Suzette Mayr – Der Schlafwagendiener

Kanada, 1929: Einmal mit dem schnellsten Zug des Landes von Montreal im Osten bis an die Westküste nach Vancouver. 5000 Kilometer per Zug im Schlafwagenabteil. Könnte eigentlich ein glamouröses Unterfangen á la Mord im Orientexpress werden, wenn man nicht gerade dort für den Komfort der anderen Gäste an Bord zuständig wäre, so wie es Der Schlafwagendiener in Suzette Mayrs gleichnamigen Roman ist.


Baxter übernimmt den Wagen Renfrew, Linie 2501, Zug 2, Abfahrt 23:00 Uhr. Irgendein hohes Tier hat diesen Wagen nach einem anderen hohen Tier Renfrew genannt. Der Wagen muss um 22:00 Uhr für die Aufnahme von Passagieren bereit sein. Es handelt sich um einen Acht-zwei-eins-Schlafwagen: acht offene Kojenabschnitte, zwei geschlossene Abteile, ein Salonabteil, ein Herren- und ein Damenwaschraum. Insgesamt dreiundzwanzig Betten. Von Montreal nach Vancouver. Die schnellste Überlandbahn des Kontinents.

Suzette Mayr – Der Schlafwagendiener, S. 37

Dass das Leben eines Schlafwagendieners nichts mit Luxus und entspanntem Reisen zu tun hat, das zeigt Suzette Mayr schon auf den ersten Seiten dieses Romans. In einer Art vorgeschalteter Einführung zeigt sie den Job des Schlafwagendieners Baxter auf der Strecke von Toronto nach Winnipeg.

Anspruchsvolle Gäste, Schlafkojen, die vorbereitet sein wollen, Geringschätzung für sein Tun, die ihm immer wieder entgegenschlägt. Das kennzeichnet Baxters Tun – und zu allem Überfluss ist da auch noch das Handbuch für Schlafwagendiener, das dutzende Arten von Vergehen kennt, denen sich ein Schlafwagendiener schuldig machen kann. Vergehen, die mit Strafpunkten bedacht werden und die bis hin zur fristlosen Entlassung reichen können. Dabei ist der Schlafmangel noch gar nicht erwähnt, gegen den sich Baxter wehren muss, soll sein Service doch auf ein einfaches Klingelsignal hin eigentlich rund um die Uhr zur Verfügung stehen.

Von Montreal nach Vancouver

Suzette Mayr - Der Schlafwagendiener (Cover)

Genauer kennenlernt man diesen Baxter dann auf der zweiten Tour, die den Hauptteil des Romans ausmacht. Diese führt einmal quer durch Kanada und beschert dem Schlafwagendiener eine ganze Reihe an illustren und schwierigen Gästen, die er in seinem Abteil betreuen muss. Da sind okkultistisch begeisterte Damen, ein frischverheiratetes Paar, ein Mann, der im Verdacht steht, eine illegale Passagierin in seinem Abteil zu beherbergen, eine Großmutter mit ihrer sehr klammernden Enkelin ein von Baxter nur „Judy“ und „Punch“ getauftes Paar, bei dem er Baxter mit Fragen über die pünktliche Ankunftszeit und sie ihn mit Klagen über eine angebliche zu kalte Temperatur malträtieren.

Beständig schlägt ihm Verachtung entgegen, ist er nur der „Diener“ oder der „Boy“ und muss achtlos beschmutzte Handtücher aufheben, Betten machen und die Passagiere beruhigen – stets mit der Furcht im Hinterkopf, er könnte seine Gäste zu Beschwerden animieren und deshalb besonders servil.

„Verhalte dich wie im Zug wie ein Automat auf dem Rummelplatz“, sagte Edwin Drew einmal und rückte Baxters Kragen zurecht. „Setz dieses besondere Lächeln auf, je breiter, desto besser, drück auf den Knopf, schalt es ein, aber gib nicht den Onkel Tom. Nicht grinsen. Singe, tanze, mache Zaubertricks, wenn sie dich darum bitten. Vielleicht auch noch was anderes, falls es genug Geld bringt, aber spiel nicht den Onkel Tom.

Suzette Mayr – Der Schlafwagendiener, S. 214

Flashbacks und Erinnerungen

Die Erinnerungen an seinen Ausbilder Edwin Drew befallen Baxter bei seiner Reise immer wieder. Denn der Ausbilder hat Baxter nicht nur als Ausbilder geprägt. Auch sein Begehren für Männer hat der junge Schwarze hier zum ersten Mal ausleben können. Besonders nach dem zufälligen Fund eines pornographischen Bildes erwacht sein Begehren, angefacht durch Flashbacks an seine Momente mit Drew. Zudem quälen ihn durch Ermüdung hervorgerufene Halluzinationen und das beständige Mitrechnen des potentiellen Trinkgelds für seine Dienste, das ihm seinem elementaren Wunsch etwas näherbringt.

Denn eigentlich möchte Baxter Zahnarzt werden – doch noch fehlt etwas Geld für sein Studium. Und so kämpft er sich weiter durch den Gang seines Abteils, beschwichtigt seine Gäste und versucht krampfhaft, jegliches Fehlverhalten zu vermeiden, aber auch nicht den Onkel Tom zu geben.

Suzette Mayr gelingt mit Der Schlafwagendiener ein Text, der nicht in Verklärung des Bahnreisens absinkt. Sie zeigt die erniedrigende Arbeit der Schlafwagendiener, die man eigentlich korrekterweise eher Ausbeutung nennen müsste und die den Luxus der anderen Gäste erst ermöglicht. Gelungen verschränkt sie kleine Rückblenden auf Baxters Herkunft und Werdegang sowie seine Homosexualität mit und einem klaren Porträt der Klassengesellschaft (womit dieser Roman doch weniger Mord im Orientexpress denn Snowpiercer ist). So entsteht analog zum schnellen Vorüberziehen der Städte und Szenerien hier auch eine Seelenlandschaft ihres Helden, in der auch immer wieder sprachlich gelungene Bildern aufblitzen, etwa wenn bemerkt, dass die aufgrund des Schlafmangels und der seelischen Zerrüttung ihres Helden dessen Augen so trocken wie eine Bergspitze sind.

Fazit

Der Schlafwagendiener ist ein unterhaltsamer Roman, der zugleich einen gesellschaftliche Oberklasse-Mikrokosmos Ende der 20er Jahre abbildet, der vom Vaudeville-Künstler bis zur stickenden Dame reicht. Zugleich illustriert Suzette Mayr neben diesem reichhaltigen Bild des Luxus im Zug auch die Klassenunterschiede und die Verachtung, die dem durch seine Hautfarbe und Sexualität gleich zweifach stigmatisierten Schlafwagendiener Baxter wiederfährt. An Bord dieses Zugs wird die Erste und Zweite Klasse der Gesellschaft mehr als deutlich – wobei dem aufrichtigen und stets bemühten Baxter eindeutig die Sympathien gelten.


  • Suzette Mayr – Der Schlafwagendiener
  • Aus dem Englischen von Anne Emmert
  • ISBN 978-3-8031-3357-1
  • 240 Seiten. Preis: 25,00 €
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Amir Gudarzi – Das Ende ist nah

Vor den Protesten im Iran geflohen findet sich A. in Österreich wieder, wo er zum neuen Mensch wird und am Umgang des Landes mit Geflüchteten zu verzweifeln droht. Das Ende ist nah von Amir Gudarzi schafft eindrucksvoll einen Perspektivwechsel, zeigt die Unmenschlichkeit im Umgang mit Geflüchteten auf, erzählt vom iranischen Regime und zeigt, welche beeindruckende Lebensleistung Amir Gudarzi selbst erbracht hat.


Ende August 2015 schaffte es ein ganz besonderer Song an die Spitze der Österreichischen Charts. Wer den Song des Künstlers Raoul Haspel anhörte, der hörte – nichts. Haspels Song Schweigeminute (Traiskirchen) umfasste eine Minute lang Stille. Mit dem Werk wollte der Künstler auf die Zustände im niederösterreichischen Erstaufnahmelager Traiskirchen hinweisen, dem Amnesty International eklatante Mängel an der Grenze zur Menschenrechtsverletzung nachwies, und das mitten in Österreich. Ein Plan der aufging, war das Interesse und Mitgefühl der Zivilgesellschaft auf dem Höhepunkt der „Flüchtlingskrise“ 2015 noch deutlich ausgeprägter, als es heute in Zeiten von Pushbacks und dem Geschachere um Verteilungskontingente geflüchteter Menschen ist.

Liest man Amir Gudarzis Debütroman, werden unweigerlich Erinnerungen an die katastrophalen Zustände im Lager damals wieder wach. Denn auch Gudarzis Ich-Erzähler erlebt all diese Zustände selbst mit. Das aber noch vor der großen Krise von 2015, vielmehr spielt sein Roman zum überwiegenden Teil im Jahr 2009, als der vor dem Regime im Iran geflohene Erzähler in Österreich ankommt.

Vom Iran nach Traiskirchen

Von seinem Vorleben berichtet der Ich-Erzähler in der distanzierten Form eines personalen Erzählers, der in Rückblenden immer wieder von A. erzählt, der sich an den Protesten in Teheran engagierte.

Mit der Zeit realisierte er, wie verbreitet der Aberglaube war. Iran ist ein Land, das auf den ersten Blick modern wirkt, aber unter der Oberfläche mittelalterlich ist.

Amir Gudarzi – Der Anfang ist nah, S. 192

Das brutale Vorgehen der Milizionäre und Revolutionsgarden gegen jegliches Aufbegehren für einen anderen Staat, die Allgegenwart der Gewalt und des sexuellen Missbrauchs, Steinigungen, an Kränen erhängte Menschen, Terror und Oppression des Mullah-Regimes, all das hat A. am eigenen Leib erfahren. Zwar studierte er in Teheran szenisches Schreiben und lieferte für eine religiöse Serie Drehbücher, doch diese Zeiten sind längst vorbei. Die religiösen Hardliner haben den jungen Studenten in den Blick genommen und bedrohen auch die Familie. So beschließt A. im Jahr 2009, mithilfe von Schleppern außer Landes zu fliehen. Er gelangt per Flugzeug in Österreich an, wo er auch mithilfe des erzählerischen Blickwechsels zu einem neuen Menschen werden möchte.

Doch die österreichische Gesellschaft macht ihm das alles andere als leicht, wovon der Erzähler eindrucksvoll berichtet. So wird er im Erstaufnahmelager Traiskirchen interniert, das auch schon vor den skandalösen Zuständen im Herbst 2015 überhaupt kein Ort der Humanität ist. Die Betreuung durch offizielle Stellen ist kaum vorhanden, die verschiedenen Ethnien im Haus belauern sich gegenseitig, Gewalt und Langeweile dominieren. Kontakte nach außen gibt es so gut wie gar nicht und so vegetiert auch der Erzähler vor sich hin, wird von der Polizei und den Behörden misstrauisch beäugt.

Kein fester Boden unter den Füßen

Amir Gudarzi - Das Ende ist nah (Cover)

Auch wenn er später das Erstaufnahmelager verlassen kann, so ändert sich an der grundlegenden Situation wenig. Wirklich festen Boden unter den Füßen verspürt er kaum. Die nervenzehrende Asylprüfung, prekäre Arbeitsverhältnisse, die seinen Status als Asylsuchender weidlich ausnutzen, all das ist dem psychischen Wohlbefinden des jungen Mannes alles andere als zuträglich.

Lediglich in Sarah findet der Erzähler eine Verbündete. Sie lernt er am Rande einer Demonstration kennen. Sie, die ihre Energie statt auf ihr akademisches Vorankommen gerade lieber auf die Menschenrechtssituation fokussiert und in den Sozialen Medien Aufklärungsarbeit betreibt, ist vom Kontakt mit dem Erzähler fasziniert. Doch auch dieses Verhältnis wandelt sich. Beide suchen in der Beziehung zueinander Unterschiedliches, Sarah möchte die antisemitischen Ressentiments des Erzählers heilen, er hadert mit der Abhängigkeit von Sarah. Sonderlich gut tun sich die beiden gegenseitig nicht, in einem langen Brief versucht Sarah ihr sich wandelndes Verhältnis und die eigenen Wandlungen klarzumachen.

Beharrlichkeit, Gestaltungswille und Vertrauen in die Kraft der Sprache

Amir Gudarzi ist ein Werk, das eindrucksvoll klarmacht, welches Schicksal jene Menschen erlitten haben, von denen wir hierzulande meist nur noch als anonymisierte Masse Geflüchteter sprechen. Sein Einzelschicksal macht klar, welcher Druck und welches Leid hinter dem Begriff der Geflüchteten stecken können. Er schon in seinen Darstellungen weder die Leser*innen, noch sich selbst. Erbarmungslos zeigt er die omnipräsente Gewalt in ihren Facetten auf, beschreibt die Auswirkungen der Depression, das Leben in ständiger Angst, die zu einer Abstumpfung der Seele führt. Er arbeitet den Bruch zwischen dem Leben im Iran und dem Dasein als Geflüchteter in Österreich heraus, schaut ebenso auf die unmenschliche Asyl-Maschinerie wie auf die (österreichische) Gesellschaft und deren Widersprüche im Umgang mit Geflüchteten.

Besonders beeindruckend ist über die Lektüre hinaus aber die Lebensleistung Gudarzis, dessen biographische Eckpunkte identisch mit denen seines Erzählers sind. So kam er 2009 als Geflüchteter in Österreich an, kämpfte sich in der Gesellschaft nach oben (nicht umsonst zeichnen auch die vier Kapitel den Aufstieg vom „Mezzanin“ im Iran bis zur Anerkennung als Geflüchteter in der „Vierten Etage“ des Textes nach). Vor allem aber eignete er sich die deutsche Sprache so gut an, dass er mittlerweile als gefragter Theatertexter und nun auch als Autor hervortritt. Das ist eine beeindruckende Lebensleistung, die von Beharrlichkeit, Gestaltungswillen und auch dem Vertrauen in die Kraft der Sprache zeugt.

Fazit

Das Ende ist nah erzählt vom Schicksal eines Geflüchteten, richtet seinen Blick auf das grausame Regime im Iran und zeigt einen Menschen, der mit Beharrlichkeit seinen Weg geht und doch auch von seiner eigenen Vergangenheit nicht loskommt, obwohl er diese mit den Mitteln der Sprache bezwingen will.


  • Amir Gudarzi – Das Ende ist nah
  • ISBN 978-3-423-29034-0 (dtv)
  • 416 Seiten. PReis: 25,00 €
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Steffen Kopetzky – Damenopfer

Ein Leben, das auch fünf Bücher gefüllt hätte. In seinem neuen Roman erzählt Steffen Kopetzky vom Leben und Sterben Larissa Michailowna Reissners, die gleich ein Dutzend Leben lebte, immer mit einer klaren kommunistischen Mission vor Augen und bereit für ein Damenopfer, um ihre Ziele zu erreichen. Eine facettenreiche Lektüre, literarisch interessant gestaltet und zugleich ein Anknüpfungspunkt an Kopetzkys Bestseller Risiko aus dem Jahr 2015.


Wie fasst man ein solches Leben in einen Roman? In gerade einmal dreißig Lebensjahren war Larissa Reissner Journalistin in Afghanistan, waghalsige Agitatorin, Trotzki-Verbündete, Komintern-Strategin, Polit-Kommissarin der Wolgaflotille, Revolutionärin, Mutter, Lehrbeauftragte und bestens verknüpfte Planerin eines waghalsigen Plans.

Dutzende Facetten einer Frau, der Steffen Kopetzky mit einem ebenso facettenreichen Erzählkonzept nahekommen möchte, dessen Struktur an Eva Menasses Quasikristalle erinnert und mit dem Kopetzky nach eigenem Bekunden an den Surrealismus und die harte Schnitttechnik des ebenfalls im Buch auftretenden Sergej Eisenstein anknüpfen möchte. Diese filmischen Referenzen der 20er Jahre bildet Kopetzky hier durch einen vielstimmigen Chor an Erzähler*innen nach.

Ho Chi Minh und Anna Achmatowa als Erzähler*innen

Steffen Kopetzky - Damenopfer (Cover)

Anstelle eines personalen Erzählers entscheidet sich der Romancier für eine Vielzahl von prominenten Erzählerinnen und Erzählern, die in ihrem Leben an entscheidenden Punkten Kontakt mit der 1920 geborenen Larissa Michailowna Reissner, genannt Lyalya, hatten. Darunter sind Männer der Weltgeschichte wie Ho Chi Minh, Dichter*innen wie Boris Pasternak oder Anna Achmatowa und Militärs wie Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski. Sie alle erzählen aus ihrer Perspektive von den Berührungspunkten mit dem Leben Larissa Reissners. Es sind Begegnungen, die mal nur kurz dauerten oder sich über ein halbes Leben hinzogen – allen Erzähler*innen aber blieb die Frau eindrücklich im Gedächtnis.

Das ist bei diesem Leben allerdings auch kein Wunder. Denn egal ob Larissa Reissner in Afghanistan reportierte oder die Niederschlagung des Hamburger Aufstands der KPD beobachtete, bei der Rückeroberung Kasans im Bürgerkrieg auf Seiten der Bolschewiken kämpfte oder mit ihrem Ehemann Fjodor Raskolnikow als Politkommissarin die Wolgaflotille beaufsichtigte – stets betrieb sie ihre Unternehmen mit größtmöglicher Intensität.

Ein waghalsiger Plan

Das größte Vorhaben ihres Lebens zieht sich über die einzelnen Erzählstimmen hinweg durch den Roman. Es ist ein waghalsiger Plan, mit dem sie während ihrer Zeit in Afghanistan im Jahr 1923 zum ersten Mal befasst ist. Dort stößt sie auf die Spuren eines unter dem Pseudonym Neumann schreibenden Strategen. Er hielt den Gewinn Deutschlands gegen die imperialistische Kraft Englands für möglich. Ein Plan, den Larissa adaptieren möchte, um den Sieg des Kommunismus und damit die große Freiheit gegenüber der Weltreiche Englands oder Amerika zu erreichen. Sie setzt sich auf die Spur dieses Mannes, hinter dem sich kein anderer als der Major und letzte Ritter des Königreichs Bayern verbirgt, der aus Kopetzkys Risiko bekannte Oskar Ritter von Niedermayer.

„Niedermayer, Oskar. In Afghanistan zwischen 1915 und 1917, Hauptmann der Königlich Bayerischen Armee im Auftrag des Großen Generalstabs. Jetzt gerade, 1923, gibt es eine Buchveröffentlichung in Deutschland über seine Erlebnisse während der Expedition. Er schreibt nun als Oskar von Niedermayer. Ist also irgendwann nach seiner Rückkehr offenbar noch geadelt worden.“

Steffen Kopetzky – Damenopfer, S. 139
Larissa Reissner (Porträt)

Während in Russland Trotzki und Stalin um die Nachfolge Lenins ringen, lernt Larissa Reissner unter Einsatz eines sprichwörtlichen Damenopfers am Ufer des Wannsees schließlich endlich jenen sagenumwobenen Militärstrategen Niedermayer, den deutschen Lawrence von Arabien, kennen.

Zum Dritten im Bunde der Revolutionäre wird der „Rote Napoleon“ Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski, mithilfe dessen Reissner den Sieg des Kommunismus vorantreiben möchte. Doch bei aller Ambition dieser Pläne für eine Deutsch-Russische Weltrevolution kommt das Ende des Vorhabens abrupter als gedacht. Denn gerade einmal mit dreißig Jahren verstirbt Larissa Reissner in einem Moskauer Krankenhaus 1926 überraschend an Typhus.

Brüche und Lücken eines Lebens

Unter großer Anteilnahme wird die junge Frau zu Grabe getragen, wofür sogar der Dichter und später mit seinem Doktor Schiwago zu Weltruhm gelangende Boris Pasternak ein Gedicht verfasst, in dem ein ganzes Stück weit die Anlage des Erzählkonzept Steffen Kopetzkys selbst paraphrasiert wird:

Im Gegensatz zu einer Zeichnung bestand ein Gedicht aus einzelnen Teilen, Worten, die nicht miteinander verbunden waren, und glich darin dem Leben selbst. Es war aus Brüchen und Lücken aufgebaut. Die Natur aber hörte niemals auf, die Menschen selbst lebten eingebettet in der Geschichte, und obwohl ihr Leben aus lauter Fragmenten bestand, hielt es doch irgendwie zusammen. Das war, was er zu feiern wünschte: dass es die Einheit des Lebens nicht gab und es dennoch ein Ganzes war. Dieses Wunder zu preisen war die Aufgabe der Kunst, und das wollte er in seinem Gedicht „Zum Andenken an Larissa Reissner“ zum Ausdruck bringen, tastete sich heran, Stunde um Stunde arbeitend und leidend.

Steffen Kopetzky – Damenopfer, S. 426

Wie schon in seinen letzten Werken Propaganda oder Risiko spannt Steffen Kopetzky auch hier wieder einen ganz weiten Bogen auf. Das führt soweit, dass er den Totengräber des Grabs von Larissa Reissner eine Episode widmet und sogar die Geschichte des Friedhofs, die bis in die Zeit von Katharina der Großen zurückreicht, in einem Rückgriff schildert.

Ganz Kopetzky-typisch verbindet auch Damenopfer Militärgeschichte mit einer persönlichen Biografie. Kulturgeschichte, Erzählung der politischen Entwicklung Russlands in der Post-Leninphase und Geopolitik vereinen sich mit einer ambitionierten Erzählstruktur. Schauplätze in Afghanistan, Leipzig oder Moskau, dazu eine Vielzahl an Figuren und Erzähler*innen und nur wenig Stringenz in der Erzählung selbst, das erfordert viel Aufmerksamkeit.

Fazit

So gefällig wie Kopetzkys letzter mit leichter Hand skizzierte Pandemie-Handstreich Monschau ist das freilich nicht. Dafür entlohnt Damenopfer aber mit einem facettierten Porträt einer faszinierenden Frau. Steffen Kopetzky erweckt die russische Geschichte der 20er und 30er Jahre mitsamt ihrer wichtigen politischen, militärischen und kulturellen Impulsgeber zum Leben und liefert ein ambitioniertes Werk ab, das viele seiner Erzählthemen fortführt und wache Leserinnen und Leser sehr belohnt!


  • Steffen Kopetzky – Damenopfer
  • ISBN 978-3-7371-0151-6 (Rowohlt)
  • 448 Seiten. Preis: 26,00 €
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Margaret Kennedy – Das Fest

Eine Familienpension am Fuße hochaufragender Klippen – und viele Gäste, die es einem nicht unbedingt leicht machen. In Das Fest erzählt die Britin Margaret Kennedy von eigentümlichen Urlaubern und einer Katastrophe in Nord-Cornwall. Eine Wiederentdeckung aus dem Jahr 1950.


Nein, ein Hotel ist es nicht unbedingt, auch wenn es den Namen Pendizack-Hotel trägt. Die Besitzerin Mrs Siddal hat ihr Zuhause in Cornwall zu einem Hotel umfunktioniert, das eigentlich aber eher eine Familienpension ist. Ihre drei Söhne und ihr Mann leben mit ihr im Haus – die Einnahmen bringen aber die Gäste, die das direkt am Fuß der Steilküsten gelegene Haus besuchen. Das Meer vor der Haustür, die steilen Klippen im Rücken, keine Nachbarn in unmittelbarer Umgebung, so die Selling Points ihrer Familienpension.

Eine Familienpension in Cornwall

Auch wenn die Auslastung des Hotels in den Augusttagen des Jahres 1947 zunächst noch zu wünschen übrig lässt, so versammelt sich schon bald eine skurrile Runde an Hotelgästen, die ihre Sommerfrische dort in Cornwall verbringen wollen. Das kinderlose Ehepaar Palsey, der hochmütige Kanonikus Wraxton mitsamt seiner Tochter Evangeline, Mrs. Cove mit ihren drei Kindern und die Familie von Lady Gifford, die vor allem mit ihren Sonderwünschen schon vorab die Nerven der Siddals malträtiert.

Margaret Kennedy - Das Fest (Cover)

So unterliegt die (eingebildete) Kranke einer strengen ärztlichen Diät, um ihre Gesundung voranzutreiben. Wie sie Mrs. Siddal in einem Brief vorab informiert hat, benötigt die Lady unbedingt Geflügel, Wild, frische Eier, frisches Gemüse im Gegensatz etwa zu Margarine, Trockenmilch oder Nahrungsmitteln aus Konserven, die verpönt sind. In Zeiten der Mangelwirtschaft nach dem Krieg sind diese Forderungen gar nicht einmal so leicht zu erfüllen.

Aber nicht nur in Sachen Anspruchshaltung wird die Lady noch öfter anecken, auch die Anreise im Zug gestaltet sich für die Herrschaften trotz bestochenem Personal schon schwierig, da sie die Bekanntschaft mit Mrs. Cove und ihren Kindern machen. Diese erweist sich als ebenso renitent und dickköpfig wie die adelige Matriarchin, sodass der Urlaub spannend zu werden verspricht.

Schrullige Gäste – und schrulliges Personal

Doch nicht nur die anreisenden Hotelgäste sind skurril bis schwierig – auch das Hauspersonal ist mit vielen Schrullen gesegnet. So gibt es die dauerklatschende und notorisch neugierige Mrs Ellis, die statt zu arbeiten lieber Maulaffen feilhält. Ihr zur Seite steht das Zimmermädchen Nancibel. Fachkräftemangel ist nicht nur ein Signum der Neuzeit – auch 1947 mangelt es schon an ausreichenden Bewerbern für die anderen anfallenden Tätigkeiten im Hotel, sodass auch Mrs. Siddal und ihre Söhne mit anpacken müssen, um ihren Gästen eine gute Zeit in Cornwall zu ermöglichen.

Davon erzählt Margaret Kennedy gerade zu Beginn des Romans mit einer Vielzahl von Techniken. So schreibt die Haushälterin Mrs. Ellis einen larmoyanten Klagebrief, Lady Gifford informiert über ihre Anforderungen und Wünsche für den Urlaub ebenfalls per Brief, Mr. Palsey schreibt Tagebuch, um seine Perspektive zum Ausdruck zu bringen. Später gibt Margaret Kennedy diese Formenpluralismus zugunsten eines konventionellen multiperspektivischen Erzählens wieder auf.

Es entfaltet sich die Geschichte einer Tragödie, deren Ausgang aufgrund des Präludiums absehbar ist. Im Vorspiel vor der eigentlichen Romanhandlung tauschen sich der lokale und ein in Cornwall urlaubender Pfarrer über die Katastrophe des Felssturzes aus, die sich vor kurzer Zeit ereignet hat und die für alle Pendizack-Bewohner den Tod bedeutete. Einzig die Teilnehmenden an einem Fest haben die Tragödie überlebt, da sie sich in sicherer Entfernung der Felsmassen befanden.

Ferien und andere Katastrophen

So treibt der Text neben aller Ferienschilderungen auch unaufhörlich auf die sich nahende Katastrophe zu. Daneben zeichnet Das Fest auch ein Bild des Mangels, der über das Kriegsende hinaus in England herrschte. Zwar ist es eine mildere Form der Knappheit als zu zurückliegenden Kriegszeiten, aber auch hier konkurriert man noch um Mäusespeck, Karamellbonbons und Türkischen Honig. Der Schreck der Kriegserlebnisse sitzt den Menschen noch in den Knochen und man blickt auch ganz genau auf das Verhalten der Oberschichte, das sich hier in insistierenden Fragen über den Aufenthaltsort der Giffords während der Kriegszeit äußert (auf die hin Lady Gifford einräumen muss, mit ihren Kindern nach Amerika geflohen zu sein, anstelle sich mit der gemeinen Bevölkerung solidarisch verhalten zu haben).

Margaret Kennedys Roman ist einer, der neben aller Sommerfrisch auch in der berückenden Kulisse Cornwalls die sozialen Zustände nicht aus dem Blick verliert. Es zeigt sich, dass die heute vieldiskutierten Themen des Fachkräftemangels oder der Anspruchshaltung der jungen Generation auch 1947 schon Thema waren, etwa wenn Mrs Cove über den schwächelnden Leistungswillen lamentiert:

„Es ist nicht das Geld, dem die Menschen heutzutage nachjagen. sonst wären wir nicht an diesem Tiefpunkt angelangt. Alles, was sie wollen, ist weniger Arbeit und kürzere Arbeitszeit. Der Hunger ist der einzige Ruf, dem sie folgen. Kaum sind sie satt, werden sie schlapp. Sie wollen nichts, was nach Anstrengung klingt. Auch keinen höheren Lebensstand, es sei denn, jemand bezahlt ihn für sie.

Margaret Kennedy – Das Fest, S. 350 f.

Eine versierte Autorin

MArgaret Kennedy (Porträt)
Margaret Kennedy

Neben solchen gesellschaftsdiagnostischen Dialogen ist Das Fest auch voller Humor. Figuren sprechen nebeneinander her oder fallen sich gegenseitig ins Wort. Zwischen dem Hotelierssohn und der Kanonikus-Tochter entspinnt sich eine zarte Liebesbande. Die Coves und die Giffords belauern sich beständig gegenseitig. Das ist schön gemacht und zeigt eine versierte Autorin, die Margaret Kennedy mit mehr als einem Dutzend Romane und Drehbüchern auch war.

Schade einzig und allein, dass man im herausgebenden Schöffling-Verlag auf ein einordnendes Nachwort zum Leben und Werk Margaret Kennedys verzichtet hat. Den Lesenden, denen das Leben und das vielstimmige Oeuvre der 1967 verstorbenen Autorin sonst unbekannt sein dürfte, gibt man im Buch lediglich eine biographischen Minimalskizze an die Hand. Hier hätte eine etwas ausführliche Darstellung zu ihrem vielfältigen Wirken aus kundiger Feder eine schöne Ergänzung dargestellt,

Fazit

Abgesehen davon ist Das Fest ein nostalgischer Roman, der zwar aufgrund seiner Struktur alles andere als überraschend ist, dafür aber ein genaues Bild vom Nachkriegsengland auf Sommerfrische in Cornwall zeichnet. Verschwundener schwarzer Bernstein, eine Autorin ab Abwegen, Jagd auf Mäusespeck, naseweise Kinder, überforderte Hausangestellte und noch viel mehr. Margaret Kennedys Buch lädt ein zu einer entschleunigten Lehnstuhlreise ins Pendizack-Hotel und einer Sommerfrische voller besonderer Charaktere.


  • Margaret Kennedy – Das Fest
  • Aus dem Englischen von Mirjam Madlung
  • ISBN 978-3-89561-079-0 (Schöffling)
  • 432 Seiten. Preis: 24,00 €
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Das Deutscher Buchpreis-Lotto 2023

Zu den Traditionen auf diesem Blog zählt schon seit einigen Jahren das Tippen möglicher Titel, die es auf die Nominierungsliste des Deutschen Buchpreises geschafft haben. So auch dieses Jahr, in dem wieder das Deutscher Buchpreis-Lotto wage. So sind es folgende Bücher, denen ich Chancen ausrechne, dass sie die Jury des Deutschen Buchpreises 2023 vielleicht berücksichtigt.

Dabei ist es nicht unbedingt eine Liste mit Lieblingsbüchern, einige der Titel würde ich in meine persönliche Auswahl zum Buch des Jahres nicht unbedingt aufnehmen. Aber wie das bei einem Lotto so ist – eine abgewogene Mischung aus Intuition und Vermutung ergibt diese Liste, die eine ziemliche ziemliche Österreich-Lastigkeit aufweist und auf der sich viele Titel rund um die boomenden Themen der Mutter- und Vaterschaft drehen. Auch Climate Fiction, migrantische Erfahrung und historische Rückschau dürfen hier natürlich nicht fehlen. Alles spekulativ wie immer, aber das ist ja seit jeher integraler Bestanddteil dieses Buchpreis-Lottos. Nun Vorhang auf für meinen literarischen Tippschein:

Und hier noch einmal die Bücher in einer Titelliste. Bereits auf dem Blog vorhandene Besprechungen sind hervorgehoben, unverlinkte Titel erscheinen in den nächsten Tagen noch ausführlicher hier auf dem Blog.

Gibt es Bücher, die für euch gesetzt sind oder die ihr euch auf der Longlist wünscht? Schreibt es gerne in die Kommentare – ich bin gespannt!

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