Rolle spielen Erinnerungen dabei, die letztlich zu Bausteinen unseres Lebens werden? Ist ihnen zu trauen? Können Menschen dieselben Ereignisse erleben und trotzdem anders wahrnehmen? Was ist dann eigentlich wirklich wahr? Schmieden wir uns alle also wirklich nur eine Geschichte, die wir als wahr erachten, obwohl ein anderer Fokus oder Blickwinkel eine ganz andere Geschichte kreieren würden? Das sind Themen, die mich seit jeher reizen.

In Texten tritt noch eine völlig neue Dimension hinzu, nämlich die der Fiktion. Obwohl jeder weiß, dass man nur einen Text liest, akzeptiert man keine Unklarheiten. Der Kopf fordert auch hier eine klare Kausalität, eine Erzählstimme, die einen führt und leitet. Und das war für mich die Idee, anhand fiktionaler Welten Gegensätzliches zum Leben zu erwecken, also zwei verschiedene Realitäten zu erschaffen, die der Kopf nicht akzeptieren kann.

Durch lebendige Personen und Welten, besonders durch Perspektivwechsel habe ich versucht, beiden Welten den Anstrich von Realität zu verleihen. Da man als Leser aber auf Bestimmtheit pocht, will man wissen, welche Welt denn nun die „reale“ ist. Dieses Geheimnis zu lüften, bleibt jedoch dem Leser überlassen. Wenn man über den Schluss hinaus noch über diese Welten nachdenkt, habe ich erreicht, was ich wollte.

Nun spielt ein großer Teil deines Buchs ja auch in der Literaturbranche. Friedrich hat den Deutschen Buchpreis gewonnen und versenkt sich mit großer Wonne in Büchern und deren Sprache. Du selbst beschäftigst dich als Autor, Podcaster und Kritiker auch immer wieder auf ganz unterschiedliche Weise mit der Welt der Literatur. Was macht diese in deinen Augen so faszinierend, dass du auch deinen Roman in dieser Welt spielen lässt?

Die Welt der Literatur ist eine ganz besondere. Hier sind der Freiheit beinahe keine Grenzen gesetzt. Genauso wie Friedrich finde ich es erst einmal erstaunlich, wie aus nur 26 Buchstaben tausende Wörter entstehen können und aus diesen tausenden Wörtern unzählige eigenständige Welten, obwohl das alles ja nur Striche und Punkte sind, die wir mit Bedeutung aufgeladen haben. Wenn man aber diese Zeichen zu deuten weiß, hebt man einen unermesslichen Schatz. Denn man kann in tausende andere Leben eintauchen, sieht andere Kulturen und Meinungen, entwickelt Empathie und Verständnis für das, was man vielleicht vorher nicht gesehen hat.

Wenn man liest, begibt man sich auf eine Reise, bei der man Erfahrungen und Erlebnisse abseits der eigenen kennenlernt, eine Reise, bei der man andere Lebenswege beschreiten darf, neue Blickwinkel erhascht und in Umstände schlüpft, die den eigenen Horizont erweitern. Literatur zeigt uns fremde Wirklichkeiten, unterschiedliche Kulturen und Traditionen, aber auch untergegangene, phantastische und mögliche Welten und lässt uns so die Vielfältigkeit des Lebens erkunden. Durch die Literatur hinterfragen wir schließlich das Leben, das wir führen und als so selbstverständlich erachten. Durch sie hinterfragen wir letztlich uns selbst.

„Sprache war alles und alles war Sprache“ heißt es an einer Stelle in deinem Roman, der ja auch selbst durch Sprache und viele Bilder besticht. Wie bist du vorgegangen, um eine Sprache für deinen Roman zu finden und zu entwickeln?

Die richtige Sprache für den Roman zu finden, hat mich 15 Jahre gekostet. Die Geschichte war von Anfang an dieselbe, die Sprache hat sich im Laufe der Zeit jedoch stark geändert. Mit der Sprache steht und fällt alles, denn Sprache ist nunmal wirklich alles, besonders natürlich in einem Roman, der nur aus Sprache besteht. Mit Sprache erschaffe ich Leben. Mit Sprache erschaffe ich Realität, übrigens nicht nur im Roman, sondern auch außerhalb, also in unserem Denken, das unsere Realität kreiert. Ich bin der Überzeugung, dass Sprache die außersprachliche Wirklichkeit determiniert, also maßgeblich unsere Realität erschafft, in der wir leben.

Anhand der Sprache versetzen wir uns in diese Welt hinein, fühlen und erleben sie. Wir benennen die Dinge und begreifen sie durch Begriffe. Sprache ist also der wichtigste Bauteil beim Kreieren einer vermeintlichen Realität. Da es im Roman selbst um ebenjene Themen geht, also um einen Dichter, der sich mit dem Verhältnis von Sprache und Realität auseinandersetzt, musste auch die Sprache des Romans diesen Konflikt abbilden. Aus diesem Grund ist sie aufgeladen, doppelbödig, träumerisch, voller Bilder und Metaphern.

Meravigliosa Creatura steckt ja voller Anspielungen und Bezüge. Von Ludwig Wittgenstein bis hin zu E.T. A. Hoffmann reicht der Bogen an Zitaten und Verweisen, die sich im Roman finden lassen. Welche Werke oder Autorinnen hatten für dich persönlich den größten Einfluss auf die Geschichte?

Ich selbst empfinde die größte Freude beim Lesen, wenn ich Anspielungen, Verweise und Zitate, intertextuelle oder auch autoreferentielle Bezüge erkenne. Literatur ist ein großer Flickenteppich, alles ist miteinander verwoben und daher voller Zeichen, die mehr als das Gesagte bedeuten können, Zeichen, die auf etwas anderes deuten und verweisen, also eine Metaebene beinhalten. Ähnlich wie William von Baskerville in Umbertos Ecos Der Name der Rose muss man die Zeichen deuten und sich auf Spurensuche machen, um das Ganze zu erfassen. In der Tat habe ich mich deswegen viel mit Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie auseinandergesetzt, mehr und weniger verdeckte Zitate und Anspielungen eingebaut.

Zudem wird natürlich auf einige literarische Werke referiert. Dabei haben mich besonders Leo Perutz und seine Werke geprägt, in denen stets ein unzuverlässiger Erzählerauftritt und man nie genau weiß, was da eigentlich „wirklich“ geschieht und ob man dem Erzählten trauen kann. Den größten Einfluss auf mich hatte aber wohl von Anfang an die tragische Liebesgeschichte von Friedrich Hölderlin und Susette Gontard, auf die hier, natürlich in großer literarischer Freiheit, angespielt wird. Letztlich ist es ein Spiel mit dem Leser, der nichts von all den Anspielungen und Zitaten erkennen muss, um die Geschichte mit Freude lesen zu können, dem aber vielleicht ein Lächeln über die Lippen huscht, wenn er etwas erkennt.

Nun, da das Buch nun in der Welt ist, gibt es etwas, das du deinem Buch wünschst oder das du dir als Schriftsteller wünschst?

Dieses Buch allein in den Händen zu halten, ist der größte Erfolg, den ich feiern darf. Das habe ich mirmehr als 17 Jahre lang ausgemalt. Natürlich wünscht man sich als Autor, dass die Werke auch gelesen werden, dass sie Gefallen finden und Aufmerksamkeit erregen. Aber darauf habe ich keinen Einfluss mehr. Ich habe dieses Kind nach 17 Jahren Schwangerschaft zur Welt gebracht, mehr kann ich nicht verlangen – außer natürlich wie Friedrich den Deutschen Buchpreis zu gewinnen und mir dann ein Strandhaus in der Toskana zu kaufen, um mich voll und ganz dem Schreiben zu widmen. Das natürlich schon, aber mehr nicht 🙂

Als Schriftsteller wünsche ich mir die Zeit und Freiheit, weiterschreiben zu können. Im meist hektischen Alltag ist Zeit zu einem kostbaren Gut geworden und vom Schreiben leben zu können, ist ein Privileg, in dessen Genuss nur sehr wenige gelangen. Da mache ich mir keine Illusionen. Deswegen hoffe ich, dass es nicht wieder 17 Jahre zum nächsten Roman dauern wird. Aber glücklicherweise habe ich bereits vor 14 Jahren einen zweiten Roman geschrieben. Blieben also noch 3-4 Jahre übrig, bis er komplett überarbeitet und geschliffen in den Buchhandlungen steht. Das wäre doch toll!

Yannick Dreßen - Meravigliosa Creatura (Cover)

Dafür drücke ich die Daumen und bedanke mich für das Interview! Dir viel Erfolg mit deinem Buch und allem, was da noch so kommt. Ich bedanke mich auch für das Vertrauen, mir das Manuskript einst zuzusenden und freue mich über alle Entdeckungen, die die Literaturwelt noch für dich bereithält!

Wer jetzt neugierig geworden ist auf Yannicks doppelbödige Geschichte – hier die Daten zum Buch:

  • Yannick Dreßen – Meraviligiosa Creatura
  • ISBN 978-3-949260-39-1 (kul-ja! Publishing)
  • 220 Seiten. Preis: 17,00 €
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Geovani Martins – Via Apia

Gibt es Hoffnung in den Favelas? Liest man Via Apia, den Romanerstling des brasilianischen Schriftstellers Geovani Martins, dann ist man geneigt, diese Frage mit Nein zu beantworten. Denn mögen sich auch die Herrschaftsverhältnisse ändern, die Polizei in den Slums in Rio einrücken – viel Veränderung oder gar Besserung bringt all das nicht. Mag zwar die Versorgung mit bewusstseinserweiternden Substanzen reibungslos funktionieren, so mangelt es aber entscheidend an Hoffnung. Starke Lektüre, die Elemente des Kriminalromans und der Gesellschaftsanalyse vereint und in der Tradition der Romane eines Richard Price steht.


Bei Via Apia handelt es sich um eines jener Bücher, bei denen man während der Lektüre nicht zu tief einatmen sollte. Denn die Gefahr von passivem Kiffen oder anderweitigem Drogenkonsum ist hier durchaus gegeben. Martins Protagonisten rauchen den Tag Cannabis oder konsumieren Kokain. Die Drogen sind überall und allezeit verfügbar. Das ist aber auch schon so ziemlich das einzige, was in den Favelas reibungslos funktioniert. Deutlich schlechter sieht es aus, wenn es um die Frage von Perspektiven und Hoffnungen für die Bewohner von Rocinha geht.

Perspektivlosigkeit in Rocinha

Geovani Martins - Via Ápia (Cover)

Diese in Rio de Janeiro gelegene Favela ist die größte ihrer Art in ganz Lateinamerika, wie es in einer Stelle im Roman heißt. Sie bildet den Hintergrund (oder vielmehr fast den Vordergrund) von Martins Geschichte, mit der er sich nach seiner Kurzgeschichtensammlung erstmals an die Langform eines Romans wagt.

Mehrere Figuren stehen im Mittelpunkt seines Romans, die sich in Rocinha immer wieder begegnen, gemeinsam Party machen, haufenweise Drogen konsumieren und zumeist in den Tag hineinleben. Denn Perspektiven für die jungen Männer gibt es kaum. Man verdingt sich im Betreuungsservice für Kindergeburtstage von Oberschichtenkids, dient im Militär, versucht sich als Tätowierer oder findet eine Anstellung im Service eines Restaurants. Solche Momente zur Verbesserung der eigenen Lebenssituation sind aber rar gesät.

Denn auch wenn der Roman im Sommer 2011 spielt und die Stadtregierung darum bemüht ist, das Treiben in Rocinha und den anderen Favelas der Stadt angesichts der bevorstehenden olympischen Spiele zu disziplinieren, um ein positives Bild der Stadt zu zeichnen – es mag alles nicht fruchten. Zwar ziehen sich die eigentlichen Machthaber im Viertel zurück, das Militär rückt ein, um die Favela zu „säubern“ – die Hoffnungslosigkeit bleibt, allzu tief ist doch sie doch auch schon in die jungen Menschen dort eingeschrieben. Seine Herkunft kann man nicht verleugnen, egal wie viel Haschisch oder Kokain man auch konsumieren mag.

Drogen als verbindendes Element der Favela-Gesellschaft

Ähnlich wie in seinen zuvor erschienenen Kurzgeschichten oder Martins Landmann José Falero in seinem Roman Supermarkt zeigt auch Martins in Via Ápia wieder die Drogen als verbindendes Element der Gesellschaft, gegen die jeglicher Kampf aussichtslos scheint. Die Drogen als Währung und System, das vom organisierten Verbrechen schon längst auf die Zivilbevölkerung übergegriffen hat und die Favela durchsetzt hat, das erinnert auch stark an die Romane von Ryan Gattis und insbesondere an die Werke von Richard Price, die wiederum stark die Entstehung von Serien wie The Wire beeinflussten.

Liest man Geovani Martins Roman, so wirkt dieser an vielen Stellen wie die brasilianische Entsprechung dieser Art großstädtischer Milieustudie, nur dass es hier eben die schmutzigen Gassen der Favela sind, vor deren Hintergrund sich die großen und kleinen Deals des Lebens abspielen. Und ebenso mitreißend wie gutes Serienfernsehen ist auch die Erzählweise Martins, der immer wieder von einem der jungen brasilianischen Männer zum nächsten wechselt und so die Handlung in Via Ápia vorantreibt.

Fazit

Konnten mich seine Kurzgeschichten nicht wirklich für sich einnehmen, kommt Martins Talent für Milieuschilderungen und Hoffnungslosigkeit hier deutlich besser zum Tragen. Sein Roman drängt voran, schildert glaubhaft die Ausweglosigkeit des Lebens dort in Rocinha ebenso wie die ubiquitären Drogen, gegen die kein Kampf zu fruchten scheint.

Übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner ist Via Ápia ein starkes Buch, das hineinblickt in die Favelas und so neben Zuckerhut-Klischees und den politischen Volten einem Teil des täglichen Lebens in der brasilianischen Hauptstadt mit viel literarischem Drive Raum gibt.


  • Geovani Martins – Via Ápia
  • Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner
  • ISBN 978-3-518-43142-9 (Suhrkamp)
  • 333 Seiten. Preis: 25,00 €
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Penelope Lively – Nachtglimmen

Während ihr eigenes Lebenslicht zusehends schwächer wird, versetzt sich Claudia Hampton in Penelope Livelys Roman Nachtglimmen von einem Krankenhausbett aus noch einmal an zentrale Punkte ihres Lebens. Mal aus der eigenen Geschichte heraustretend, mal ganz präsent entsteht das vielgestaltiges Bild eines Lebens, das für Claudia von der Kriegsreporterin bis hin zur Mutter viele Rollen kannte.


Moon Tiger, so heißt jenes brennbare Material, dessen Verglimmen Moskitos fernhalten soll und das auch Penelope Livelys Buch im Original von 1987 und den bisher erschienenen deutschen Ausgaben des Romans (1994 als deutsche Erstausgabe, 1997 als Neuauflage) seinen Titel gibt. Auch Claudia Hampton diente der Moon Tiger als Schutz vor Moskitos, führte sie ihr Leben von England aus doch an entlegene Schauplätze wie Kairo, wo man Moon Tiger einsetzte, um des Nachts die Gefahr durch die Insekten zu mildern.

Auch andere Ländern wie Indien oder Spanien zählten zu den Stationen ihres Lebens, ehe Claudia zurück in ihre britische Heimat kam. Dort liegt sie im Alter von 76 Jahren nun abermals in einem Bett – nur Moon Tiger verglimmt nicht mehr neben ihr.

Schichten eines Lebens

Stattdessen ist es ihr Lebenslicht, das zusehends schwächer wird und nur noch flackert, womit der Titel des Nachtglimmens ebenso metaphorisch wie konkret zu lesen ist. Wechselnd zwischen realen Momenten dort im Krankenhaus und dem überwiegenden Abtauchen in die eigenen Erinnerungen entsteht langsam ein Bild, das die Schichten von Claudia Hampton freilegt. Denn nicht umsonst ist sie seit Kindertagen von fossilen Ablagerungen wie Ammoniten fasziniert und zählt den Bauingenieur William Smith zu ihren Vorbildern. Dieser nutzte seine Kanal-Baustellen, um nebenher Studien über die unterschiedlichen Schichten im Gestein zu betreiben.

William Smith bezog seine Inspiration durch die Schichtenbildung. Meine Schichten sind nicht so leicht zu erkennen wie die der Felsen von Warwickshire, und im Kopf sind sie nicht einmal in Folgen angeordnet, sondern ein Wirbel aus Worten und Bildern.

Penelope Lively – Nachtglimmen, S. 29

In diesen Wirbel taucht man im Folgenden mit Claudia ein und widmet sich den unterschiedlichen Schichten und Stadien ihres Lebens, die sich zu dem Menschen sedimentiert haben, der nun im Krankenbett zwischen persönlichen Erinnerungen in Ich-Form und Außenbetrachtungen hin und herwechselt.

Die vielen Facetten der Claudia Hampton

Penelope Lively

Die Kindheit, die im Zeichen von Konkurrenz und Anziehung zu ihrem Bruder Gordon bestand, die Zeit als Kriegsreporterin zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Kairo, eine große Liebe und eine weniger liebende Partnerschaft, die Erfahrungen als Mutter und ihre eigene Karriere, all diese Aspekte ihres Leben scheinen in den Erinnerungen auf, die zwar an manchen Stellen durcheinanderwirbeln und sich gegenseitig überlagern, dennoch aber ein klares und ja – vielschichtiges Bild von Claudia und ihrem fast acht Jahrzehnte währendem Leben ergeben.

Das ist neben dem Inhalt des Romans insbesondere aufgrund der schon erwähnten stilistischen Besonderheit des Buchs besonders prägnant. Denn immer wieder tritt Claudia aus ihrer eigenen Geschichte, betrachtet durch die personale Erzählweise sich selbst und ihr Verhalten anderen Menschen gegenüber aus der Distanz, um dann wieder in das eigene Erleben und die Kontakte mit ihren Lebensmenschen im Krankenhaus zurückzuwechseln.

Ein Frauenleben unter herausfordernden Bedingungen, das Schwanken zwischen Vergessen und Erinnern, das ist souverän erzählt und steht in der Tradition anderer großer britischer Autor*innen wie Graham Swift, Michael Ondaatje oder Jane Gardam. Dass die 1933 in Kairo geborene und 2012 zur Dame Commander of the Order of the British Empire ernannte Penelope Lively hierzulande nicht bekannter ist, ist angesichts der literarischen Klasse dieses Buchs bedauerlich – schließlich errang sie für Nachtglimmen 1997 den Booker Prize.

Ein neuer Blick auf eine bisweilen verkannte Autorin

Dass der Dörlemann-Verlag sich nun daran macht, Penelope Lively mit dieser Neuausgabe ihres Romans wieder ins öffentliche Interesse zu rücken, ist begrüßenswert. Alte, bei dtv erschienene Auflagen ihres Buchs sind im Buchhandel allenfalls noch antiquarisch erhältlich – und auch die damalige Kritik scheint veraltet, wie Eli Shafak in ihrem neuen Vorwort für den Roman schreibt.

Herablassend und bestenfalls gönnerhaft sei im englischsprachigen das damalige Urteil der Kritik ausgefallen, so die Autorin in ihrem Vorwort (hierzulande reicht das Archiv des Perlentauchers nur 25 Jahre zurück, sodass sich das deutsche Echo auf Livelys Roman nicht mehr wirklich nachvollziehen lässt).

Die Vielschichtigkeit im Charakter von Livelys Heldin, die Anerkennung der Komplexität und Widersprüchlichkeit und deren Anspruch, sich selbst zu ermächtigen, um ihre eigene Lebensgeschichte und damit verbunden die der Welt zu erzählen, all das sei von der männlich geprägten Literaturkritik nicht unbedingt mit Begeisterung aufgenommen worden.

Auch wenn sich manche dieser Verhaltensmuster in der professionellen Kritik auch hierzulande noch immer beobachten lassen, erlaubt die Neuauflage doch nun einen freieren Blick auf die Qualitäten und den Anspruch von Livelys Erzählen. Schade nur, dass die Übersetzung nicht – oder noch immer nicht – mit diesem Anspruch Schritt hält.

Eine begrüßenswerte Neuausgaben – mit Mängeln in der Übersetzung

Denn der einst von Ulrike Budde und nun laut Verlagsangaben von Ulrike Miller aus dem britischen Englischen übersetzte Roman krankt an der in Teilen mangelhaften Übersetzung.

So liest sich der Roman, als sei er nur in groben Zügen der neuen Rechtschreibung angepasst worden. Fehler wie der Begriff des “ Torpedobeschußss“ (S. 231) weisen in diese Richtung. Auch gibt es manche Eigentümlichkeiten wie das eine Seite zuvor auftauchende und im Deutschen nicht gebräuchliche Adjektiv „handsam“. Ob hier „handsome“ kreativ übertragen wurde oder von „handzahm“ die Rede sein sollte, bleibt ein Rätsel.

Zudem erscheint die Übersetzung von Begriffen an einigen Stellen erratisch. Während die einzelnen Regimenter genannt mit ihren originalen Titeln genannt werden, gibt es plötzlich ein Hochländer-Regiment, das in einer konsistenten Übersetzung als Highlander-Regiment Bestandsschutz hätte genießen müsste.

Neben einigen unnötig komplizierten und wenig idiomatischen Wendungen und der Verwendung von problematischen Begriffen wie „Rassen“ bleibt hier der Eindruck, dass mit einer präziseren Übersetzung im Deutschen noch einige zusätzliche Schärfegrade von Penelope Livelys Prosa hätten freigelegt werden können.

Fazit

Von diesem Wermutstropfen abgesehen bietet Nachtglimmen die Chance, eine ambitionierte und literarisch versierte Autorin (wiederzu)entdecken, die mit Claudia Hampton eine vielschichtige und widersprüchliche Figur mit einer faszinierenden Lebensgeschichte in den Mittelpunkt rückt.

Hier glimmt nichts, das ist ein literarisches Leuchten!


  • Penelope Lively – Nachtglimmen
  • Mit einem Vorwort von Eli Shafak
  • Aus dem britischen Englisch von Ulrike Miller
  • ISBN 978 3 03820 153 3 (Dörlemann)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Kurt Prödel – Klapper

Tschick hat einen großen Bruder bekommen. Sein Name: Klapper. Zwischen Antriebslosigkeit, Counter Strike, pubertärer Verzweiflung und Schwaden von Axe Africa schleppt sich Kurt Prödels Held durchs Leben und findet in einer neuen Mitschülerin namens Bär das erste Mal so etwas wie eine Verbündete.


Die verwirrende Adoleszenz ist ein Thema, das nicht erst seit Heinz Strunks Romanen immer wieder Stoff für junge Autor*innen liefert. Kurt Prödel ist der jüngste Autor, der sich nun mit seinem Debüt auf diesem Feld umtut. Dabei erzählt er von Thomas alias Klapper, der mit seinen Eltern in einer Idealwelt bürgerlicher Spießigkeit wohnt, irgendwo in einer Stadt in Nordrhein-Westfalen.

Klapper, Kollegah und Krümeleistee

Er selbst passt aber nicht unbedingt in diese Welt. Denn zum Unverständnis insbesondere seines Vaters zieht es Klapper auch im Sommer vor, seine Tage im abgedunkelten Zimmer zu verbringen, wo er an den Spielplänen für das Computerspiel Counterstrike werkelt und die Außenwelt eher als Bedrohung denn lebenswertes Umfeld begreift. Auch die Schule bietet ihm wenig Hoffnung, denn mit seinem fahlen Äußeren, dem langen Haar und den Klappergeräuschen, die seit der Pubertät dem aufgeschossenen Körper entweichen und seinen Spitznamen geprägt haben ist er der typische Außenseiter und geradezu der Prototyp für den Begriff des Nerds.

Nach dem Essen studierte sich Klapper im IKEA-Wellenspiegel und stellte enttäuscht fest, dass die Ferien ihm nicht zu einem pubertären Glow-up verholfen hatten. Im Gegenteil. Sechs Wochen Computer, Energydrinks und Isolation machten was mit einem. Er berührte seine bleiche Gesichtshaut und runzelte die Stirn. Dann griff er in sein Haar und hatte auf einmal eine halbe Strähne in der Hand. Was war das nur für ein Gerippe eines defekten Teenager-Körpers, das bei bestimmten Bewegungen knackte. Das war nicht nur äußerst unangenehm, sondern gab Thomas auch seinen Spitznamen.

Kurt Prödel – Klapper, S. 19

Klapper und Bär

Kurt Prödel - Klapper (Cover)

Das ändert sich erst, als nach den Sommerferien Vivi-Marie neu in Klappers Klasse kommt, die ab dem ersten Tag eine große Faszination auf ihn ausübt. Nicht nur, dass sie anstelle ihres eigentlichen Namens mit „Bär“ angesprochen werden möchte, aber fällt sie aufgrund ihrer Größe und Stoizismus ebenso aus der sozialen Klassennorm wie Klapper.

Mit einer schnell getakteten Umgangssprache erschafft Kurt Prödel einen glaubwürdigen Sound für seinen Held, der auch Jahre später nicht recht vom Fleck gekommen ist und schon gar nicht seine sozialen Skills verbessert hat. Zusammengesetzt aus einigen Momenten im Sommer 2025 und den großen erzählerischen Rückblenden, die den Hauptteil dieses Romans ausmachen, entsteht ein genaues Bild der Pubertät, in der zwar schon bald der Abschied von der Schulzeit in greifbare Nähe rückt, trotzdem aber noch der in Kung Fu-Pose erstarrte Oliver Kahns über dem Bett hängt und man Zitronenkrümeleistee für ein akzeptables Getränk hält.

Dass das Ganze nicht in eine pubertäre Peinlichkeitsrevue á la Heinz Strunk abkippt, verdankt sich Kurt Prödels Talent, auch emotionale Tiefe und Gespür für die Zerrissenheit von Menschen zuzulassen. Der vordergründige perfekte Haushalt von Klappers Eltern, der nur psychische Probleme verdeckt, der Abschied, den der von Prödel umrahmte Lebensabschnitt für Klapper bedeutet und die tiefe Wunde, die ein Ereignis hinterlässt, an dem der junge Mann noch Jahre später laborieren wird, das alles bringt Tiefe in Klapper und macht es zu mehr als einem schnell konsumierbaren Schmunzelbuch über die Pubertät, wie es schon genug gibt.

Tolles Debüt, klappert nur marginal

Natürlich würde den Figuren ein wenig mehr Tiefe und Ausgestaltung gut tun, was nicht nur für das Ensemble, sondern sogar für Bär und Klapper selbst gilt. Auch ist der erzählerische Strang der Gegenwart im Roman etwas arg knapp geraten, sodass es an der ein oder anderen Stelle vielleicht doch etwas klappert im literarischen Gerüst. Solchen Kinderkrankheiten eines Debüts steht einem sprachlich originellen wie emotional interessantem Roman aber eher marginal gegenüber. Das fand auch das Publikum der LitCologne, die im März Kurt Prödel den Nachwuchspreis der LitCologne zusprach.


  • Kurt Prödel – Klapper
  • ISBN 978-3-98816-024-9 (park x ullstein)
  • 251 Seiten. Preis: 22,00 €
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Steffen Schroeder – Der ewige Tanz

In seinem neuen Roman Der ewige Tanz entdeckt Steffen Schroeder die Zeit vor hundert Jahren als die eigentlich moderne. Er erzählt vom Leben der Tänzerin Anita Berber und zeigt, dass ihr Leben deutlich mehr bedeutete, als nur die skandalumwitterte „Nackttänzerin“ zu sein. Dabei zeigt Schroeder einmal mehr große Einfühlungs- und Beschreibungskunst.


Ist das wirklich die Zeit vor ziemlich genau hundert Jahren oder doch eigentlich unsere Gegenwart, die Steffen Schroeder hier beschreibt? Theorien und Forschungen zum Dritten Geschlecht werden entwickelt, in Berliner Clubs trifft sich die äußerst lebendige queere Szene, die Kirche hingegen kämpft mit Nachwuchsproblemen und der spätere Ehemann von Anita Berber weiß, wie zukunftsweisende Mobilität aussieht:

„So betrunken, wie du bist, wirst du deinen Wagen, wenn du überhaupt einen hast, wohl kaum angekurbelt bekommen.“

„Ich muss nicht kurbeln! Ich fahre einen Lloyd, ein Elektromobil, um genau zu sein. Da muss man zum Anlassen nur den Knopf drücken. Das lästige Schalten entfällt ebenfalls, man braucht kein explosives Benzin, alles läuft ohne Gestank oder Abgaswolken. Selbst betrunken fährt man mit Leichtigkeit und lautlos durch die Welt. Demnächst wird sich das Elektromobil durchsetzen, alles andere wäre absurd.“

Steffen Schroeder – Der letzte Tanz, S. 83

Nun gut, auch ein Säkulum später scheint der vollständige Siegeszug der Elektromobilität hierzulande noch absurd – aber in den immer wieder aufscheinenden Parallelen zwischen der Vergangenheit und Heute macht Steffen Schroeder bewusst, was für eine im wahrsten Wortsinn moderne und zukunftsweisende Zeit es war, damals in Berlin.

Erinnerungen im Bethanien-Krankenhaus

Steffen Schroeder - Der ewige Tanz (Cover)

Für Anita Berber ist zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht mehr viel mit Zukunft. Denn sie liegt sterbenskrank in einem Bett im Bethanien, dem von Diakonissinnen betriebenen Krankenhaus. Dort laboriert sie an einer Tuberkulose und erhält ab und an Besuch aus ihrer Vergangenheit. Vor allem taucht sie dort aber ein in die Erinnerungen an ein Leben, welches die ganze Fülle des irdischen Daseins ausschöpfte.

Steffen Schroeder zeigt Anita Berber als einen Prototyp des gefallenen Stars, der den Weg zum Gipfel des Ruhms und den anschließenden Abstieg in die Bedeutungslosigkeit noch vor allen Hollywood-Starlets unserer Tage vollzog. Dabei greift er weit aus, geht zurück bis in die Kindheit der 1899 in Leipzig geborenen Frau. Die kindliche Verbundenheit mit ihrer Großmutter, die weltanschauliche Offenheit des vaterlosen Haushalts, die Karriere der Mutter als Variétésängerin in Berlin und die Distanz zu ihr, all das wirkt auf die junge Anita ein und prägt sie.

Von Berlin nach Wien auf den Gipfel des Ruhms – und wieder hinunter

Später wird sie in mittelmäßigen Filmen mit bezeichnenden Titeln wie Yoshiwara, die Liebesstadt der Japaner, Die vom Zirkus oder Ja, wenn der Strauß an Walzer spielt! mitspielen und eigene Tanzchoreografien entwickeln. Als syrische Göttin Astarte zeigt sie Ausdruckstänze und performt zur Musik von Debussy und Co. Besonders die fast hüllenlose Darstellung ist neu und befeuert die Aufmerksamkeit für ihr Schaffen auf den Bühnen Berlins.

Die Freundschaft zum flamboyanten Tänzer und Dichter Willi Knoblich alias Sebastian Droste führt sie dann zu ganz neuen Lebensstationen. Nicht nur, dass der junge Mann aus gutem Hause zum neuen Tanzpartner von Anita wird. Engagements führen sie nach Wien, auf den Höhepunkt ihrer künstlerischen Karriere. Sebastian bringt sie aber auch mit dem „Koko“ und Morphium in Kontakt, woraufhin sich eine fatale dolie a deux zwischen den beiden entwickelt, die sie vom Gipfel des Ruhms wieder hinabführen wird, wenn die Säle wieder kleiner und die Engagements spärlicher werden.

„Wir werden das Leben tanzen, so, wie wir es empfinden. Selbstverständlich auch mit seinen Schattenseiten; wir werden das Verderben tanzen und den Tod.“

Heller musterte sie ohne jegliche Gemütsregung.

„Und die Krankheit“, fügte sie rasch hinzu. „Die werden wir auch tanzen.“

Er nickte kaum spürbar.

„Wir werden auch die Überwindung der Krankheit tanzen“, setzte sie nach. „Wir werden das Übersinnliche tanzen und die Spiritualität , aber auch das Versinken im Rausch. Wir werden den ganzen Irrsinn dieser aus den Fugen geratenen Welt tanzen.“

Dabei riss sie ihre stark geschminkten Augen auf, und Heller zuckte zusammen.

„Wir werden tanzen, wie in Wien noch nie getanzt wurde“, flüsterte sie.

Steffen Schroeder – Der ewige Tanz, S. 154

Anita Berbers Leben im Rausch

Ein Hochstaplerleben im Rausch, Wohnen in den besten Hotels der Stadt, der verglühende Ruhm, Liebe im Rausch, Eifersucht und vielfacher Schmerz, oder kurzum: ein Duo infernale, das sich gegenseitig in den Abgrund zieht: all das zeigt Steffen Schroeder in seinem Werk und stellt nach seinem Roman über die Physiker um Max Planck zur Zeit des Nationalsozialismus einmal mehr seine Fähigkeit zur Einfühlung in seine Figuren unter Beweis. Welche Umstände Anita Berbers Charakter formten, wie steil der Weg auf den Gipfel des Ruhms hinauf – und noch steiler fast den Weg hinab war, es lässt sich aus Der ewige Tanz erfahren und fast fühlen.

Anita Berbers Suche nach Anerkennung, die Hingezogenheit zu Männern und Frauen in der Offenheit Berlins oder dem starren Wiener Gesellschaftsleben, das alles zeichnet Schroeder nachvollziehbar und sehr plastisch nach.

Nicht zuletzt zeigt er auch den Tanz als Mittel der Befreiung und der Verarbeitung von Schmerz und erfahrenem Leid, womit der Roman zu einem vielschichtigen Porträt einer ebenso vielschichtigen Frau wird, die eben so viel mehr als nur die „Nackttänzerin“ war, wie sie der Boulevard taufte.

Wenn sie tanzte, schien ihr alles möglich. Dann schien die Musik Besitz von ihr zu ergreifen, und ihr Körper begann, sich von ganz alleine zu bewegen. Dann war sie nur dem Klang hingegeben und dem, was der Klang mit ihr machte. Dann schwanden die Grenzen zwischen ihrem Innenleben und der Außenwelt, sie wurden eins.

Steffen Schroeder – Der ewige Tanz, S. 130

Fazit

Voll mit Figuren der Kulturgeschichte wie Lovis Corinth, Otto Dix und Fritz Lang ist Der ewige Tanz das einfühlsame Porträt einer komplexen Künstlerpersönlichkeit. Steffen Schroeder lässt die Atmosphäre Berlins und Wiens in der Zwischenkriegszeit seinem Roman wieder aufleben und zeigt, dass Anita Berber viel mehr war als eine skandalumwitterte Künstlerin.

Ein toll komponierter, sprachlich überzeugender und in puncto Figurenzeichnung sowie überzeugender Roman ist es, der hier Steffen Schroeder einmal mehr gelungen ist!


  • Steffen Schroeder – Der letzte Tanz
  • ISBN 978-3-7371-0204-9 (Rowohlt)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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