Category Archives: Historischer Roman

Franzobel – Das Floß der Medusa

Sehenden Auges ins Verderben

Franzobel traut sich mit seinem neuen Roman etwas – er entwirft ein barockes, schon fast überbordendes Gemälde in Schriftform. Dreh- und Angelpunkt ist der Untergang der Medusa, eines großen Schiffes, das von Frankreich aus eigentlich den Senegal ansteuern sollte. Doch Egoismus, Verblendung und Geltungssucht sorgen dafür, dass aus dem Unternehmen schnell ein Desaster wird und sich ein Reigen der Eitelkeiten und Hybris entwickelt.

Vor der Küste Afrikas läuft der Master auf die Arguin-Sandbank auf. Der Kapitän rettet sich mit der Oberschicht auf die zu klein skalierten Rettungsboote – doch für 200 Menschen wird die Medusa zur Falle und sie schaffen es nicht von Bord. Man behilft sich kurzerhand, indem man aus den Schiffsteilen ein Floß für die restlichen Passagiere zimmert und mithilfe dieses Floßes die afrikanische Küste erreichen will. Der Plan ist gut, die Seewelt allerdings noch nicht bereit dafür. So treten schon bald die Schwächen des Plans zu Tage – und auf dem Floß entfesselt sich ein Überlebenskampf.

Franzobel erzählt seine Medusa-Parabel eng am historischen Kontext entlang (so versichert er dies zumindest im Nachwort seines fast 600 Seiten dicken Schmökers – bei allem detailliert geschilderten Kannibalismus an Bord der Medusa möchte ich mir den Begriff Schinken ersparen). Als besonderen Kniff dieses im 19. Jahrhundert spielenden Romans ist die Sprache Franzobels allerdings gar nicht historisch. Immer wieder flicht er postmoderne Manierismen ein. Der Erzähler wendet sich direkt an den Leser, korrigiert sich manchmal selbst und Besetzungsvorschläge für die Charaktere liefert Franzobel auch gleich selbst mit (von Lino Ventura bis Scarlett Johannsen reichen die Ideen des Österreichers). Dies sprengt manchmal wohltuend, manchmal irritierend den Fluss der Geschichte auf und sorgt für die nötige ironische Brechung, die dem Floß der Medusa gut zu Gesicht steht.

Mit großer Lust und Verve betrachtet Franzobel auch die Ausscheidungen und Auswüchse, als der Firnis der Zivilisation immer fadenscheiniger wird (an dieser Stelle sei nur an die Operation des Juden Kimmelblatt oder an das nutritive Treiben auf dem Floß erinnert, bei dem der Österreicher den Lesern nichts erspart).  Doch gelingt ihm auch, den Spagat zwischen Derbheit und möglichen Zumutungen zu halten und das Erträgliche nicht zu überreizen. Auch wenn der Roman nach der Schilderung des Schiffbruchs ebenfalls von einer kleinen Flaute erwischt wird, so trägt sich die Geschichte doch dann auch durch einige Sprünge und Szenenwechsel gut ins Ziel.

Das gelingt auch deshalb so gut, weil Franzobel wunderbare Stützpfeiler für sein Epos gefunden hat – die einzigartigen Figuren. Franzobel verleiht dem wirklich überbordenden Personaltableau eine formidable Gestalt. Alle Charaktere werden gut eingeführt und erhalten unverwechselbare Gesichter, Marotten und Schicksale (Clutterbucket! Schmaltz! Charlieee! Die Lafitte-Schwestern!). Wie sich diese Figuren auf dem Schiff bewegen, welche Welten dort aufeinanderprallen und wie man gemeinsam sehenden Auges ins Verderben steuert, das ist große Kunst und fürwahr eine ganze Zivilisation in nuce.

In meinen Augen ist Das Floß der Medusa ein wirkliches Epos, ein fantastischer Wurf und ein barock-modernes Drama, das weit über seinen historischen Kontext hinausweist. Völlig zu Recht ist das Buch für den Deutschen und nun auch für den Bayerischen Buchpreis nominiert. Ein Sieg wäre dem Buch zu gönnen!

Zadie Smith – Swing Time

Step up

Wenn man als junges Mädchen wenig Chancen und Perspektiven hat – dann gibt es nur eins, das einen retten kann: der Swing. Davon erzählt die englische Autorin Zadie Smith in ihrem neuesten Roman Swing Time (Deutsch von Tanja Handels).

Ausgangspunkt ist die Freundschaft zwischen der Ich-Erzählerin und Tracey, die in London beginnt. Während die Ich-Erzählerin aus einem intakten Elternhaus stammt (ein etwas liederlicher Vater und eine nach Bildung strebende Mutter sind die Koordinaten in ihrem Leben), ist der Hintergrund ihrer Freundin Tracey ganz anders. Mit ihrer alleinerziehenden Mutter lebt sie in einer kleinen Wohnung, ihr Vater ist laut Legende ein fantastischer Tänzer und im Hintergrund von Michael Jacksons Video des Hits Thriller zu sehen. Was die beiden Mädchen neben ihrer Hautfarbe verbindet, ist die Leidenschaft zum Swing und Steptanz.

Während die Ich-Erzählerin eher im Gesang alter Standards ihre Erfüllung findet, ist Tracey im Steptanz zu Hause und übt unermüdlich Figuren und Choreografien. Auch wenn sich im Laufe der folgenden 640 Seiten die Leben der beiden Freundinnen immer wieder entfernen und annähern werden, so ist doch der Swing die Nabelschnur, der sie miteinander verbindet. Während die Ich-Erzählerin zur Assistentin eines berühmten australischen Popstars avanciert, wird es Tracey immer ernster mit ihrer Karriere als Tänzerin. In Episoden springt Smith dabei durch die Entwicklungsschritte der beiden Frauen und blickt auf ihr Leben.

Immer wieder schossen mir bei der Lektüre viele Analogien zu einer im Moment ähnlich populären Schriftstellerin durch den Kopf. Swing Time liest sich wie Elena Ferrante auf Swing. Beide Werke weisen für mich signifikante Parallelen (und leider auch Schwächen) auf. Während Ferrante ihre beiden Heldinnen Lila und Lenu über vier Bände hinweg in Neapel reifen lässt, braucht Zadie Smith hierfür nur einen (wenn auch mit 640 Seiten reichlich voluminösen) Roman. Mögen sich doch die Schauplätze und Epochen unterscheiden – die Grundthemen sind dabei doch die gleichen: Bildung, Herkunft, soziales Milieu und die Anstrengungen aus den determinierten Bahnen auszubrechen – das ist in meinen Augen der Kern, um denen sich die Geschichten bei Ferrante und Smith drehen. Auch der feministische Gesichtspunkt ist ein elementarer. In beiden Welten ist es ein steter Kampf der Erzählerinnen, um sich in ihrer Welt zu behaupten und Anerkennung für ihr Tun zu bekommen.

Doch diese wichtigen Themen werden in meinen Augen sowohl bei Ferrante als auch bei Smith mangelhaft umgesetzt. Der Spannungsbogen und damit der Sützpfeiler jeder Erzählung, fällt im Laufe von Swing Time mehrmals zusammen. Sobald sich Smith von der konzisen Schilderung der Jugend und des Aufwachsens im London der 70er verabschiedet, erhält ihr Roman eine ausufernde Breite, die trotz der Sprünge durch die Chronologie nicht mehr eingegrenzt wird und damit versandet. Je länger ihre Erzählung wird, umso mehr verliert die Autorin den Fokus und erzeugt damit leider mehr Monotonie denn Abwechslung und Spannung. Es ist wie mit einem famosen Jazz-Stück, das präzise und vielstimmig beginnt, sich dann allerdings in Solos und Instrumentalteilen verliert und damit auch schlussendlich seine Hörer beziehungsweise in diesem Falle die Leser vergisst.

Neben dem ausufernden Erzählen und der phasenweise Ödnis im Leben der Protagonistinnen sind es leider diese auch selbst, die wenig Esprit versprühen. Nach der Kindheit und den damit verbundenen Erziehungsmethoden und Werten, die Tracey und die Ich-Erzählerin auf ihren Weg mitbekommen, werden sie dem Leser immer ferner. Zu distanziert und blass bleiben die Charaktere trotz allen Raums, den sich Smith für ihre Figuren nimmt. Selbst die wenigen eingesetzten Brüche in den Biographien sind nicht dazu angetan, tiefere Bindung zu ihnen zu schaffen. So bleibt eine tiefergehende Identifikation mit Tracey und der Ich-Erzählerin und ihren Leben in Swing Time leider aus.

Das ist schade, da meiner Meinung nach immer noch fiktive Geschichten am besten geeignet sind, um unserer Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten und zu Reflektionen anzuregen. Das in Swing Time steckende Potential ruft Zadie Smith leider nicht ab – und Swing Time gerät dadurch etwas ins Straucheln und aus dem Takt.

 

Pierre Lemaitre – Wir sehen uns dort oben

In diesem Jahr ist Frankreich das Partnerland der in Kürze beginnenden Frankfurter Buchmesse. Ein Land, das mit einer erfreulich heterogenen Literaturszene aufwarten kann. Meine neueste Entdeckung ist hierbei Pierre Lemaitre, ein in Paris lebender Schriftsteller, der bislang überwiegend als Krimiautor in Erscheinung trat.

Sein nun im Taschenbuch erschienener Roman Wir sehen uns dort oben (Übersetzung Antje Peter) erzählt von einem ganz besonderen Triumvirat, das durch Geschehnisse in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs zusammengeschweißt wird. Da wäre zunächst der etwas unbedarfte Soldat Albert Maillard, der von seinem Vorgesetzten, dem Offizier Pradelle auf ein Himmelfahrtskommando geschickt wird, um den deutschen Truppen ein paar Meter Schlachtfeld abzujagen. Jener Pradelle selbst („ungestüm und primitiv“ so die Kennzeichnung auf S. 38) möchte mit diesem Manöver endlich noch die ihm seiner Meinung nach zustehenden Meriten verdienen, die ihm bislang versagt blieben. Der Dritte im Bunde ist der Soldat Edouard Péricourt, der in letzter Sekunde zum Retter Alberts wird, dabei aber fast mit seinem eigenen Leben bezahlt.

Dieses Beziehungsgefüge bildet nun die Grundlage zu Lemaitres mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman, der ein umfassendes Panorama der französischen Nachkriegsgesellschaft zeichnet. Während Albert und Edouard eine symbiotische Freundschaft schließen, nicht zuletzt um auch leichter überleben zu können, legt Offizier Pradelle einen steilen Aufstieg hin und avanciert zum hochdekorierten Kriegshelden.

Albert und Edouard eint der Hass auf diesen, da sie beide wissen, um welchen Preis Pradelle seinen Erfolg errungen hat. Sie beschließen, durch eine ausgeklügelte Masche Rache zu nehmen und ihrem Leid als Kriegsversehrte zu entfliehen. Hier zeigt sich das Talent Lemaitres, der weiß wie man spannend erzählt und Erzählbögen entwickelt, die die Geschichte tragen. Immer wieder wechselt er die Perspektiven von Albert zu Pradelle zu Edouard und so weiter. Das ist gut gemacht und treibt die Geschichte voran.

Mit einer Prise Dumas erzählt er von der französischen Nachkriegsgesellschaft, dem Leid und den Sorgen, die die Menschen mit sich trugen, trotz der Tatsache, dass Frankreich Kriegsgewinner war. Doch ein solcher Krieg kennt doch nur Verlierer, das wird bei Wir sehen uns dort oben eindringlich klar. Ein starkes Buch über ein auch nach einhundert Jahren immanent wichtiges Thema, das nicht in Vergessenheit geraten sollte.

 

Und an dieser Stelle noch ein Hinweis für alle Leser, die nun neugierig auf Pierre Lemaitre geworden sind: jüngst erschien der neue Roman Lemaitres mit dem Titel Drei Tage und ein Leben im Klett-Cotta Verlag. Eine Besprechung hier wird in Kürze folgen!

Abir Mukherjee – Ein angesehener Mann

Es gibt so Bücher, die nimmt man in die Hand, man liest die ersten Seiten und weiß – das passt einfach. Da stimmt die Sprache, die Charakterzeichnung und die Setzung der Kapitel. Der Plot entfaltet sich Stück für Stück, das Tempo ist genau richtig und die Schilderungen lassen farbige Bilder im Kopf entstehen. Dem Engländer Abir Mukherjee ist mit seinem Debüt genau eines dieser Bücher gelungen.

Ein angesehener Mann von Abir Mukherjee

Sein Buch Ein angesehener Mann (schön rund ins Deutsche übertragen von Jens Plassmann) entführt direkt zurück nach Indien, und zwar im Jahr 1919. Der Ich-Erzähler Sam Wyndham ist frisch aus England eingetroffen, nachdem er seinen Dienst bei Scotland Yard quittiert hat. Die Ereignisse aus dem Ersten Weltkrieg und der traumatische Verlust seiner Frau haben ihn dazu bewogen, sämtliche Brücken hinter sich abzubrechen und in Kalkutta noch einmal neu zu beginnen. Als Captain versieht er seinen Dienst bei den Polizeistreitkräften im Schmelztiegel Kalkutta und wird schon auf den ersten Seiten des Buches mit  einem kniffligen Mord konfrontiert.

Ein wichtiger Berater des Lieutenant-Governors wurde in einer dunklen Seitengasse der Millionenstadt ermordet. In seinem Mund steckt eine Warnung an die englischen Besatzungskräfte. Der Gouverneur ist folglich alarmiert und erwartet von Wyndham und seinen Kollegen Ermittlungserfolge. Doch auch der Militärgeheimdienst steigt in die Ermittlungen ein und macht Wyndham Druck. Und dann ist da auch noch die indische Bevölkerung, die gegen die englischen Kolonialherren aufbegehrt und immer vehementer für Souveränität eintritt.

Abir Mukherjee macht in seinem ersten Buch auf Anhieb gleich alles richtig. Über den Plot transportiert Mukherjee viele Infos über die indisch-britische Geschichte und zeigt ein exotisches Indien, das aus vielen Widersprüchen besteht. Als Sohn indischer Einwanderer (seine Eltern stammen ebenfalls aus Kalkutta) ist er hierfür geradezu prädestiniert. Ihm gelingt es unaufgeregt, dieses brodelnde Indien, das zwischen dem Verlangen nach Selbstbestimmung und dem Wunsch nach Stärke zerrissen ist so zu zeichnen, dass dabei die Krimihandlung nie zur Nebensache wird, sondern diese hervorragend ergänzt – oder mit anderen Worten: einfach ein stimmiger Krimi!

Von diesem Ermittler liest man gerne noch weitere Fälle!

Elena Ferrante – Die Geschichte der getrennten Wege

Die Geschichte der beiden neapolitanischen Freundinnen Lila und Elena geht weiter. Nachdem zunächst die Kindheit und dann die Jugend im Mittelpunkt der Romane standen (Meine geniale Freundin und dann Die Geschichte eines neuen Namens), widmet sich Elena Ferrante nun den erwachsenen Jahren der beiden Freundinnen.

Dabei trennen sich die Wege der beiden Freundinnen recht bald, wie schon der Titel andeutet. Im Vorgängerband zog es Elena zum Studium nach Pisa, wodurch sie sich ihrer Familie und dem dumpfen und gewaltgesättigten Milieu Neapels entzog. Auch nach ihrem Studium bleibt sie Neapel fern, denn sie beschließt zu heiraten. Pietro Airota lernte sie im Zuge des Studiums kennen – nun stehen Verlobung und Heirat bevor.

Lenùs geniale Freundin Lila hingegen bleibt im Rione wohnen und zieht ihr Kind groß. Die Hoffnung auf ein Studium musste sie bereits Jahre zuvor begraben, nun wohnt sie weiterhin am Ort ihrer Kindheit. Ihr täglich Brot verdient sie in der Wurstfabrik von Bruno Soccavo, wo sie sich zahlreichen Schikanen ausgesetzt sieht. Die Freundschaft zu Lena bleibt dabei auch ein Stück weit auf der Strecke – ganz aus den Augen verlieren sich die beiden hingegen nie, wie Elena Ferrante in diesem dritten Teil der Reihe zeigt.

Viel Zeitkolorit

Neben der Freundschaft ist in diesem Roman des Quartetts der zeithistorische Kontext besonders ausgeprägt. Die Kämpfe der Faschisten gegen die Kommunisten, die Studentenrevolten und die vielen wechselhaften Entwicklungen in der Italienischen (und auch europäischen) Geschichte sind hier so präsent wie nie zuvor. Dies ist angenehm, da diese Elemente Abwechslung und Spannung ins Geschehen bringen – etwas, das der Geschichte sonst schmerzlich fehlt.

Im Rione Neapels

Ließ schon Die Geschichte eines neuen Names viel Entwicklung und Dynamik vermissen, so setzt sich das bei Die Geschichte der getrennten Wege fort. Elena Ferrante schildert minutiös die Entwicklungen ihrer beider Hauptcharaktere, und vergisst darüber den Spannungsbogen ihrer Erzählung, der oftmals bedenklich durchhängt. Statt Esprit herrscht so leider so manches Mal Langeweile vor, gerade wenn Ferrante die monotone Arbeit Lilas schildert oder das Hausfrauendasein Lenùs zu ausführlich beschreibt. Das ist besonders schade, da die Erzählung wirklich Potential besitzt, dieses aber zu oft nicht abgerufen wird.

Die Emanzipationsgeschichte der beiden Freundinnen und ihre Freundschaft wäre mit ein paar Straffungen und dem Verzicht auf redundante Szenen deutlich kompakter und lesbarer ausgefallen, so aber bleibt eine etwas kleinteilige und zähe Episode dieses Quartetts, so mein Eindruck. Hoffnung bleibt mir auf den abschließenden Teil der Reihe (der ebenfalls wieder wie alle Bücher von Karin Krieger übersetzt werden wird). Die Geschichte des verlorenen Kindes soll im Februar 2018 erscheinen und die Geschichte, die nun abermals mit einem Cliffhanger endet, zu Ende führen. Seien wir gespannt!