Robbie Arnott – Limberlost

Literatur aus Tasmanien findet sich gar nicht so häufig in den hiesigen Buchläden. Richard Flanagan dürfte der bekannteste Vertreter der Literaturszene auf der australischen Insel sein. Doch mit Robbie Arnott hat der Berlin-Verlag nun einen weiteren Vertreter aus Down Under in seinem Portfolio. Dieser macht mit seinem deutschsprachigen Debüt Limberlost gleich einmal auf sich aufmerksam.


Limberlost, so heißt jene Plantage, auf der der junge Ned West aufwächst. Seine beiden großen Brüder Bill und Toby sind verdingen sich als Rekruten irgendwo im Zweiten Weltkrieg. Da zu jung, ist Ned der einzige männliche Spross, der zusammen mit seiner Schwester Maggie bei seinem Vater auf der Plantage zurückgeblieben ist.

Während der schweigsame Vater mit dem Ertrag der Apfelplantage kämpft, durchstreift Ned die paradiesische Natur Tasmaniens, die vor seiner Haustür beginnt. Dabei treibt ihn ein bestimmtes Ziel an. Denn seit er im Alter von fünf Jahren von einem Wal hörte, der im nahegelegenen Fluss für Zerstörung und vor allem viel Gerüchte gesorgt hatte, ist er von der Welt des Wassers fasziniert. Mit einem eigenen Boot könnte er den Fluss vor der Haustür bereisen, selbst auf Fahrt gehen und so dem Trott zuhause entfliehen.

Der Traum vom eigenen Boot

Robbie Arnott - Limberlost (Cover)

Doch für einen Jungen mit keinem nennenswerten Einkommen liegt der Traum eines eigenen Boots natürlich in weiter Ferne. Doch Ned ist erfinderisch und beginnt, die Kaninchen zu jagen, die das Gelände um die heimische Farm zu Hunderten bevölkern. Er wird zu einem geschickten Jäger und Fallensteller, der die Kaninchen erlegt, um ihre Felle dann einem Krämer im nahegelegenen Beaconsfield im Norden der Insel zu verkaufen. Aus den Fellen werden Mützen für die Soldaten im Zweiten Weltkrieg – und Ned erhält für die abgenommenen Felle ein Honorar, das er eisern spart, um seinem Traum so näherzukommen.

Limberlost erzählt die Geschichte eines Sommers, der an einigen Stellen von Rückblenden des Lebens des erwachsenen Ned durchbrochen wird. Es ist ein Sommer, in dem Ned an der Schwelle vom Jungen zum Mann steht, was auch durch die Rückblenden so noch einmal betont wird. Dadurch fällt Arnotts Roman in die Gattung des klassischen Coming of Age Novels.

Genauso ist sein Roman aber auch eine Feier der überwältigenden Schönheit der Natur Tasmaniens, die Arnott ebenso vorzüglich wie seine Landsmänner Richard Flanagan oder auch Kyle Perry in Prosa zu bannen weiß (die Nikolaus Hansen ins Deutsche übersetzt hat):

ein Wald voll großer Farne und heller Pilze, mit ebenem Boden und dickstämmigen Bäumen, klaren Bächen und kühlem Schatten, ein Wald von unergründlichen, geheimnisvollen Tiefen. Ein Ort mit dunkeläugigen Wallabys und feistgesichtigen Possums und flackernden Zaunkönigen und adlergroßen Raben und vorstellbaren Mengen von Kaninchen. Ein Ort, so gänzlich anders als Weideland, Flusslandschaft und Obstplantagen, dass Ned, als er anfing, sich seinen Weg durch diese Natur zu bahnen, die belaubte Erde hinter sich ließ und jener Version der Welt, wie er sie kannte, entschwebte.

Robbie Arnott – Limberlost, S. 98

Blut und Sonnenschein

Dass dieses Buch allerdings keineswegs die Verklärung einer Kindheit oder einer unberührten, romantischen Naturidylle ist, das macht Arnott auch klar. Wenn es in einer Passage des Buchs heißt, dass Blut und Sonnenschein Neds Tage erfüllten, dann bringt das auch die Programmatik dieses Romans gut auf den Punkt. Denn neben der jugendlichen Begeisterung für das Boot und das Tom Sawyer-artige Durchstreifen der Landschaft erzählt Limberlost auch von den Brüchen, von der Allgegenwart des Todes, etwa in Form des blutigen Handwerks der Kaninchenjagd oder des aus der Ferne grüßenden Geschehens auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs.

So muss Ned im Lauf seines Lebens nicht nur den Traum des eigenen Schiffes beerdigen, ohne an dieser Stelle weitere Volten der Handlung vorwegnehmen zu wollen. Ebenso wie Limberlost von Idealen und Paradiesen erzählt, findet auch eine Zerstörung dieser Paradiese statt. Immer wieder bricht die erwachsene Welt des Abschieds in die kindliche Welt der Idylle dort in Tasmanien ein.

Das verleiht dem Buch Tiefe und kontrastiert die Welt Neds auf hervorragende Art und Weise, sodass dieses Buch für eine wirklich große Leserschaft eine Empfehlung verdient

Fazit

Robbie Arnotts Einstand namens Limberlost ist ein bittersüßes, melancholisches, lebenspralles, ebenso sinnliches wie luzides Werk, mit dem er sich schon jetzt einen Platz auf der literarischen Landkarte Tasmaniens sichert. Eine wirklich Entdeckung, die Lust macht auf weitere Titel aus seiner Feder!


  • Robbie Arnott – Limberlost
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen
  • ISBN 978-3-8270-1490-0 (Berlin-Verlag)
  • 288 Seiten. Preis: 24,00 €
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Richard Russo – Von guten Eltern

Zurück in North Bath. In seinem mittlerweile dritten Roman, der in der fiktiven US-amerikanischen Kleinstadt angesiedelt ist, lässt Richard Russo Kinder sich mit ihren Eltern auseinandersetzen, treffen ganz unterschiedliche Bewohnerinnen und Bewohner von North Bath aufeinander und zerplatzen manch große Erwartungen. Wieder gelingt Russo mit Von guten Eltern eine tolle Sezierung des Kleinstadt-Bürgertums und damit auch der amerikanischen Seele, die diesmal allerdings etwas braucht, bevor sie in Fahrt kommt.


Nachdem der Kölner Dumont-Verlag zuletzt Backlist-Pflege betrieb und mit Mohawk den Debütroman aus dem Schaffen Richard Russos veröffentlichte, gibt es nun mit Von guten Eltern wieder einen neuen Roman zu lesen, den das Thema des Kleinstadtromans mit dem Frühwerk aus dem Jahr 1986 verbindet.

Auch wenn mit knapp vierzig Jahren viel Zeit zwischen den Romanen vergangen ist, so teilen das erste und das neueste Werk über die Zeit hinweg viele Dinge miteinander. So ist es die Form des Kleinstadtromans, die Russo auch hier wieder aufgreift und mit der er zum inzwischen dritten Mal zurückkehrt in das kleine fiktive Städtchen North Bath, das sich weiterhin im Niedergang befindet.

Bekannte Figuren in bekannter Umgebung

Mittlerweile ist das Städtchen sogar soweit heruntergewirtschaftet, dass es vor der Eingemeindung mit ewigen Rivalen, dem ungleich prosperierenderen Schuyler Springs, steht. Allen voran Charice Bond, die Freundin des im zweiten North-Bath-Romans Ein Mann der Tat im Mittelpunkt stehende Polizeichef Douglas Raymer, ist von diesen Neuerungen betroffen, soll sie doch neue Polizeichefin in Schuyler Springs werden.

Richard Russo - Von guten Eltern (Cover)

Sie ist wie auch Douglas Raymer eine der zentralen Figuren, die Russo hier über vier Tage hinweg aufeinander treffen, sich verstehen und missverstehen lässt. Daneben gesellt sich eine weitere Riege typischer Russo-Figuren zu dem Ganzen, etwa der aus dem ersten North Bath-Roman Ein grundzufriedener Mann bekannte Donald „Sully“ Sullivan, der aber schon kurz nach Beginn des Romans stirbt, woraufhin sein Sohn Peter den Platz seines Vaters einnimmt.

Auch ein Dinner als Bühne der großen und kleinen Dramen des Lebens spielt wieder eine Rolle, das hier allerdings nicht auf den Namen Mohawk-Dinner hört. Geführt wird es von Janey, die wiederum mit einem Polizisten liiert ist, über den diesmal auch das Thema der Polizeigewalt in den Roman hineinfindet.

Von Kindern und ihren Eltern

Neben solchen Themen ist es vor allem das Thema der generationalen Konflikte und Verhaltensmuster, das Richard Russo in diesem Roman interessiert. Denn nicht nur Peter Sullivan kämpft darum, sich von dem väterlichen Erbe zu emanzipieren, um dann dem Schicksal doch nicht wirklich entkommen zu können.

Die Diner-Besitzerin Janey findet sich gleich in Sandwich-Position zwischen Sorgen um ihre Tochter Tina und ihre Mutter Ruth. Und selbst, wenn da keine Eltern präsent sind wie im Falle des nun abdankenden Polizeichefs Douglas Raymer, dann sind auch da Prägungen, die dieser dann eben durch die mittlerweile verstorbene Lehrerin Miss Beryl erfährt. Ihrer Erziehung und einem programmatischen Buchgeschenk in Form von Charles DickensGroße Erwartungen wird dem Polizeichef an diesem besonderen Wochenenden nicht entkommen können.

Prägungen

Prägungen, vorgelebte Rollenmuster und vergebliche Versuche der Emanzipierung durchziehen Von guten Eltern. Bis diese Muster dann so wirklich zur Geltung kommen, vergeht hier einige Zeit, die Russo für seine Exposition benötigt. Und statt sich auf eine Figur zu konzentrieren, entscheidet sich Russo diesmal für einen multiperspektivischen Erzählansatz, in dem ein halbes Dutzend an Figuren gleichberechtigt nebeneinandersteht und immer wieder die Handlung der anderen Kapitel unterbricht, ehe zu Interferenzen zwischen den Erzählungen kommt.

Da gerät der zu untersuchende Suizid, der sich in einem heruntergekommenen Hotel zugetragen hat, das auf den schön ironischen Namen Sans Souci hört, fast zur Nebensache.

Alles das sind erzählerische Entscheidungen, die mich nicht so einfach durch die Seiten fliegen ließen, wie es Russo bei seinen anderen Bücher durchaus schon gelungen ist. Natürlich ist auch hier viel Wärme für seine schrulligen Figuren, guter Sinn für Humor und Skurrilität, aber durch die Fülle an Personal fehlt Von guten Eltern manchmal etwas von dieser Leichtigkeit, die Richard Russos Schreiben sonst kennzeichnet.

Fazit

Als Fortführung seines North-Bath-Zyklus ist Von guten Eltern auch ohne Kenntnis der anderen beiden Bände sehr gut zu lesen, gibt es doch innerhalb der vier Tage viel Abwechslung, Chaos und Turbulenzen. Aber über das Niveau der ersten beiden, ganz großartigen Bände, kommt Russos dritte Stippvisite in der fiktiven Kleinstadt nicht hinaus. So haben sich meine großen Erwartungen an das Buch ein Stück weit zerschlagen.

Das ist überhaupt nicht schlimm, sind diese vorher genannten Werke von Richard Russo doch in der oberen Liga amerikanischer Gegenwartsliteratur angesiedelt. Und auch dieser Roman bewegt sich wieder im Spannungsfeld der üblichen Figuren und Kleinstadtdramen – aber wirklich Überraschendes für seine Fans und Afficionados weiß Richard Russo hier leider nicht aufzubieten.


  • Richard Russo – Von guten Eltern
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN 978-3-8321-6813-1 (Dumont)
  • 576 Seiten. Preis: 28,00 €
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Kristin Höller – Leute von Früher

„Alles Kulisse! Alles Fassade! Alles falsch und verlogen und ohne dich so leer.“ Das stellt Florian Paul und die Kapelle der letzten Hoffnung in seinem Chanson „Bella Maria“ ernüchtert fest. Darin beschäftigt sich der Sänger mit dem mit dem Abgleich von Italiensehnsucht und der Realität vor Ort, die noch einmal trister wird, wenn der richtige Partner an der Seite fehlt.

Von der Entzauberung solcher Paradiese, dem Geschehen hinter den Kulissen und dem Auffinden von Menschen, die vermeintlichen flachen Fassaden Tiefe geben, davon erzählt Kristin Höller in ihrem zweitem Roman Leute von früher.


Strand, so funktional ist die fiktive Nordseeinsel betitelt, auf der das Geschehen von Leute von früher fast ausschließlich spielt. Marlene ist hierhergekommen, im Gepäck nur wenig außer eines Geburtstagskuchen und der Hoffnung, nicht nur räumlich etwas Abstand zu ihrem bisherigen Leben und den erprobten Abläufen darin zu gewinnen.

Sie stand auf und trat dicht an die Fensterscheibe, Zweifachverglasung, frisch gekittet. Davor ein knospender Strauch, der die Fischräucherei gegenüber verdeckte. Der Schornstein raucht schon, vor der Tür stand ein Kreideschild mit den Spezialitäten des Tages. Rechts davon die Webstube und die Tischlerei, weit im Dorfinneren das Teehaus, das Marlene an ihrem ersten Arbeitstag gereinigt hatte. Hinter den Häusern erhob sich der Deich, ein müder, grüner Hügel.

Kristin Höller – Leute von früher, S. 40 f.

Maritimes Lagerleben

Als Saisonarbeitskraft ist sie Teil eines großen Schauspiels, das für die Besucherinnen und Besucher der Nordseeinsel aufgeführt wird. Innerhalb eines Radius tragen alle Arbeitskräfte Kostüme und wirken an einer Art historischen Re-Enactment mit, das auf Geheiß des lokalen Patrons Jahr für Jahr gegeben wird. Die Regeln des Spiels erinnern dabei fast an die Amish-Gemeinde. Keine Handys oder moderne Technik vor den Augen der Gäste, kein Ablegen des Kostüms innerhalb des Bannkreises, Begegnungen mit anderen Arbeitenden nur außerhalb des normalen Betriebs. Alles soll eine perfekte Fassade sein, Brüche sind hier nicht erwünscht.

Kristin Höller - Leute von früher (Cover)

Und so wird auch Marlene Teil des maritimen Lagerlebens, der dieser Job angesichts einer großen Orientierungslosigkeit in ihrem momentanen Leben gerade recht kommt. Gemeinsam richten die Inselbewohner*innen alles her, schrubben und stellen die Stühle auf, damit das Bild für die Gäste möglichst perfekt ist.

Gewandet in eine Kostüm aus dem Fundus der Ausstatterin fügt sie sich in das Bild ein. Mit der Funktionsbezeichnung Kramladen Verkauf/Bäuerin versehen, soll Marlene in einem Laden Fruchtgummis, Cookies und Sirup verkaufen. Dass das alles ebenso wenig authentisch wie die Bezeichnung selbstgemacht ist, ist dabei eigentlich nur zweitrangig. Es geht ja um die stimmige Simulation – oder in den Worten Florian Pauls und seiner Kapelle: Alles Kulisse! Alles Fassade!

Tiefe bekommt diese platte Kulisse erst durch das Auftauchen von Janne. Sie, die in der gegenüberliegenden Räucherei arbeitet, kennt Strand schon von Kindesbeinen an und ist jenes Teil des Bildes, das aus dem Ganzen herausragt. Immer mehr nähern sich Marlene und Janne an – und beginnen eine Romanze, die allerdings auch den wahren Charakter von Strand offenlegen wird.

Gestrandet auf Strand

Kristin Höller gelingt mit Leute von früher ein Roman, der wie ein Gegenentwurf zu Möwen- und Reetdachkitsch der Nordsee wirkt. Sie blickt hinter die Seele der Dinge, indem sie von der Sinnlosigkeit des Theaterzaubers für Touristen erzählt. Die ganze Leere, der hinter der Folklore des historischen Erlebnisdorfs aufscheint, wird bei ihr ebenso erfahrbar wie die neue Welt, die mit dem Auftauchen Jannes Einzug hält.

Mit großem Gespür für Sinnlichkeit und alle Formen von Texturen erzählt die 1996 geborene Autorin vom Annäherungsprozess von Janne und Marlene, von der Aufregung des Umeinanderwerbens und auch von den Brüchen, die schon zu Beginn einer solchen Romanze immer wieder auftreten.

Ganz oft wird hier Begehren und Aufmerksamkeit ins Essen übersetzt, ist Kulinarik die Sprache der Romantik und können die ganzen Nahrungsmittel dort im Norden, angefangen vom Seespargel bis hin zur geräucherten Makrele, noch so viel mehr als reine Speisen darstellen.

Höller verbindet diese Kulinarik Strands mit der queeren Romanze mit der maritimen Folklore bis hin zur Sage um Rungholt und dessen Auswirkungen, die auch heute noch Touristen und Einheimische umtreiben. So gelingt ihr ein Roman irgendwo zwischen norddeutschem Schauermärchen, Theaterzauber, Sinnlosigkeit und den Möglichkeiten, die aus der Begegnung der zwei Frauen dort erwachsen. Aus der Ferne grüßt Theodor Storm ebenso wie C Pam Zhang, ist die Klimakrise ebenso eingeschrieben wie die Lebens- und Erfahrungswelt der Millenials

Fazit

Mit ihrem zweiten Roman Leute von früher gelingt Kristin Höller eigenwilliges, hervorragend zu lesendes und vielstimmiges Buch voller Kulissen und Risse in den Fassaden, die auch schon das grandios gestaltete Cover vorwegnimmt.


  • Kristin Höller – Leute von früher
  • ISBN 978-3-518-47400-6 (Suhrkamp)
  • 316 Seiten. Preis: 22,00 €
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Maria Borrély – Das letzte Feuer

Die (Wieder-)Entdeckung von Maria Borrély geht weiter. Nachdem der Kanon-Verlag im letzten Jahr erstmalig den Roman Mistral der deutschen Leserschaft zugänglich machte, gibt es nun mit Das letzte Feuer ein weiteres Werk aus dem Schaffen der vergessenen französischen Autorin zu bestaunen – abermals übersetzt von der Borrély-Entdeckerin Amelie Thoma.


Dass in öffentlichen Bücherschränken veritable Überraschungen bereithalten können, das bewies die Geschichte hinter der deutschen Übersetzung von Maria Borrély Roman Mistral im vergangenen Jahr eindrücklich. Die Übersetzerin Amelie Thoma hatte das Werk der hierzulande völlig und in ihrer Heimat zumindest weitgehend unbekannten Autorin in einem offenen Bücherschrank in einer Kneipe in der Provence entdeckt, wo Thoma regelmäßig ihren Urlaub verbrachte.

Ihre Übersetzung des ebenso sinnlichen wie kraftvollen Buchs aus der Haute-Provence erwies sich als Erfolg, weshalb der Kanon-Verlag nun mit Das letzte Feuer einen weiteren Roman aus der Feder Maria Borrélys in deutscher Übersetzung von Amelie Thoma veröffentlich. Und ähnlich wie in Mistral finden auch hier wieder alle Zutaten zusammen, die Borrélys Schreiben auszeichnen: die Kraft der Natur und deren Lauf, dazu menschliche Schicksale, die in die geradezu archaische Natur eingebettet werden.

Ein typischer Roman von Maria Borrély

So vereint schon der erste Satz ihres 1931 erschienen Romans all das, was das Buch im Folgenden kennzeichnen wird:

Im wilden Duft des Buchsbaums, unterhalb des Dorfes und von weiter oben kommend, liegt gewunden wie eine Schlange dieses Schreckenstal der Terre-Rompues mit dem Riou-Sec, der alles Land der Bewohner von Orpierre-d’Asse gefressen hat.

Maria Borrély – Das letzte Feuer, S. 8

Wie schon in Mistral ist auch hier die Natur einmal mehr der eigentliche Hauptdarsteller, der bei Maria Borrély seinen großen Auftritt bekommt. Bislang hat es die Natur mit den Bewohner*innen des Dorfes Orpierre-d’Asse alles andere als gut gemeint.

Gemeinsam versuchen die Bergbewohner*innen dem steinigen Boden dort oben so gut es geht etwas abzutrotzen. Aber dennoch bleibt die Ausbeute der Felder und der Tierzucht mehr als mager. Schmalhälse werden die Bewohner*innen von Orpierre-d’Asse in den umliegenden Dörfer geheißen. Hunger und Mangel sitzen bei allen Mahlzeiten stets mit am Tisch.

Karges Leben am Berg, fruchtbares Leben im Tal

Doch mit dem kargen Leben am Berg ist es schon bald vorbei und das Leben in Armut nur noch eine ferne Erinnerung für die meisten der Schmalhälse. Denn diese haben fast alle nacheinander den Abstieg ins Tal gewagt, wo die Asse in ihrem Bett ruht.

Das Leben dort unten scheint deutlich leichter und erträglicher zu sein. Der Fluss sorgt für fruchtbare Böden, das Getreide gedeiht ebenso wie die Tierzucht. Man hat sich dort Häuser gebaut und genießt den Reichtum des neuen Lebens, was Maria Borrély mit ihrer kraftvollen Prosa anschaulich zu schildern vermag.

Durch die Fenster mit den halb geschlossenen Läden hört man Kaninchenpfeffer und Ragouts brutzeln und die Kutteln auf großem Feuer brodeln. Der Schmorbraten riecht nach Pfifferlingen. Man ruft einander von einem Fenster und einer Tür zur anderen. Mädchen im Rock, ein Tuch über den bloßen Schultern, spülen am Brunnen die Karaffen, die sie mit Sand geschmirgelt haben, waschen die Winterendivien. Man öffnet Trüffelkonserven aus Montagnac und Puimoisson.

Maria Borrély – Das letzte Feuer, S. 44

Schönheit und Zerstörung

Lebensklug stellt Pélagie, eine von Borrélys Hauptfiguren, am Ende des Buch fest, dass es sich mit der Zeit wie mit der Asse verhält. Beide hinterlassen Zerstörung auf ihrem Weg. Und von beidem versteht es Maria Borrély, klug zu erzählen.

Maria Borrély - Das letzte Feuer (Cover)

Sowohl den Gang der Natur auch den Gang des Lebens fängt Das letzte Feuer hervorragend ein. So altern ihre Figuren innerhalb der wenigen Seiten (knapp 130 an der Zahl) deutlich. Sterben und Leben, Umzug und Neubeginn sind Themen, die den Roman durchziehen.

Alles drängt hin zur Erneuerung, zum besseren Leben und einer Abkehr von den Entbehrungen des Lebens, die man dort oben am Berg zurückgelassen hat. Dies führt mitunter zu kuriosen Szenen, etwa als in der Euphorie des Neubeginns sogar die Kirche von ihrem angestammten Ort oben auf dem Berg ins Tal versetzt wird.

Nur Pélagie Arnaud und ihre Ziehtochter Berthe nehmen nicht Anteil an diesem neuen Leben. Pélagie harrt dort oben im Dorf aus, ihr ist die Nähe des umgezogenen Dorfs zur nahen Asse nicht wirklich geheuer. Und selbst als Berthe auszieht und selbst eine Familie gründet, bleibt Pélagie im Dorf zurück.

Die Zähmung der Natur als Ausgangspunkt für die Katastrophe

Es spricht aus ihrem Verhalten die Verbundenheit zum alten Dorf genauso wie ein Misstrauen gegen den neuen Komfort und die trügerische Idylle, den die Tallandschaft mitsamt der Asse bietet. Ein Misstrauen, das sich im Verlauf des Buches noch bestätigen wird…

Hier kommt dann der zweite Aspekt der Feststellung der erfahrenen Pélagie zum Tragen, denn Das letzte Feuer erzählt auch von der Katastrophe, den der Eingriff in die Ökologie bedeutet. Die Besiedelung von flussnahem Gebiet und einer Unterschätzung der Kräfte der Natur führt hier zur Katastrophe, die auch in die Gegenwart verweist.

Man kann Das letzte Feuer nicht lesen, ohne an Flutkatastrophen wie etwa die Ahrtal-Überflutung vor wenigen Jahren zu denken. Der Versuch der Menschen, sich mit den Gegebenheiten der Natur zu arrangieren und diese für eigene Zwecke zu zähmen, er findet nicht nur in Maria Borrélys Roman keinen guten Ausgang und ist damit nicht nur in unserer Gegenwart aktuell, sondern wird auch in einer Zukunft mitsamt der möglichen Klimakatastrophe an Brisanz gewinnen.

Fazit

Zwar vermisst man ein einordnendes Nachwort in Das letzte Feuer ebenso wie das damalige Vorwort ihres Schriftstellerkollegen Jean Giono, von dem nur noch ein Zitat auf dem Cover dieser Ausgabe zeugt. Dieser kleine Makel wird aber von der Freude über die Entdeckung dieser so kraftvollen Autorin, die nach wie vor gültige Brisanz ihrer Prosa und die nuancenreiche Übersetzung durch Amelie Thoma bei Weitem überwogen. Es bestätigt sich eindrücklich: die (Wieder-)Entdeckung dieser Autorin ist ein großer Glücksfall!


  • Maria Borrély – Das letzte Feuer
  • Aus dem Französischen von Amelie Thoma
  • ISBN 978-3-98568-113-6 (Kanon-Verlag)
  • 128 Seiten. Preis: 20,00 €
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Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff

Ein Schiff, ausgelegt für zweitausend Passagiere, belegt nur mit einer Handvoll Menschen, die ihre Kabinen kaum verlassen dürfen. Ausgewiesene Personen allesamt, die im neuen Russland unter Trotzki keinen Platz mehr haben. Und unter ihnen die junge Anouk, die einem Schriftsteller namens Michael Köhlmeier in Das Philosophenschiff ihre Lebensgeschichte erzählt und so die Erfahrungen nach der Oktoberrevolution in Russland noch einmal lebendig werden lässt.


Einen guten, wenn auch etwas windigen Ruf als Schriftsteller als Schriftsteller habe er, Michael Köhlmeier. Stets sei sein Umgang mit Realität und Fiktion etwas eigen – was ihn zum perfekten Kandidaten für ihr Vorhaben mache, ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen. So eröffnet es ihm die fast hundertjährige Architekturprofessorin Anouk Perleman-Jacob, die Köhlmeier zu ihrem Geburtstag in ihre Villa nach Hietzing eingeladen hat, wo sich zahlreiche höhergestellte Persönlichkeiten einfinden, darunter sogar der Vizekanzler der Alpenrepublik.

Eine russische Scheherazade

Er möge am nächsten Tag noch einmal zu ihr nach Hause kommen, dann werde sie ihm die Geschichte erzählen. So lockt die 1908 in St. Petersburg geborene Frau den Schriftsteller zu sich, der tatsächlich auf eine Heimreise nach Vorarlberg verzichtet und sich so in einer fast an eine Scheherazade erinnernden Erzählung der betagten Dame wiederfindet.

Denn einst wurden ihre Eltern von Trotzki aus Russland ausgebürgert. Er ein renommierter Architekt, sie eine Ornithologin, beide mit Sympathien für die Bolschewiki – und dann die Tochter, die zusammen mit den Eltern im Alter von nur 14 Jahren aus Russland ausreisen musste.

Zusammen mit einer Handvoll andere kritischen Stimmen wurde die Familie in St. Petersburg auf ein Schiff gebracht, welches die unliebsamen Denker*innen aus dem neuen Russland nach der Oktoberrevolution entfernen sollte. Dort fand sich Anouk Perleman-Jacob in einer wirklich gespenstischen Atmosphäre wieder. Denn den Passagier*innen war es untersagt, sich längere Zeit außerhalb der Kabinen aufzuhalten, der Service auf dem eigentlich für zweitausend Gäste ausgelegten Schiff blieb unsichtbar. Doch bei ihren heimlichen Streifzügen stieß das junge Mädchen dann auf einen ganz besonderen Gast, wovon sie dem lauschenden Schriftsteller in einigen Etappen erzählt.

Vom Entgleisen linker Ideen

Das Philosophenschiff ist ein Roman, der vom Entgleisen linker Ideen erzählt. Lenin, Trotzki und später Stalin, das totalitäre Denken der Machthaber und die omnipräsente Furcht, die unter ihrer Herrschaft zunehmend um sich griff und in der schon so etwas Harmloses wie ein Gedicht Grund für eine Verhaftung oder gar Exekution sein konnte, all das scheint in den Erinnerungen Anouk Perleman-Jacobs auf.

Michael Köhlmeier - Das Philosophenschiff (Cover)

Die beklemmende und schon fast kafkaeske Atmosphäre der Familie vor der Deportationen und danach dann auf dem antriebslosen Schiff im Finnischen Meerbusen, die Verzweiflung der Menschen, Suizide und die ständig lauernde Gefahr, all das sind Erinnerungen, die Köhlmeier und seine Auftraggeberin gemeinsam durchwandern.

Durch die Klammer der Scheherazade erlebt diese Rekapitulation der damaligen Zustände, die aus der brutalen Geschichte Russlands erwuchsen, noch eine weitere Ebene. Denn Köhlmeier befasst sich während seiner nachmittäglichen Unterhaltungen mit der greisen Dame auch mit deren Hintergrundschichte und ihrem Umfeld.

Dieses hält ebenso wie seine eigene Geschichte Anknüpfungspunkte zu linkem Terrorismus und den entgleisten linken Ideen bereit. So umweht die Freundin, Betreuerin und ehemalige Studentin Anouk Perleman-Jacobs die Fama von Terrorismus in den USA – und auch Köhlmeiers Bekannter aus Studentenzeiten sympathisierte als Mitglied des KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschlands) einst mit linken Diktatoren wie Stalin oder Pol Pot. Dieser Bekannte erlebte dann sogar die Androhung einer Liquidation am eigenen Leib – womit sich wieder der Bogen zu den Geschehnissen in Russland unter Trotzki schließt, waren Attentate und staatliche Exekutionen doch ein Merkmal jener Zeit nach der Oktoberrevolution.

Erinnerungen und wie man sich diese vom Leib hält

Neben solchen großen Bögen in einem doch recht schmalen Buch ist Das Philosophenschiff auch ein Buch über Erinnerungen und darüber, wie man sie sich vom Leib zu halten versucht. Denn das Gedächtnis, es ist ein „ineffektives Gerät“, wie Anouk Perleman-Jacob im Gespräch mit Köhlmeier feststellt, der auch selbst mit dem autofiktionalen Erzählrahmen die Grenzen zwischen Fakt und Wirklichkeit verwischt, ganz wie es die Architekturprofessorin von ihm behauptet hat.

Welche Erinnerungen lassen wir zu, mit welchen Behauptungen und imaginierten Wahrheiten schützen wir uns selbst? Das führt Köhlmeiers Roman hervorragend vor, auch wenn das Buch noch etwas mehr erzählerisches Fleisch auf den Rippen verdient hätte. So kennzeichnen Andeutungen, Abschweifungen und Exkurse etwa über Begehren oder Küchenbrutzeleien den Roman, der seine eigene Geschichte des Schiffs mit seiner besonderen Besatzung immer mal wieder aus den Augen zu verlieren droht, in meinen Augen dann aber doch noch die Kurve bekommt, bevor die Erzählung dann abbricht. Köhlmeier könne sich die übrigen Lücken in der Geschichte ja zusammenreimen könne, so die etwas schroffe Aussage der Architektin am Ende des Buchs.

„Nun ist meine Geschichte zu Ende. Den Rest können Sie sich zusammenreimen aus den Stücken, die ich Ihnen bereits erzählt habe. Wenn Ihnen das nicht genügt, fragen Sie Alice, sie gibt Ihnen gern Auskunft. Aber vergessen Sie nicht, wer Sie sind: Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt.“

Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff, S. 221

Fazit

Ich hätte lieber noch von Anouk Perlemann-Jacob selbst diese Lücken gefüllt gesehen, aber auch so ist Das Philosophenschiff ein starker Roman über das, was passiert, wenn sich Ideen verselbstständigen und gute Theorien in besorgniserregende Praktiken kippen. Der Umgang mit Eliten und Erinnerungen, die gewaltgesättigte Vergangenheit Russlands, das Schiff und die Scheherazade, die Revolution und das junge Mädchen – all das sind Themen, die der österreichische Vielschreiber Michael Köhlmeier in diesem Roman voller doppelter Ebenen lesens- und nachdenkenswert umkreist.

Mehr Stimmen zu Das Philosophenschiff gibt es im NDR, bei der Frankfurter Rundschau, im SWR und bei Deutschlandfunk Kultur.


  • Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff
  • ISBN 978-3-446-27942-1 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 24,00 €
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