Franz Braumann – Rastlos solidarisch

Raiffeisen – wenn man diesen Namen heute hört, denkt man zuvorderst wahrscheinlich an die gleichnamigen Finanzinstitute. Welch reichhaltiges Wirken das Leben ihres Gründers bereithielt, das lässt sich nun wieder aus der Romanbiografie des 2003 verstorbenen Autors Franz Braumann erfahren, die unter dem Titel Rastlos solidarisch – Roman über Friedrich Wilhelm Raiffeisen neu aufgelegt wurde.


Eigentlich war alles dazu angetan, diesen Roman gar nicht erst zur Hand zu nehmen. Im normalen Tagesgeschäft neben der Arbeit bleibt für die zu rezensierenden Bücher meist eh schon zu wenig Zeit, als dass ich mich auch noch zusätzlich unverlangt eingesandte Titeln widmen könnte. Dazu noch ein mir völlig unbekannter Verlag und obendrein auch noch das Nachwort einer Landesministerin. Eigentlich sprach nicht viel dafür, diesem aus der Post gefischten Buch meine Aufmerksamkeit zu schenken. Und doch begann ich in Franz Braumanns Buch zu blättern, nicht zuletzt auch aufgrund der Aufmachung durch die Buchgestalterin Cosima Schneider, die sonst bei der Büchergilde wirkt.

Raiffeisen in Weyerbusch

Franz Braumann - Rastlos solidarisch (Cover)

Schon nach wenigen Seiten fand ich mich inmitten der Geschichte, die 1845 mit dem Amtsantritt eines jungen Mannes beginnt, der in einer kleinen Gemeinde namens Weyerbusch im Rheinland-Pfälzischen zum Bürgermeister bestellt wird. Der junge Kreissekretär, der so die verschneite Szenerie betritt, trägt den Namen Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Es handelt sich bei ihm tatsächlich um den Ideengeber jener Banken, die heute noch seinen Namen im Titel tragen.

Doch bis diese ins Spiel kommen, vergeht noch viel Zeit. Chronologisch zeichnet der österreichische Autor Franz Braumann (1910-2003) in seiner Romanbiografie das Wirken Raiffeisens nach, der schon in jungen Jahren durch Tatkraft und den Willen zur Veränderung auffällt. Im Zuge einer großen Hungersnot mindert er die Abhängigkeit der Armen von den Brotpreisen, indem er in seiner Brotverein ins Leben ruft, der selbst das Mehl zu Brot verarbeitet und so den Wucher der Bäckereien umgeht. Dieser (bis heute existente) Verein ist nur einer der vielen Zusammenschlüsse, die Raiffeisen zeit seines Lebens gründen wird. Egal ob der gemeinschaftliche Bau eines Schulhauses oder die Gründung eines Wohltätigkeitsvereins: viele Ideen Raiffeisens waren sprichwörtlich aus der Not geboren und entfalteten eine große Wirkung im Kleinen.

Sozialreformer, Wirtschaftsdenker, Visionär

Über mehrere Amtswechsel hinaus wird das Engagement und der hohe persönliche Einsatz des von puritanischen Erziehungsidealen geprägten Mannes sein Wirken entfalten. Stück für Stück verbreiten sich die Theorien und Ideen des Wirtschafts- und Sozialreformers und münden schließlich in der Schaffung von Zentralkassen, die ebenfalls dabei helfen sollen, die Not zu lindern und der Bevölkerung Planungssicherheit zu geben, wovon Braumann Raiffeisen selbst etwas technokratisch berichten lässt:

„Jetzt haben Sie ihr Werk von den Wurzeln bis zum Gipfel abgeschlossen“, sagte Rudolf Weidenhammer, ein langjähriger Freund und Mitarbeiter in Hessen. „Keineswegs“, wehrte Raiffeisen ab. „Alle diese Zentralkassen, wenn sie einmal in jedem deutschen Land bestehen, sollten in einer landwirtschaftlichen Generalbank vereinigt werden“. „Wäre das nicht zu viel Zentralisierung an einem Ort?“ „Die Zentralkassen müssen eben gleichberechtigte Mitglieder sein. Der zweifache Überbau würde alle Darlehnskassen-Vereine Deutschlands zusammenhalten. Es gibt noch viele Notgebiete. Wenn wir unsere gesammelte Kraft auch dort einsetzen, werden diese letzten Schandflecke sozialer Rückständigkeit und Ausbeutung mit den Jahren verschwinden.“

Franz Braumann – Rastlos solidarisch, S. 231

Zweifellos, manche Dialoge klingen eher nach Volkswirtschaftslehre als wirklich lebendigen Gesprächen. Auch hätte dem Biografen an manchen Stellen etwas kritische Distanz zu seinem Erzählobjekt gutgetan. Dennoch aber entfaltet Rastlos solidarisch einen erzählerische Kraft, indem man dem rastlosen Reformer durch ganz Rheinland-Pfalz folgt und der Verbreitung seiner Lehren und den immer neuen Lösungsansätzen gegen die drängenden Probleme seiner Zeit beiwohnt.

Solidarität und Genossenschaft als Mittel gegen Wucher

Egal ob Wucherer, die Pachtbauern in die Armut treiben, oder Großhändler, die ihre exklusiven Monopole zum finanziellen Gewinn ausnutzen – Raiffeisens Wirken und Ideen zeigen eine andere Welt auf, wie es auch gehen könnte mit einer abgesicherten und zufriedenen Gesellschaft, anstatt immer weiter auf den eigenen Vorteil und das ständige Wachstum zu schielen. Das macht das Buch auch in unserer Zeit noch lesenswert und zeigt die Aktualität seines Tuns und Denkens, während anderswo die Axt an den Sozialstaat gelegt werden soll.

Solidarität und genossenschaftliches Wirken gegen den Wucher und die Abhängigkeit von anderen Finanzpartnern und ein auf Gemeinwohl statt auf Gewinne ausgelegtes Handeln, sie sind Mittel zum Zweck, wie das Wirken Friedrich Wilhelm Raiffeisens zeigt – und wie es Franz Braumann auf unterhaltsame und zugleich erhellende Art und Weise beschreibt.

Irgendwo zwischen Ulrike Herrmanns Das Ende des Kapitalismus, Henning Sußebachs Anna oder: was vom Leben bleibt und Ralf Westhoffs Niemals nichts sortiert sich diese Romanbiografie eines Mannes ein, der uns heute in Zeiten des entfesselten Kapitalismus und Gewinnstrebens vielleicht noch mehr zu sagen hat, als es Zeit seines Lebens der Fall war.

Ursprünglich 1959 unter dem Titel Ein Mann bezwingt die Not erschienen, wurde das Buch nun unter seinem nun etwas weniger pathetischen Titel neu aufgelegt und im Inneren wie Äußeren schön gestaltet. Auch fast siebzig Jahre nach dem Erscheinen verdient Rastlos solidarisch einer Lektüre, wenn nicht sogar – wie schon erwähnt – dieser Tage mehr denn je.


  • Franz Braumann – Rastlos solidarisch
  • ISBN 978-3-87151-346-6
  • 255 Seiten. Preis: 20,00 €

Die Literaturkritik und der Nachwuchs

Wo ist er, der Nachwuchs in Sachen Literaturkritik? In etablierten Formaten und Medien findet er zumindest kaum statt, was zu einem echten Problem werden kann. Denn die Ignoranz von literaturkritischem Nachwuchs gräbt dem zusehends versickernden Gespräch in der literarischen Öffentlichkeit zusätzlich das Wasser ab. Dabei ginge es auch anders…


Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse fand auf der Bühne von ARD, ZDF und 3sat eine Diskussion zum 50. Geburtstag der SWR-Bestenliste statt. In dieser Liste stimmen Monat für Monat 30 Literaturkritiker und Literaturkritikerinnen über Neuerscheinungen ab und erstellen so zehn Plätze umfassende Empfehlungsliste als literarische Alternative zur rein auf Verkaufserfolg blickenden Spiegel-Beststellerliste.
Das Fortdauern dieser literarkritischen Institution dauert nun schon ein halbes Jahrhundert an. In Frankfurt wurde das im Gespräch mit den drei KritikerInnen und Jurymitgliedern Iris Radisch, Helmut Böttiger und Cornelia Geißler dementsprechend gefeiert. Als Rückblick alleine auf Vergangenes sollte das Gespräch aber nicht funktionieren, vielmehr stand die Veranstaltung unter der Fragestellung Wie sieht die Zukunft der Literaturkritik aus?

Ja, wie sieht sie aus? Darüber herrschte auf der Bühne Uneinigkeit. Haben junge Menschen angesichts prekärer Bezahlungen und unsicherer Zukunftsaussichten überhaupt noch Lust auf eine Karriere in den Medien? Sind TikTok und Co nicht vielmehr die Plätze, an denen das Gespräch über Bücher lebt und die Buchkultur Blüten treibt? Braucht es die Literaturkritik überhaupt noch, wenn doch die Lust auf Kritik und ästhetische Auseinandersetzung mit Büchern und Thesen sinkt, sich das literarische Gespräch in der Öffentlichkeit in Hausbesuchen und Spaziergängen mit AutorInnen erschöpft, um allzu kritische Worte zu vermeiden?

Fragen in Frankfurt

Die Runde griff viele Fragen auf und war doch auch in ihrer Zusammensetzung bemerkenswert. Denn obschon man sich viele Gedanken über die Zukunft der Literaturkritik machte, so war sie zumindest personell auf der Bühne nicht vertreten. Unter den arrivierten KritikerInnen (Jahrgänge 1956 bis 1965) stach Moderator Carsten Otte (Jahrgang 1972) als Jungspund in der Runde heraus. Dementsprechend schwer tat sich auch mancher mit den Begrifflichkeiten der neuen Medien und ihrer vielfältigen Ausprägungen. Jemanden, der aus dem eigenen Tun heraus eine Perspektive auf den Themenkomplex beisteuern hätte können, er fehlte.

Diskussion zur Rolle der Literaturkritik und des Nachwuchses, Jury der SWR-Bestenliste
Bildquelle: Screenshot SWR/SWR Bestenliste

Nun soll an dieser Stelle keineswegs ein plumpes Altersbashing betrieben werden. Die Gedanken der Runde waren ja durchaus bedenkenswert und auch in Bezug auf neue Medien in Teilen bemerkenswert kundig. Doch die Tatsache, coram publico über den Generationenwechsel in der Literaturkritik zu sinnieren, ohne die nächste Generation überhaupt ins Gespräch einzubinden, es ist zumindest ein bemerkenswerter Umstand.

Mit diesem Widerspruch einer Klage über den Niedergang der Literaturkritik und eine gleichzeitige Nicht-Einbindung nachwachsender Kräfte ist die Veranstaltung aber nicht alleine. Auch bei der SWR-Bestenliste selbst lässt sich dieser Abriss zwischen den Generationen gut beobachten. LiteraturkritikerInnen unter 50 Jahren sind im Gremium Mangelware.

Natürlich ließe sich argumentieren, dass eine solche Jury nur arrivierte Kritikerinnen und Kritiker in ihren Reihen einlädt, die über ein über die Jahre herausgebildetes literaturkritisches Wissen und Sensorium verfügen. Wenn man die jungen (jung hier im Sinne von U40, wenn nicht gar U50) Stimmen, allerdings gar nicht einbindet und ihnen die Möglichkeit nimmt, sich in solchen Runden zu ebenso arrivierten KritikerInnen heranzureifen und ihnen die Chance zum literaturkritischen Wachsen und Ausbilden ihrer Urteilskraft verwehrt, gräbt man sich und seiner Zunft letzten Endes selbst das Wasser ab.

Eine Balance zwischen Nachwuchsförderung und dem Erfahrungsschatz arrivierter Kräfte wäre wichtig

Hier wie überall sonst wäre die Balance zwischen Nachwuchsförderung und dem geteilten Erfahrungsschatz etablierter Mitglieder im Sinne einer Zukunftsfähigkeit wichtig, um nicht den Anschluss zu verpassen und fürderhin die eigene Relevanz zu wahren. Auch entginge man so der Gefahr einer Überalterung einer Jury, die bei einem solchen Strömungsabriss der Generationen irgendwann droht.

Auch andere Gremien tun sich schwer damit, Nachwuchskräfte einzubinden. Das reicht von Jurys wie der des Büchner-Preises oder der Jury des Deutschen Buchpreises bis hin zu literaturkritischen Formaten wie dem Literarischen Quartett. Sie alle fremdeln damit, junge Stimmen zu fördern und in ihr Tun einzubinden.

Letztgenanntes Format öffnet sich zwar immer wieder in Form von U21- und Zuschauerspezials, die im Rahmen der Leipziger und Frankfurter Buchmesse auf der Bühne mit Gastgeberin Thea Dorn stattfinden, in die Mediathek schaffen es die Ausgaben nur selten. Und noch seltener schafft es ein junger Gast von diesen Ausnahmeveranstaltungen in die reguläre Sendung. Einzig in der Ausgabe vom September 2023 lud man eine Teenagerin aus der U21-Ausgabe ins die „echte“ Fernsehaufzeichnung ein. Bis heute ein Ausnahmefall.

Mit den Jurys von Literaturpreisen ist es nicht anders. So sind aktuell BookTok und dessen junge KonsumentInnen zwar der einzige Anker, die den schrumpfenden Buchmarkt noch halbwegs stabilisieren. In Jurys und den wenigen noch existenten Literaturformaten in Funk und Fernsehen werden sie aber nicht einbezogen. Blogger und Instagrammer sollen Buchpreise eher werbend flankieren und ihnen über ihre Kanäle Aufmerksamkeit verschaffen, denn sie wirklich in die Entscheidungsfindung einzubinden (und wenn das beim Deutschen Buchpreis tatsächlich passiert, dann stellen die Porträts fast immer erst die Profession als BuchhändlerInnen nach vorne, um dann noch kurz ihre Social Media-Präsenz zu erwähnen).

Anschlussfähigkeit an nachkommende Generationen wahren

Viele ambitionierte Nachwuchskritiker*innen hat dieser zweifelhafte Umgang und die Abwertung durch das etablierte Feuilleton und andere Schaltstellen des Literaturbetriebs schon vergrault. Dabei sollte man angesichts der schrumpfenden Plätze für Literaturkritik solche Bemühungen doch ernster nehmen, junge Stimmen einbinden, ihnen die Chance zu Entwicklung zu geben und damit auch die Literaturkritik breiter in der Masse zu verankern.

Natürlich muss man auch Differenzierungskraft an den Tag legen. Nicht jedes BookTok-Buch ist ein literarisches Gespräch wert, nicht jeder BookToker, der ein Buch vor die Kameralinse hält, gleich ein neuer Marcel Reich-Ranicki. Aber es gibt sie eben doch, literarisch versierte, rhetorisch kundige und in ihrem Urteil konsistente Stimmen, die sich nun vermehrt auch BookTok, aber immer noch auch auf Instagram mit seinem Bookstagram, in Podcasts oder gar dem schon wieder recht verwaisten Feld der Literaturblogs tummeln.

Junge LiteraturkritikerInnen, die sich in ihrer Arbeit mit vernachlässigten Phänomenen wie etwa der Literatur aus Osteuropa beschäftigen oder die neue Formen für ein literarisches Gespräch ausprobieren und in der Vermittlung andere Wege gehen; man sollte sie nicht belächeln oder lediglich als unerwünschte Konkurrenz für das eigene Tun zu begreifen. Im Gegenteil: es kann nur guttun, diese Stimmen einzubinden und ihre Perspektiven auf Literaturkritik wahrzunehmen, ganz im Sinne der Anschlussfähigkeit von Literaturkritik an nachwachsende Generationen.

Fazit

Es wäre an der Zeit für Jurys und Formate, sich jungen Talenten zu öffnen und diese aktiv zu suchen und zu fördern. Statt bei den üblichen Verdächtigen zu verharren und jungen Literaturkritikerinnen damit die Chance zur Entwicklung und Etablierung zu verwehren, wäre es höchst dringlich, diese in Formate und Gremien einzubinden, um so nicht am eigenen Ast zu sägen. Schon alleine deshalb, damit wohlgeschätzte Institutionen wie die SWR-Bestenliste auch in 50 Jahren noch Relevanz und Einfluss genießen. Der Generationenumbruch, er müsste jetzt eingeleitet werden, um ihn dann gestaltend zu begleiten und sich so für die Zukunft zu rüsten.

Mit einer kontinuierlichen Förderung junger, kritischer Stimmen könnte es gelingen. Weiter in eine Zukunft zu gehen, in der Literaturkritik Einfluss und Ansehen genießt, das erscheint mir ein Ziel, das uns alle als Literaturinteressierte doch einen sollte. So müsste einem dann auch angesichts der in Frankfurt diskutierten Frage nach der Zukunft der Literaturkritik etwas weniger bang sein und es ließe sich zuversichtlicher nach vorne schauen.


Bildrechte Titelbild: Frankfurter Buchmesse/Anett Weirauch

Colum McCann – Twist

Schicksale, die wie Kabelstränge verdreht und entdreht werden. Sie flicht Colum McCann in seinem neuen Roman Twist, das die fragilen Verbindungen zwischen Menschen und Nationen besieht und dafür tief abtaucht, bis hinab auf den Meeresgrund.


Mit seinen Romanen hat sich Colum McCann einen Ruf als Autor erschrieben, der sich genau ansieht, was Menschen trennt und sie verbindet. Mal beschäftigte er sich mit der Kluft, die sich zwischen Israelis und Palästinensern auftut und die fast unüberwindlich scheint (Apeirogon), mal lässt er in einem Roman einen Seiltänzer über den Abgrund zwischen den Wolkenkratzern in New York balancieren (Die große Welt).
Im Roman Transatlantik war das Verbindende schon im Titel angelegt, hier schickte er von 1845 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gleich dreimal Menschen zu ganz verschiedenen Zeitpunkten zwischen McCanns Heimat Irland und den USA hin und her.

Nun mit Twist also ein neuer Roman, der abermals das Verbindende besieht. Das Ganze findet diesmal aber nicht wie in Transatlantik über der Erde statt, im aktuellen Roman liegt die Verbindung deutlich tiefer, genauer gesagt am Grunde des Ozeans. Denn dort sind jene Glasfaserkabel verlegt, die das Internet und damit die verschiedenen digitalen Netze zwischen den Kontinenten verbinden.

Das Geheimnis der Tiefseekabel

Einst beschrieb Stefan Zweig in der Erzählung Das erste Wort über den Ozean in seinen Sternstunden der Menschheit den Moment der Verlegung des ersten Telegrammkabels zwischen den USA und Europa. Nun, gut 150 Jahre später seit jener Pionierleistung haben sich zwar die Kabelarten geändert, die Abhängigkeit von jener fragilen Infrastruktur ist aber geblieben, wie nicht nur jüngst die Angriffe der russischen Schattenflotte auf diese Tiefseekabel zeigten.

Das muss auch der recht erfolglose Schriftsteller und Journalist Fennell feststellen, der auf Geheiß seiner Redakteurin den Weg nach Kapstadt antritt, wo er eine Reportage über Conway schreiben soll. Dieser ist auf einem spezialisierten Schiff für die Reparatur dieser Tiefseekabel zuständig und soll im Mittelpunkt von Fennells Reportage stehen, für die er zumindest anfänglich nicht allzu viel Begeisterung aufbringen kann.

Ich interessierte mich nicht für Kabel. Jedenfalls anfangs nicht. In dem einzigen Artikel, den ich am Ende schrieb, hieß es, ein Kabel bliebe so lange ein Kabel, bis es gebrochen sei, danach verwandle es sich, wie wir alle, in etwas anderes.
Eines kalten Herbstnachmittags rief mich Sachini an, meine Redakteurin bei einem Online-Magazin, für das ich gelegentlich arbeitete. Sie sprach in langen, verschlungenen Sätzen. Sie war auf einen Bericht über einen Kabelbruch in Vietnam gestoßen und hatte überrascht herausgefunden, dass beinahe die gesamte interkontinentale Information der Welt durch zerbrechliche Röhren auf dem Meeresgrund floss. Wir anderen glaubten zumeist, dass die Cloud in der Luft beheimatet sei, sagte sie, aber über Satelliten laufe nur ein kleiner Bruchteil des Internetverkehrs. Die im Schlick liegenden Kabel auf dem Meeresgrund seien schneller, billiger und weitaus effektiver. Gelegentlich brächen sie, und verteilt über verschiedene Häfen der Welt gebe es eine kleine Flotte von Schiffen, die dann mit der Reparatur beauftragt würden und oft Monate auf See verbrachten. Sachini fragte, ob ich der Geschichte nachgehen wolle?

Colum McCann – Twist, S. 14

Auf den Spuren einer Nicht-Geschichte

Zunächst allerdings sieht alles eher nach einer Nicht-Geschichte aus. Deutlich interessanter als der widerwillige Kabelexperte scheint Conways Frau Zanele zu sein, die schon kurz nach Fennells Ankunft in Südafrika von dort nach England aufbricht, wo sie mit anderen Schauspielerinnen Becketts Warten auf Godot neuinterpretieren will.

Nicht nur sie wartet im Stück auf jenen Gast, dessen Erscheinen ausbleibt, auch eine berichtenswerte Story in Kapstadt scheint auszubleiben. Ein Schleier der Lethargie legt sich über Fennell, der erst durch einen Felssturz zerrissen wird. Denn jene Verschiebung von Erdmassen wirkt auch unterirdisch fort und beschädigt die Kabel vor der Küste Afrikas und sorgt dort für einen großflächigen Ausfall sämtlicher Kommunikationsstruktur. Und so hat Fennell plötzlich doch eine Geschichte, als er mit an Bord ist, als die Mannschaft ausrückt, um den Schaden zu beheben, der nicht nur die afrikanische Welt zusehends ins Chaos stürzt.

Rätselhafte Menschen, verdrehte Schicksale

Twist ist ein Roman, der drei Menschen ins Zentrum stellt, die alle auf ihre eigene Art und Weise unnahbar bleiben. Da ist Conway, der zu Fennell auf Distanz geht und den der Journalist nicht richtig zu greifen bekommt (worüber der Journalist bis heute grübelt; ein Umstand, über den er uns schon zu Beginn des Romans in Kenntnis setzt).

Aber auch Fennell bleibt konturlos, obschon er uns als Ich-Erzähler an seinen eigenen Abgründen und Schmerzen teilhaben lässt. Und Zanele als dritte im Bunde ist nicht nur durch ihr baldiges Entweichen nach England für Fennell ein faszinierendes Rätsel – auch Conways Schiffscrew scheint der Anziehung der Schauspielerin erlegen zu sein und Teile der Crew haben wie auch Fennell selbst eine Obsession für die enigmatische Frau entwickelt.

Diese drei Figuren bringt Colum McCann in Kapstadt nun zusammen und verdrillt ihre drei Lebenswege zunächst wie die Stränge im Inneren eines isolierten Kabels. Schon kurz darauf aber entdrillt der irische Schriftsteller diese drei Schicksale wieder und isoliert die Figuren zunehmend voneinander. Aus dieser Bewegung der Eng- und dann Fortführung zieht Twist seinen Reiz.

Nachdem der Roman am Ende den titelgebenden Twist auch nicht schuldig bleibt, wird das Buch mit seinen Figuren immer mehr zu einem Rätsel. Denn plötzlich wechselt eine der Figuren die Seiten – und als außenstehender Beobachter steht man wieder vor einem Rätsel, das der Roman nicht auflösen kann und das auch gar nicht will. Mit dieser Verschiebung in der Betrachtung der Figuren und ihr erratisches Verhalten erinnert der Roman an andere, ebenfalls in maritimen Umfeld angesiedelte Romane wie Emma StonexDie Leuchtturmwärter oder Mariette Navarros Über die See, die ebenfalls ein Stück weit auf Uneindeutigkeit und die Ungewissheit setzen.

Fazit

Es liegt etwas leicht Verschobenes, Zwielichthaftes über diesem ganzen Roman, der von unseren Abhängigkeiten und Verstrickungen genauso wie von Einsamkeit erzählt. So etwas muss man mögen – Colum McCann kann es aber auf alle Fälle erzählen, denn der Roman weiß durch die Bildsprache und die Komposition einer Rückschau überzeugen. Trotz des Blicks zurück zweifelt Fennell und wir mit ihm daran, was man da eigentlich gesehen hat. Das macht in meinen Augen den Reiz dieses von Thomas Überhoff ins Deutsche übersetzten Romans aus.


  • Colum McCann – Twist
  • Aus dem Englischen von Thomas Überhoff
  • ISBN 978-3-7632-7672-1 (Büchergilde Gutenberg)
  • 336 Seiten. Preis: 28,00 €

Andreas Pflüger – Kälter

Zwischen Amrum und Wien, Ballerballett im Zug, RAF-Terroristen und Ausbildungscamp in der Negev-Wüste: in Kälter schickt Andreas Pflüger wieder eine hochgefährliche Frau in die nicht minder gefährliche Welt der Geheimdienste und lässt sie einen legendären Terroristen jagen. Während um sie herum nicht nur die Mauer fällt, sondern auch Gewissheiten bröckeln, muss sie erkennen, dass manche Kriege auch über ihr Ende hinaus andauern können.


Irgendwo zwischen seinem Roman Ritchie Girl und dem Kalten-Krieg-Thriller Wie Sterben geht muss es passiert sein, dass Andreas Pflüger seinen appetite for destruction entwickelt hat. Zertrümmerte der in der unmittelbaren Nachkriegszeit spielende Roman Ritchie Girl hauptsächlich noch schmerzhaft Mythen und Vorstellungen, war es im darauffolgenden Roman gleich einmal die Glienicker Brücke, die der Autor zu Beginn in die Luft jagte. Mit Kälter setzt sich diese explosive Zerstörungswut nun fort, diesmal ist es das berühmte Riesenrad im Wiener Prater, das in den Pflüger’schen Fokus geraten ist und das auch das Cover im erprobten Design des Vorgängerromans ziert.

Das ist schlüssig, denn nicht nur optisch, auch inhaltlich zeigen sich viele Verbindungslinien zu Wie Sterben geht, denen der Roman nachspürt. Das hat mit dem Setting zu tun, das diesmal zwar mit dem Jahr 1989 schon am Ende des Kalten Kriegs angekommen ist, dennoch aber noch dessen Geist von Spionage und Paranoia atmet, wie es der zuvor erschienene Roman tat.
Und auch einige Figuren aus Pflügers letzten Roman haben ihre Auftritt, vom Top-Spion Rem Kukura über den BND-Präsidenten Julius Boehnke bis hin zu Nina Winter, jener Frau, die im kalten Moskau den Geheimdiensten und Todesgefahren trotzte und die nun Luzy Morgenroth ein entscheidendes Stück auf deren Mission begleiten darf.

Morgenroth in der Nacht

Andreas Pflüger - Kälter (Cover)

Morgenroth – ganz typische Pflüger – ist die neue Heldin, die den Staffelstab des Kampfs gegen die Geheimdienste und Verbrecher übernimmt und dabei weder in Sachen körperlichen Einsatzes noch mit Willensstärke geizt. Denn obschon sie ein recht beschauliches Leben als Inselpolizistin auf Amrum fristet, war dem nicht immer so.

Das zeigt sich spätestens, als Luzy in einer sturmumtosten Nacht auf der Insel im Alleingang einen ganzen Trupp von Killern erledigt. Das Ein-Frau-Kommando, es hat eine Geschichte, wie Pflüger im Folgenden zeigt. Denn einst war Luzy ein „Sherpa“, schützte Politiker und trainierte in der Negev-Wüste Krav Maga. Bis heute verbindet sie eine Freundschaft mit Richard Wolf, dem BKA-Präsidenten (der wie einige Pflüger-Figuren bereits durch eine ganze Reihe von Romanen des Saarländers geisterte). Dieser bestärkt sie auch in ihrer Mission, die sie nun nach all den Jahren im Staatsdienst klarer denn je erkennt.

Der Trupp der Killer führte nämlich ein Aktenblatt bei sich, das sie wieder auf die Spur von Babel bringt. Bei ihm handelt es sich um einen Top-Terroristen, dem sie schon einmal im King-Solomon-Hotel in Tel Aviv die Klingen oder besser die Flugbahnen ihrer Kugeln kreuzte. Zahllose Terroranschläge und Morde gehen auf sein Konto – so auch in Tel Aviv, wo sich durch das Aufeinandertreffen der beiden zwei Lebensbahnen verbinden sollten, die nun wieder eng aufeinander zuzulaufen scheinen.

Auf den Spuren Babels

Einst schwor sich Luzy, Babel zur Strecke zu bringen. Nun bekommt dieses Vorhaben neuen Auftrieb, denn das Aktenblatt weckt bei Luzy und ihrem Vertrauten Richard Wolf einen ungeheuerlichen Verdacht. Wird der im Dunstkreis der RAF erstmals in Erscheinung getretene Babel vom Ministerium für Staatssicherheit geführt? Um ihrem Verdacht nachzugehen und ihre Mission zu einem Ende zu führen, quittiert Luzy den Dienst auf Amrum und begibt sich auf eine Reise, die sie von Amrum über Berlin und Pullach bis nach Wien führt – und mit mächtigen Gegner konfrontiert.

Als sie mit Babel endet, fasst Nika ihre Hand. „Du willst den gefährlichsten Mann der Welt töten. Der von der mächtigsten Organisation geschützt wird, die es gibt. Jeden anderen würde ich für wahnsinnig erklären. Dich nicht.“

Andreas Pflüger – Kälter, S. 364

Ähnlich wie Jenny Aaron (die hier ebenfalls einen kleinen Cameo-Auftritt absolvieren darf) konfrontiert Andreas Pflüger auch Luzy Morgenroth wieder mit einem schier übermenschlichen Terroristen, der durch Kugelhagel unbeschadet gehen kann und über eine mächtige Terrorinfrastruktur verfügt, mit der man es eigentlich gar nicht aufnehmen könnte, wäre man nicht aus dem Material gestrickt, aus dem Pflüger seine Heldinnen gießt.

Rache um jeden Preis

Willensstärke, Kampfkunst und viel Beharrlichkeit, sie sind die Mittel, mit denen Luzy Babel zur Strecke bringen will. Dass die Jagd nicht ohne Opfer bleiben wird, es versteht sich von alleine. Denn spätestens seit der Nacht auf Amrum sinnt sie auf Rache, die sie um jeden Preis erleben will.

Das Ergebnis des Ganzen sind genau durchchoreografierte Actionszenen, die mal in einem Zug, mal im U-Bahnnetz Münchens spielen, und die vom Geist der zerfallenden Kriegsfronten im Kalten Krieg durchdrungen sind. Vom Sturm auf die Stasi-Zentrale in der Nacht des Mauerfalls bis hin zu den undurchsichtigen Spielen zwischen KGB, Stasi, BND und anderer westlicher Geheimdienste reicht der zeitgeschichtliche Bogen, den Pflüger spannt und der in Wien sein Ende findet. Dieses Wien gerät bei ihm zu einem heißen Spionagepflaster, das die Geheimdienste ganz genau unter sich aufgeteilt haben und durch dessen Straßen immer noch eine Echo der Zither Anton Karas‘ aus Carol Reeds Der dritte Mann weht.

Beschattungen, Ballereien und ein bisschen Liebe sind die Zutaten, aus denen Pflüger seinen spannenden Cocktail mischt. Dazu gibt es wie gewohnt literarische Zitate und ungewohnte sprachliche Bilder bis hin zu Physikexkurse mit Stephen Hawking, die Pflüger in seine Action mit hineinmengt.

Fazit

Alles ist da für einen erneut außergewöhnlich guten Thriller. Und doch – ein bisschen weniger dicht ist das Ganze, als man es von Pflüger kennt. Manchmal zerfällt das Ganze in seine Einzelteile zwischen Actionsequenzen und Geheimdienstgeschichte. Die übermenschliche Nemesis, bei deren Bekämpfung die Heldin zu nicht minder übermenschlichen Taten in der Lage ist, man kennt es doch schon von Jenny Aaron und ihrem Kampf gegen Ludger Holm, der ein ähnliches Duell bedeutete, wie es hier gezeigt wird. Auch kennt man als Pflüger-Leser teilweise die Figuren und Schauplätze wie die BND-Zentrale in Pullach ebenfalls, sodass Kälter ein wenig das Neue oder Überraschende fehlt.

Gewiss, es ist Mäkeln auf höchstem Niveau – und dennoch – ein neuer kriminalliterarischer Gipfel ist es nicht, aber dafür wandelt Pflüger beachtenswert weiter auf dem Hochgrat des (deutschsprachigen) Thrillerolymp, der Zeitgeschichte und Spannung gelungen miteinander kombiniert.


  • Andreas Pflüger – Kälter
  • ISBN 978-3-518-43258-7 (Suhrkamp)
  • 495 Seiten. Preis: 25,00 €

Rachel Cockerell – Melting Point

Weit mehr als nur die Erforschung ihrer eigenen Familie: Rachel Cockerell liefert mit Melting Point eine Textcollage, die von der jüdischen Sehnsucht nach einem eigenen Land ebenso wie von Theaterrevolutionären und nicht zuletzt von ihrer bemerkenswerten Familie über die Jahrzehnte hinweg erzählt.


Die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten, sie beschert nicht nur Archiven hunderte Anfragen im Jahr zu genealogischen Themen, auch der Buchmarkt ist gesättigt von solchen belletristischen Aufarbeitungen. Den Ansatz, den Rachel Cockerell in ihrem Buch wählt, ist allerdings lobenswerterweise ein anderer als das schon recht abgenutzte Prinzip eines Generationenromans.

Cockerell verzichtet völlig auf eine ordnende Erzählinstanz und präsentiert stattdessen hunderte Originalstimmen aus Zeitungen, von Zeitzeugen und ihrer eigenen Familie, aus deren Miteinander langsam eine vielfältige Geschichte wird, die ebenso vom Zionismus wie den wilden Volten des 20. Jahrhunderts erzählt. Das ist sehr spannend, nicht zuletzt, da diese Zeitläufe aus ihrer Familie die gemacht haben, deren Lebenswege wir in Melting Point nachverfolgen dürfen.

Bis es allerdings so weit ist, vergeht fast die Hälft dieses Buchs. Denn Cockerell greift sehr weit aus, um die historischen Läufe zu verdeutlichen, aus denen sich auch ihre Familiengeschichte speist. Alles beginnt bei ihr Ende des 19. Jahrhunderts, als Theodor Herzl seine ersten Zionistenkongresse einberuft.

Die Sehnsucht nach einem Land für das so verstreut lebende und seit biblischen Zeiten nicht mehr wirklich sesshafte Volk bewegt ihn dazu, mit der Suche nach einem Lebensumfeld für Jüdinnen und Juden zu beginnen. Auf den ersten Zionistenkongressen in Basel beschäftigt man sich intensiv mit der Frage nach einem solchen Ort, an dem das Volk Heimat finden könnte. Mit von der Partie ist auch ein heute völlig vergessener Intellektueller, der Herzls Suche nach einem jüdischen Land über dessen Tod hinaus unermüdlich fortführen wird. Sein Name: Israel Zangwill.

Auf der Suche nach einem Land

Rachel Cockerell - Melting Point (Cover)

Schon zu Lebzeiten Herzls wurde auf dem sechsten Zionistenkongress in Basel das Angebot Großbritanniens diskutiert, die den Jüdinnen und Juden ein Territorium in ihrer Kolonie Britisch-Ostafrika im heutigen Uganda zur Verfügung stellen wollten.
Nachdem diese Idee verworfen worden war, betrieb Zangwill zusammen mit dem ITO, der Jewish Territorial Organization, die Suche nach einem geeigneten Land, das nach den Plänen des zionistischen Schriftstellers mal in Mesopotamien, mal in Australien liegen sollte.

Dringlichkeit bekam die Suche durch Pogrome in Russland, etwa in Kischinau, wo die Gewalt der russischen Bevölkerung gegen ihre jüdischen Mitbewohner*innen immer häufiger brutal eskalierte.

Mithilfe vieler Quellen und Originalstimmen erzählt sie von der verzweifelten Suche Zangwills nach einem Land – und der rapiden Zunahme von Feindlichkeiten gegenüber der jüdischen Bevölkerung nicht nur in Russland. Auch ist die Bemühung der amerikanischen ITO-Sektion Thema in Melting Point, das den verfolgten Jüdinnen und Juden speziell aus Russland in den USA eine neue Heimstatt geben wollte. Ausgehend vom völlig überlaufenen kulturellen Schmelztiegel New York begab man sich auf die Suche nach neuen Lebensorten für die russischstämmigen Juden.

Im sogenannten Galveston-Projekt wollte man diese Geflüchteten in ebenjenem Küstenort in Texas ansiedeln und ihnen somit einen neuen Lebensraum verschaffen. Prägende Figur bei jenem Bestreben war der Vizepräsident der ITO in Amerika, Dr. David Jochelmann.

Hier findet Melting Point nun endlich den Anschluss an die im Unteritel versprochene biografische Geschichte Rachel Cockerells. Denn bei David Jochelmann handelt es sich um Cockerells Großvater.

Dieser hatte mit seiner ersten Frau einen Sohn, der unter dem Pseudonym Emjo Basshe (zusammengesetzt aus Emmanuel und Jochelmann, dazu der Name seiner Großmutter) zu einem aufsehenerregenden Theatergründer wurde, der zusammen mit Größen wie John Dos Passos im New Playwright-Theater für Aufsehen sorgen sollte. Seine nur kurze Lebensgeschichte von gerade einaml 40 Jahren handelt der kürzere Mittelteil des Buchs ab, ehe sich Cockerell dann im letzten Teil auf ihre eigene Familiengeschichte besinnt, die in der zweiten Ehe David Jochelmanns begründet liegt.

Das kuriose Miteinander der Familien Jochelmann

Vom Überleben im zweiten Weltkrieg in London, vom kuriosen Miteinander der zwei Familien, die Fanny Jochelmann gründeteder auch die Autorin selbst entstammt) sowie der von Sonja Jochelmann erzählt sie – und gibt einen Eindruck vom Schmelztiegel dieser ungewöhnlichen Familien, die allesamt mit ihren insgesamt sieben Kindern nebst Großmutter in einem Haus in London zusammenlebten. Hier zeigt sich eine Polyphonie und ein Chaos, wie es dem Buch auch in seinem Ganzen in seiner collagierten Weise zu eigen ist – und doch zu einer überzeugenden Form findet. Denn spätestens mit der Auswanderung von Sonja und ihrer Familie in das aus britischer Herrschaft übernommene Palästina schließt sich dann der Bogen zu den zionistischen Bemühungen Herzls und Zangwills.

Fazit

Melting Point ist eine hochinteressante Familiengeschichte, die die eigenen biographischen Volten der Familie neben die Volten der Zeit und dem zionistischen Bestreben legt. Daraus erwächst ein Buch, das (in seiner Vielstimmigkeit und registerreichen Sprache hervorragend von Cornelius Reiber und Nina Frey übersetzt) einen Eindruck gibt von der Sehnsucht der Jüdinnen und Juden nach einem eigenen Land und den Gewalterfahrungen, die sie immer wieder ausgesetzt waren.

Ebenso erzählt Rachel Cockerells Buch nach der Frage von Identität und wie sich diese konstituiert. Durch die außergewöhnliche Erzählweise gewinnt ihr Buch und ist ein einsichtsreiches und zeithistorisches Dokument, das belegt, wie sich die Zeit in der eigenen Familie widerspiegelt und umgekehrt. Den Schmelzpunkt, der Weltgeschichte und persönliche Biografien miteinander verbindet und amalgamiert, hier lässt er sich genau besehen.

Nicht nur angesichts des Israel-Palästina-Konflikts eine einsichtsreiche Lektüre, die viel Hintergrund zum Zionismus bietet und mit der persönlichen Perspektive auf einem Komplex blickt, dem man wohl nur durch eine so polyphone Erzählweise gerecht werden kann, die zugleich abwechslungsreich und differenziert ist. Damit leistet Rachel Cockerell wertvolle Arbeit, die unbedingt der Lektüre lohnt.


  • Rachel Cockerell – Melting Point
  • Aus dem Englischen von Nina Frey und Cornelius Reiber
  • ISBN 978-3-8477-2066-9 (Die andere Bibliothek)
  • 456 Seiten. Preis: 28,00 €