Schnell ging dieses Jahr zu Ende – und auch wenn die weltpolitische Lage von zerbrochener Regierung hierzulande über die Wiederwahl Donald Trumps in den USA bis hin zum gescheiterten Klimagipfel in Baku nur wenig Hoffnungsstiftendes hervorzubringen wusste, so ist doch wenigstens literarisch gesehen dieses Jahr wieder ein höchst vielfältiges und bereicherndes gewesen.
Reinen Eskapismus sollte man dabei allerdings nicht betreiben, denn auch der Buchbranche geht es nicht gut. Schlagzeilen über renommierte Häuser wie den Suhrkamp-Verlag, der einen neuen Eigner bekam, um wieder in sichereres ökonomisches Fahrwasser zu gelangen, weiter schrumpfender mediale Berichterstattung über die Kultur und das Aus von etablierten Fernsehsendungen wie Lesenswert (und damit auch verbunden das Versanden von Debatten über Literatur) dazu noch schrumpfende Kulturetats und damit auch weniger Geld für die wichtige Arbeit von Bibliotheken und Co. – all das lässt nicht unbedingt zuversichtlich in die Zukunft blicken.
Dennoch will ich mich auch 2025 weiterhin bemühen, so gut ich das neben meiner eigentlichen Arbeit schaffe, hier auf dem Blog der Literatur ein Schaufenster zu geben, auch wenn ich an den Abrufzahlen merke, dass hier ebenfalls das Interesse an der vorgestellten Literatur merklich schrumpft.
Dass sich meine Versuche dennoch eines gewissen Interesses in Form von knapp eintausend Abonnentinnen und Abonnenten erfreuen, motiviert mich weiterhin, dieses Projekt hier nicht einzustellen.
Nach diesen Präliminarien aber nun Vorhang auf für das, um das es anstelle von mir wirklich gehen soll, nämlich die Literatur in Form von diesjährig erschienenen Titel, die für mich ganz besonders herausgeragt haben. Der Klick auf die Cover führt zu den ausführlichen Besprechungen.
Paul Murray – Der Stich der Biene
Will man noch einmal eine voluminöse Familiengeschichte lesen, die das Tolstoi’sche Diktum der Familien, die alle auf ihre eigene Art traurig sind, bestätigt? Unbedingt, wenn der Autor dieser Geschichte Paul Murray heißt. Denn er erzählt in Der Stich der Biene literarisch markant von den vier Mitgliedern der Familie Barnes, die im Laufe des Romans höchst lesenswert auseinanderdriften bis hin zur Frage, ob das wirklich noch eine Familie ist, die hier im Mittelpunkt steht.
Nathan Hill – Wellness
Von der ganzen Familie reduziert Nathan Hill in seinem zweiten Streich namens Wellness in seiner erzählerischen Grundkonstellation auf eine Paarbeziehung herunter. Der unterschiedliche Blick auf die Ehe und die Frage, wie eine gelungene Ehe im 21. Jahrhundert aussehen kann, dieser Frage geht der US-amerikanische Schriftsteller in seinem Roman nach, der neben dem genauen Blick auf die Figuren auch durch die stilistische Fülle an Erzählansätzen überzeugt.
Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu
Ilse Schneyder-Lengyel, Ruth Rehmann, Christine Koschel oder Elisabeth Plessen – nie gehört? Kein Wunder, wie Nicole Seifert in ihrem Sachbuch Einige Herren sagten etwas dazu zeigt. Denn obwohl sie alle auf den Tagungen der Gruppe 47 lasen, kennt heute kaum jemand ihre Namen. Warum das so ist, das führt die Literaturwissenschaftlerin Seifert in ihrem Buch sehr lesens- und bedenkenswert aus und zeigt, was uns durch die Marginalisierung dieser Autorinnen alles entgangen ist.
Lucy Fricke – Das Fest
Angesichts der Polykrisen unserer Zeit kann man schon einmal die Hoffnung verlieren. Wie schön, dass es da noch Lucy Fricke gibt. Mit ihrem unnachahmlichen Talent für Menschenzeichnungen macht sie einen Regisseur zu dessen 50. Geburtstag selbst zur Figur in einem von einer Freundin wohlorchestrierten Spiel. Diese bereitete ihm einen Fest-Tag, der eindrücklich unter Beweis stellt, dass es nie zu spät ist, sein Leben zum Guten zu ändern.
Ann Napolitano – Hallo, du Schöne
Ein modernes Update des Klassikers von Little Women von Louisa May Alcott liefert die Autorin Ann Napolitano in ihrem Buch Hallo du Schöne. Sie erzählt darin von und den vielfältigen Herausforderungen, die das Leben für die vier Töchter einer Chicagoer Familie im 21. Jahrhundert bereithält. Was hält eine Familie im Inneren zusammen? Wie tief kann Verbundenheit reichen und wann stößt sie an Grenzen? Das erkundet Ann Napolitano mit ihren Little Women aus Chicago gelungen.
Uwe Wittstock – Marseille 1940
Was Flucht eigentlich bedeutet und welchen Einsatz es Fluchthelfer und Flüchtende abverlangte, ihre Leben zu retten, das zeigt Uwe Wittstock in seinem erzählenden Sachbuch Marseille 1940 eindrücklich. Mit Sinn für Komposition und Rasanz schildert er die Schicksale von Franz Werfel, Anna Seghers, Klaus Mann und vielen anderen, deren Fluchtrouten größten teils in Marseille kulminierten – und an deren Rettung ein Mann entscheidend beteiligt war: Varian Fry
Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner
Der Wolf kommt – oder sind es eigentlich nicht fremde Menschen, die die dort in der Lüneburger Heide auf Ablehnung stoßen? Markus Thielemann hat einen eminent politischen Roman geschrieben, der die bäuerliche Lebenswelt auf dem Land ebenso beleuchtet wie völkisches Siedlungsdenken. Für mich persönlich mein Favorit auf den Gewinn des Deutschen Buchpreises 2024, der dann aber an Martina Hefter ging. Auch in Ordnung, aber dieser literarische Donner, er grummelt immer noch nach.
Samantha Harvey – Umlaufbahnen
Eine schwerelos schwebende Erzählstimme, die die Astronaut*innen an Bord einer Raumstation begleitet und der es gelingt, fast immersiv das Leben in der Schwerelosigkeit und die doch unentrinnbare Erdanziehungskraft dort oben zu beschreiben. Dieses Kunststück vollführt Samantha Harvey in Umlaufbahnen, die es damit nicht nur zum Gewinn des Booker Prizes, sondern auch zu einem Platz hier in der Liste geschafft hat.
Andrew O’Hagan – Caledonian Road
Mein Favorit des Jahres, der alles das mitbringt, was ich zu schätzen weiß: ein großer Schmöker, vielschichtiges Romanpersonal von Lords bis zu Möchtegern-Gangstern, dazu der über ein Jahr beschriebene Niedergang eines Public Intellectual, der auch als Niedergang des Britischen Weltreichs gelesen werden kann. Das alles bietet Andrew O’Hagan in seinem famosen Roman Caledonian Road, der mich diesen Sommer wunderbar unterhalten hat und mit dem der britische Autor auf den Spuren großer englischer Gesellschaftsromane wandelt.
Golo Maurer – Rom – Stadt fürs Leben
Rom, die Sehnsuchtsstadt, aber auch als Grund für Verzweiflung und das Mittel der Ironie als letzter Rettungsweg: Ihn beschreitet Golo Maurer in seinem ebenso komischen wie liebevollen Blick auf die ewige Stadt. Müll, nicht erscheinende Busse und dann auch noch Klobrillen, die sich allen Fixierungsversuchen verwehren. Das sind Themen, die den Kunsthistoriker und Bibliothekar umtreiben – und mich grandios unterhielten und dem Abgleich mit der römischen Realität im Sommerurlaub standhielten.
Daniel Mason – Oben in den Wäldern
Ein Grundstück in Massachusetts ist es, das im erzählerischen Mittelpunkt von Daniel Masons drittem und bislang besten Roman steht. Literarisch klug miteinander verzahnt kombiniert Mason Geschichten von der Zeit der Siedler bis in unsere Gegenwart hinein – und verpackt diese Geschichten in ganz unterschiedliche Stile, die von Übersetzer Cornelius Hartz gekonnt ins Deutsche übertragen werden. So entsteht Oben in den Wäldern ein literarischer Garten, der reiche Frucht bringt.
Maike Albath – Bitteres Blau
Italien als Gastland der Buchmesse präsentierte sich bemerkenswert rückwärtsgewandt und verbannte die Bücher in eine kleine Kammer am Rande der großen Piazza. Wie staunenswert und präsentabel die Fülle an Stimmen und Themen eigentlich ist, das zeigt Maike Albath, indem sie in Bitteres Blau die neapolitanische Literaturszene in den Blick nimmt und durch diesen kleinen Ausschnitt auf das Große Ganze von der Mafia bis Elena Ferrante blickt.
Tana French – Feuerjagd
Mit soziologisch scharfem Blick erzählt Tana French von dem, was ein kleines Dorf im irischen Hinterland zusammenhält. Doch lässt ein möglicher Goldrausch das komplizierte Gefüge aus Lügen, gegenseitiger Kontrolle und Misstrauen implodieren? Dem geht Tana French in ihrem Roman Feuerjagd nach und gönnt ihrer jugendlichen Heldin Trey und dem pensioneten Polizisten Cal einen zweiten Auftritt, diesmal im glutheißen Sommer, bei dem nicht nur die Sonne vom Himmel brennt.
Percival Everett – James
Welche Chancen in Neuinterpretationen bekannter Kunstwerke liegen, das stellt Percival Everett in James eindrücklich unter Beweis. James erzählt Mark Twains Klassiker Huckleberry Finn noch einmal – allerdings mit einem entscheidenden Kniff. Diesmal steht der Sklave Jim im Mittelpunkt, der von Percival Everett nicht nur seinen richtigen Namen James zurückerhält, sondern vor allem auch eine eigene Stimme. Mit dieser erzählt er uns eine Geschichte, die im Gedächtnis bleibt.
Leo Vardiashvili – Vor einem großen Walde
Leo Vardiashvilis Roman Vor einem großen Walde ist eine hervorragende Einführung in ein Land, das in diesem Jahr die Schlagzeilen dominierte: Georgien. Dessen wechselvolle Geschichte und Zerrissenheit scheint in Vardiashvilis Roman auf, der zugleich von einer Schnitzeljagd auf den Spuren von Hänsel und Gretel erzählt. Nur gibt es hier nicht unbedingt eine Hexe, aber familiäre Geheimnisse, die entdeckt werden wollen.
Scott Preston – Über dem Tal
Ein Jahr, das mit Bauernprotesten begann, endet für mich auch mit einem enorm starken Text aus dem Agrarmilieu, genauer gesagt der Schafzucht. Das Leben von Schafzüchtern am Rande der Legalität ergründet Scott Preston in seinem Debüt Über dem Tal, das mit einer beeindruckenden Sprachmacht aufwartet (übersetzt von Bernhard Robben). Sein Cumbria ist in düstere Farben gepinselt, was das Buch umso eindringlicher macht. Eine echte Überraschung aus dem Nichts, die das Jahr literarisch wirklich enorm stark abgeschlossen hat!