Charlotte McConaghy – Die Rettung

Unter wir singen im Saatgutschutzbunker – Hurra, diese Welt geht unter! In ihrem neuen Roman erzählt Charlotte McConaghy von einem Vater und seinen drei Kindern, die auf einer Insel zwischen Antarktis und Australien ausharren, um den dort befindlichen Bunker mit Saatgut zu beaufsichtigen. Doch dann wirbelt die Ankunft einer rätselhaften Frau die etablierte Ordnung gehörig durcheinander und man muss feststellen, dass hier nicht nur die Kräfte der Natur die intakte Ordnung des Eilands bedrohen. Kann sie gelingen für McConaghys Figuren gelingen, Die Rettung?


Macquarie Island ist eine Insel, die sich auf halber Strecke zwischen Tasmanien und der Antarktis befindet. 34 Kilometer lang und gerade einmal fünf Kilometer breit ist die Insel eine Heimstatt für Pinguine, Robben und Seevögel. Doch dem war nicht immer so. Denn zur Zeit des Walfangs wurden die Populationen an Pinguinen und See-Elefanten dezimiert, der Bestand an Seebären wurde komplett ausgelöscht.

Die Eingriffe der Menschen brachten das ökologische Gleichgewicht aus dem Takt und noch heute kann man Spuren des tödlichen Treibens dort auf Macquarie Island finden, wie Charlotte McConaghy im Nachwort zu ihrem Roman Die Rettung schreibt.

Die Insel am Rande der Welt

In ihrem Buch trägt das Eiland den Namen Shearwater Island, basiert aber – von kleinen künstlerischen Freiheiten abgesehen – hauptsächlich auf dem wirklichen Vorbild. Nur ist es in ihrem Roman an den Menschen, für den Fortbestand des ökologischen Gleichgewichts zu sorgen. Denn Shearwater Island beheimatet einen Schutzbunker für Saatgut, in dem alle wichtigen Samen aufbewahrt werden, um dem Schwinden der Biodiversität entgegenzuwirken.

Der Shearwater Global Seed Vault, der Saatgutbunker auf unserer Insel, wurde dazu konstruiert, allem standzuhalten, was die Welt gegen ihn aufbietet; er soll die Menschheit überdauern, bis weit in eine Zukunft, in der unserer Nahrungsgrundlage möglicherweise neu angepflanzt werden muss. Größtenteils kleine Körnchen. Winzig schwarze Pünktchen, mehr nicht. Der Schatz, den wir hier tief unter der Erde aufbewahren, am absoluten Arsch der Welt. Die letzte Hoffnung der jeweiligen Arten – und zugleich unsere.

Charlotte McConaghy – Die Rettung, S. 19

Mit der Betreuung des Bunkers und der Insel in toto betraut sind Dominic und seine drei Kinder Orly, Raff und Fen. Vor acht Jahren ist er mit ihnen auf Shearwater Island gezogen und bewohnt dort den inseleigenen Leuchtturm. Alle haben sich eingerichtet im gemeinsamen Alltag, der durch einen besonderen Fund aus dem Takt gebracht wird.

Die Fremde aus dem Meer

Charlotte McConaghy - Die Rettung (Cover)

Die meeresverbundene Fen zieht bei einem ihrer Ausflüge ins tosende Meer ein ganz besonderes Treibgut aus dem Wasser. Es handelt sich um eine Frau, die die junge Frau schwerverletzt aus dem Wasser birgt und anschließend mit ihrer Familie pflegt. Rowan, so ihr Name, entpuppt sich als harte Nuss für Dominic, der seine liebe Not hat, die Frau zu durchschauen. Vor allem ihr eigentliches Vorhaben beunruhigt den Bunkerbewacher. Denn sie ist auf der Suche nach ihrem Mann, der ein Kollege von Dominic war, dann aber spurlos auf – oder von Shearwater Island verschwand.

Was ist Realität, wem ist zu trauen, wer hütet welches Geheimnis auf der Insel? Die Rettung lebt von der untergründigen Spannung und den vielen Perspektivwechseln, die Charlotte McConaghy in ihren Text einwebt. Das wahre Anliegen Rowans, das Verschwinden ihres Mannes und die möglichen Geheimnisse von Dominic und seinen Kindern, all diese Themen prallen aufeinander, während das Meer gegen die Insel anbrandet und der Verfall der Insel nach einem Stromausfall immer rasanter voranzuschreiten scheint.

Sezierte Lawrence Osborne in seinem Roman Welch schöne Tiere wir sind das Auseinanderdriften einer etablierten Beziehung nach dem Auffinden eines aus dem Meer angespülten Menschen auf der griechischen Insel Hydra, so führt McConaghy dieses Thema fort, indem sie um diese Dynamiken nach der Ankunft eines Gastes auch noch die Unklarheit über den Zustand der Welt fernab von Shearwater Island in den Text webt. Ist die Rettung von außerhalb überhaupt möglich, oder existiert die Welt außerhalb der Insel gar nicht mehr wirklich? Aus der diffusen Lage und der unsicheren Weltlage zieht dieser Roman zusätzliche Spannung.

Fazit

So ist auch Die Rettung wie schon ihre Romane Zugvögel und Wo die Wölfe sind ein Text, der sich neben zwischenmenschlichen Problemen auch mit der Fragilität unserer Daseins und dem ebenso fragilen ökologischen Gleichgewicht auseinandersetzt.

Die auf der Insel gehüteten Geheimnisse sorgen für Spannung, der Blick mit den verschiedenen Figuren aufs Geschehen für Abwechslung. So sollte auch diesem Roman wieder viel Erfolg beschieden sein, sensibilisiert Die Rettung neben aller Unterhaltung auch für Fragen des Schutzes unseres Planeten, die sonst viel zu oft ins Hintertreffen geraten.


  • Charlotte McConaghy – Die Rettung
  • Aus dem Englischen von Jan Schönherr
  • ISBN 978-3-10-397683-0 (S. Fischer)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €
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Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude

Letzte Ausfahrt HomeMarket. In seinem neuen Roman Der Kaiser der Freude lässt Ocean Vuong einen jungen Amerikaner mit vietnamesischen Wurzeln im Nirgendwo stranden. Ein Diner wird zu seinem neuen Lebensmittelpunkt. Zudem findet er in der baltischen Weltkriegsüberlebenden Grazina eine verwandte Seele, die zusammen ein ungewöhnliches, aber hochfunktionales Gespann ergeben, um sich dem (Über)Leben zu stellen.


Mit bemerkenswert hohem Ton nimmt uns Ocean Vuong auf den ersten Seiten seines neuen Romans mit in eine Stadt, die so durchschnittlich wie hoffnungslos ist.

Es ist eine Stadt, in der sich Highschool-Kids, die Freitagabend nirgendwo hinkönnen, mit den Pick-Ups ihrer Stiefväter in die unbeleuchteten Ecken des Walmart-Parkplatzes verdrücken, aus Poland-Spring-Flaschen Smirnoff trinken und sich mit Weezer und Lil Wayne bedröhnen, bis sie eins Tages nach unten schauen, ein Baby in den Armen halten und sich klarmachen, dass sie in ihren Dreißigern sind und der Walmart sich nicht verändert hat, bis auf das Logo, das mittlerweile heller ist und ihren von den Jahren hager gewordenen Gesichtern einen bläulichen Schimmer verleiht.

Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude, S. 14

Hier kommt man nicht wirklich weg – außer durch den Tod. Ebenjenen sucht auch der junge Hai, der zu Beginn der Romanhandlung durch einen Suizid der Trostlosigkeit der Stadt und der eigenen Existenz entkommen will. Doch damit ist es nicht weit her (und der Roman hätte es höchstwahrscheinlich auch nicht auf den Umfang von über 500 Seiten gebracht). Denn bevor er sich von einer Brücke in den Tod stürzen kann, wird der junge Mann in Ocean Vuongs Roman gerettet.

Hai und Grazina

Ocean Vuong - Der Kaiser der Freude (Cover)

Sein Schutzengel ist über 80 Jahre alt, stammt aus dem Baltikum und ist dement. Diese Fakten über seine Retterin offenbaren sich Hai allerdings erst, nachdem diese ihn von der Brücke heruntergerufen hat. Denn eines kann die alte Dame auf gar keinen Fall brauchen – noch mehr Geister in ihrem Zuhause, so lässt sie es den jungen Hai wissen.

In der Folge schlüpft dieser in Grazinas – so der Name der Frau – Haus unter und freundet sich mit der betagten Dame an, die Hai aus einem akustischen Missverständnis heraus auf den litauischen Namen Labas tauft, schließlich bedeutet dieser Name in ihrer Muttersprache Hallo, also so viel wie Hi, das sie bei dessen Vorstellungen verstanden hat.

Doch nicht nur, dass Grazina Litauisch beherrscht, auch kennt sie eigenwillige Methoden, um die Dämonen und schlechten Gedanken auszutreiben. Zerstampfte Brötchen im Regen sind nur ein Ausdruck einer eigenwilligen Kur, der sich die beiden Figuren gegenseitig unterziehen. Denn allmählich kippt in Vuongs Roman das Betreuungsverhältnis, als sich Grazinas Demenz immer stärker zu Wort meldet.

Hai besorgt sich einen Job im trostlosen HomeMarket einen Job und arbeitet bei Mindestlohn Seite an Seite seines Cousins Sony Fertignahrung aufzuwärmen. Zusammen mit anderen Außenseitern erwärmen sie Nahrungsbeutel und servieren Hühnchen vom Grill – und das oftmals im Akkord. Zur Entspannung dienen ihm die Lektüren, die er in Grazinas Haus findet und ganze Bingesession der Serie The Office.

Als Grazina immer öfter den Bezug zur Realität verliert und die Erinnerungen aus der Kriegszeit wieder ans Tageslicht steigen, denkt sich Hai fantasievolle Spiele aus, um für Grazina eine eigene Welt zu erschaffen, während er selbst Mühe damit hat, seiner Mutter gegenüber ebenfalls eine Scharade aufzuführen. Denn diese wähnt ihren Sohn mitten im Medizinstudium anstelle in der Küche eines Franchiseunternehmens im Nirgendwo, wo Hoffnungen und Aufstiegsversprechen nicht existieren. Und so versucht Hai mit falschen Fassaden für die Menschen um ihn herum den Anschein von Normalität aufrecht zu erhalten.

Ein Roman wie das Essen im HomeMarket

Mit dem Roman ist es ein bisschen so wie mit dem Essen, das Hai, Sony und Konsorten im HomeMarket kochen. Auf den ersten Blick sieht es appetitlich aus, macht satt – aber hohe Kochkunst ist es nicht. So ist auch der Nährwert dieses Buchs nicht unbedingt der beste. Gewiss, sprachlich ist Der Kaiser der Freude weitestgehend solide (Übersetzung durch Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl), obgleich die immer mal wieder eingeschobenen Pathosbröckchen in Form von überladenen und manchmal auch schiefen Bildern im Erzählfluss etwas irritieren:

Er trieb in einem benommenen Schockzustand dahin. In der Stille, die wie auf eine Überschwemmung zu folgen schien, beschworen Vogelrufe das schwindende Licht. Er spürte eine Veränderung, und als er einen Blick über die Highway-Böschung war, sah er flüchtig die neuen Knospen, die an Sträuchern entlang des Flussufers sprossen, während sich unter ihm das von Lichtscherben gesprenkelte Tal dahinwälzte. Ein rosafarbener Konfettischauer strudelte, in einen Wirbel der Strömung eingebettet, fort – Überreste der Kirschblüten, die eine Meile weiter flussaufwärts, am 9/11-Memorial an der Interstate 91, von einem Nordwind zerpflückt worden waren.

Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude, S. 509

Lässt der Umfang des Buchs auf einen Great American Novel hoffen, worauf auch das virtuose erste Kapitel hinweist, so stellt sich hier bald Ernüchterung ein. Viele Versprechen, die Der Kaiser der Freuden gibt, löst das Buch in meinen Augen nur bedingt ein.

Kein Great American Novel

Gewiss, Vuongs Roman blickt auf die Figuren und Orte, die in solch voluminösen Romanen sonst selten vorkommen. Auch finden sich Spuren von Gesellschaftskritik in dem Buch. Aber viel Neues oder Überraschendes erfährt man weder über das Amerika der Gegenwart, noch über die Perspektive von Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Amerika.

Es sind Binsen, die das Buch bestätigt: Menschen wie Hai sind Außenseiter, erfahren Rassismus und müssen härter arbeiten als andere Bevölkerungsschichten. Aber auch trotz krasser Szenen wie einer Episode in einem Schlachthaus bleibt Ocean Vuong mit den erzählerischen Mitteln und den Themen, die er hier setzt, zumindest hinter meinen Erwartungen zurück. Will man das Buch als Kommentar auf die die Lage Amerikas lesen, so gibt diese Lesart nicht viel her. Es ist allein die Geschichte einer ungleichen Freundschaft zwischen den Außenseitern Grazina und Hai, die Vuong am meisten beschäftigt.

Wo sich Auf Erden sind wir kurz grandios radikal mit der eigenen Identität und damit auch Herkunft und Sexualität auseinandersetzte, ist Der Kaiser der Freude zwar deutlich länger, aber auch deutlich zahmer geraten. Natürlich umkreist das Buch auch die Frage von Homosexualität, Drogenmissbrauch und enttäuschte Hoffnungen der Eltern. Aber die erzählerische Radikalität und Tiefenbohrung des vorherigen Buchs lässt Ocean Vuongs neuester Streich leider vermissen, sodass das Buch in meinen Augen hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.


  • Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude
  • Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-28274-2 (Hanser)
  • 528 Seiten. Preis: 27,00 €
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Vorschaufieber Herbst 2025

Wie jedes Jahr ganz antizyklisch hier wieder meine Vorschau auf die Bücher, die uns in der zweiten Jahreshälfte 2025 erwarten und die mich neugierig gemacht haben. Es ist nicht auszuschließen, dass sich der ein oder andere Titel dann auch schon bald hier in der Buch-Haltung besprochen findet.

Wie immer gilt: der Link auf die Buchtitel im Text führt zu den dahinterliegenden Verlagen, die mehr Infos zu den entsprechenden Büchern bereithalten. Und sollte sich jemand mit dem Gedanken eines späteren Kaufs des ein oder anderen hier vorgestellten Buchs tragen, so empfehle ich dringend den Erwerb im lokalen, inhabergeführten Buchhandel, wider die Monotonie von Großkonzernen, die Vielfalt des Buchhandels bedroht.

National

Anselm OelzeDie da oben (Wallstein). Raphaela EdelbauerDie echtere Wirklichkeit (Tropen). Bijan Moini – 2033 (Atrium). Tim Staffel – Wasserspiel (Kanon). Sophia Klink – Kurilensee (Frankfurter Verlagsanstalt).

Angela SteideleIns Dunkel (Suhrkamp). Christoph PoschenriederFräulein Hedwig (Diogenes). Berit GlanzUnter weitem Himmel (Berlin Verlag). Nirit Sommerfeld – Beduinenmilch (Ars Vivendi). Bernhard Heckler – Die beste Idee der Welt (Kunstmann).

Dora Zwickau – Gesellschaftsspiel (Piper). Christoph NußbaumederDas Herz von allem (Rowohlt Berlin). Annette Selg – Das Jahr bevor ich verschwand (Schöffling). Caroline SchmittMonstergott (park x ullstein). Lina Schwenk – Blinde Geister (C. H. Beck)

International

Anjet Daanje – Das Lied von Storch und Dromedar (aus dem Niederländischen von Ulrich Faure. Friedenauer Presse). Percival EverettDr. No (aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser). Mariette Navarro – Am Grund des Himmels (aus dem Französischen von Sophie Beese. Kunstmann). Bret Anthony Johnston – We Burn Daylight (aus dem Englischen von Sylvia Spatz. C. H. Beck). V. V. Ganeshananthan – Der brennende Garten (aus dem Amerikanischen von Sophie Zeitz. Tropen).

Benoit d`Halluin – Ein Schrei im Ozean (aus dem Französischen von Paul Sourzac. Karl Rauch). Mirinae Lee – Die acht Leben der Frau Mook (aus dem Englischen von Karen Gerwig. Unionsverlag). Gabrielle Filteau-Chiba – Die Ungezähmten (aus dem Französischen von Karin Segerer Ben Shattuck – Die Geschichte des Klangs (Hanser). Maria MessinaSterne, die fallen (aus dem Italienischen von Christine Pöhlmann. Friedenauer Presse).

Priya Hein – Das Lächeln von Riambel (aus dem Englischen von Mirjam Nuenning. Gutkind). Ian McEwan – Was wir wissen können (aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes). Arturo Pérez-Reverte – Der Italiener (aus dem Spanischen von Carsten Regling. Folio Verlag). András Visky – Die Aussiedlung (aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Suhrkamp) E. M. Forster – Die längste Reise (aus dem Englischen von Niklas Fischer. Nagel und Kimche).

Hiroko Oyamada – Die Fabrik (aus dem Japanischen von Nora Bierich. Rowohlt). José Rizal – Noli me tangere (aus dem phlippinischen Spanisch von Annemarie del Cueto-Mörth. Insel). Kate Chopin – Das Erwachen (aus dem Englischen von Melanie Walz. Dörlemann). Christine Dwyer HickeyAlle unsere Leben (aus dem Englischen von Kathrin Razum. Unionsverlag). Ken Kesey – Seemanslied (aus dem amerikanischen Englisch von Milena Adam. Märzverlag)

Callan WinkBärenzähne (aus dem Englischen von Hannes Meyer. Suhrkamp) Katrina Tuvera – Die Kollaborateure (aus dem philippinischen Englisch von Jan Karsten. Wagenbach). Claudia Lanteri – Die Insel und die Zeit (aus dem Italienischen von Verena von Koskuss. Folio). Kamel Daoud – Huris (aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Matthes & Seitz). Gustavo Faverón Patriau – Unten leben (aus dem Spanischen von Manfred Gmeiner. Droschl).

Krimis

Xenophon Kontiades – Die Nacht, in der Pavlos starb (aus dem . Mariana Travacio – Ein Mann namens Loprete (aus dem Spanischen von . Seishi Yokomizo – Die Spatzenmorde von Onikobe (aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Blumenbar). Andreas PflügerKälter (Suhrkamp). Alan Parks – Möge Gott dir vergeben (aus dem Englischen von Conny Lösch. Polar).

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Katja Kullmann – Stars

Astrologie, das sind nicht nur Waage, Sterne oder Stier – meist geht im Fall der Anbieter der Sterndeutung auch ein Aszendent einher, der da Geschäftsinteresse und finanzieller Gewinn lautet. In ihrem Debüt Stars begleitet Katja Kullmann ihre Protagonistin beim Aufstieg ihres eigenen Sterns in das Astrogeschäft hin zu finanzieller Unabhängigkeit, der ihr der Job als „Astrophilosophin“ zunehmend beschert – bis sich sogar eine Kiste Dollarscheine vor ihrer Tür materialisiert.


Blätterte ich als Kind in den Zeitschriften meiner Eltern, so war ein unvermeidliches Element der an eine weibliche Leserschaft gerichteten Periodika stets das Horoskop. Ein wöchentliches Horoskop fand sich dort an wiederkehrender Stelle, ergänzt vom großen Jahreshoroskop, erstellt von einer Astrologin mit dem schillernden Namen Mauretania Gregor. Auch die Bildzeitung zählte zu den Abnehmern der Vorhersagen der „Starastrologin“, wie sie die die Zeitung anpries.

Dabei ist das Phänomen der Astrologin keineswegs eines vergangener Tage, auch wenn sich die Form der Astrologie etwas gewandelt haben mag. Erst im letzten Jahr zog der ORF Kritik auf sich, als er eine Astro-Show ins Programm des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks nehmen wollte, bei der man mithilfe einer Moderatorin und einer Astro-Influencerin in die Sterne schauen konnte. Diese qualifizierte laut eigener Aussage, schon im Bauch ihrer Mutter an „Vollmondritualen“ teilgenommen zu haben.

Zwar ist die Show nach nur einer Folge aus dem Programm genommen worden, der Karriere der österreichischen Astro-Influencerin mit Vollmondritual-Erfahrung hat es nicht geschadet. Ihr folgen über 30.000 Follower auf Instagram, die willig mit dieser interagieren. Unter anderem geben sie dort Antwort auf Fragen wie die Folgende: Wo sind meine Stier Sisters? Stier Sonne, Mondin, Aszendent, Stellium im Stier oder 2. Haus?

Welt der Sterne, Welt der Abzocke

Katja Kullmann - Stars (Cover)

Seit den Tagen der gedruckten Horoskope und dem berüchtigten „Astro TV“, das verlässlich Memes und Gründe für die Vorwürfe von Abzock-TV lieferte, hat sich die Welt der Sterne und der Geschäfte darum weiter in die Sozialen Medien ausgelagert. Nicht nur selbsternannte Astro-Influencer*innen treiben dort ihr Unwesen, auch Prominente wie Palina Rojinski befeuern die Entwicklung. Letztere bietet unter dem Label „Astrolinski“ einen Newsletter für Astrologie an und eigenes Astro-Merchandising feil.

Die Verbindung von Astrologie mit dem Aszendent kapitalistischer Vorteilnahme (oder auch Abzocke), sie steht in einem starken Haus, um mit der Welt der Sterne zu sprechen.

In ihrem Debüt Stars begibt sich Katja Kullmann an die Schnittstelle von astronomischen Business und neuen Medien, indem sie die Geschichte von Carla Mittmann erzählt.

Diese versieht nach einem gescheiterten Studium ihren Job als Angestellte eines Möbelherstellers im Großkundenservice, Spezialbereich Behördenausstattung. Doch das ist für die junge Frau alles andere als erfüllend und so betreibt sie nebenher als CosmicCharly einen Service für astrologische Beratung.

Cosmic Carla Mittmann greift nach den Sternen

Aus CosmicCharly wird bald cosmic Carla Mittmann, die nun unter ihrem eigentlichen Namen mit dem Ausbau ihres astrologischen Business beginnt. Persönliche Beratung unter dem Zeichen der Sterne oder digitale Beratung – immer größer wird die Nachfrage und umso exklusiver wird ihr Kundenstamm.

Katja Kullmann zeichnet den Aufstieg der Frau nach, die sich für ihren Astro-Businesscase auch der im Studium erworbenen Kenntnisse bemächtigt, um bald über Instagram und Podcasts hinauszuwachsen und auch im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk stattzufinden. Inspiriert von ihrem Vorbild Elizabeth Teissier steigt sie bald zur sogenannten „Astrophilosophin“ auf und verbrämt ihre zunächst eher noch ironisch betrachtete Sternenkunde mit philosophisches Wortgeklingel, zur Freude ihrer Kunden und den Medien. Die Sternendeuterin wird selbst zum Star.

Dabei bleibt Kullmann eng an ihrer Protagonistin und zeichnet ihren Weg zu den Sternen eng nach. Erst Gespräche bei unterschiedlichen Fremden, die sich von der Astrologin Erkenntnisse erhoffen und in ihrer Hilflosigkeit doch schon bald zu ähneln beginnen. Alle sie suchen Orientierung bei den Sternen – und Carla steigt immer weiter auf und berät ihre Klientel, wobei sie selbst so manches Mal gar nicht so selbstsicher ist, wie sie es ihren Kunden vorgaukelt.

Hoppla, hatte ich gerade wirklich das Wort „seriös“ gedacht? Die Astrologen und Astrologinnen waren zweifellos die Intellektuelle, die Gentlemen und Grandes Dames unter den Spinnern. Mehr hatte ich gar nicht sehen wollen.

Katja Kullmann – Stars, S. 93

Der tiefere Blick bleibt aus

Das ist unterhaltsam beschrieben und interessant, da sie sich mit dem Feld der Astrologie und den Geschäften darum zu einem Thema vorwagt, das in der „seriösen“ Literatur bislang eher ausgespart blieb. Freilich, eine tiefergehende Gründe für die Faszination der Sterne und die Verflechtung von Geschäft, Social Media und Mummenschanz kann und will sie nicht liefern.

Auch bleiben die Figuren abseits von der Ich-Erzählerin Carla recht einfach gehalten – und zum Abgründigen hinter der Sternenfaszination, die im letztendlichen Triumph des Aberglaubens über das Wissen liegt und mit der (siehe AstroTV und Astrologie-Sendungen im Öffentlich-Rechtlichen) auch den Boden für Wissenschaftsskepsis und Wissenschaftsfeindlichkeit bereiten, zu all dem dringt Katja Kullmann nicht vor.

So ist das kein Buch, das mit astronomisch gutem Plot und vertiefter Gesellschaftskritik aufwarten kann. Als Roman über die breit verankerte Faszination für Astrologie und den Blick auf die Geschäftsinteressen dahinter ist Stars aber ein interessantes literarisches Debüt, das dahingeht, wo die deutsche Gegenwartsliteratur sonst nicht blickt.

Weitere Meinungen zu Stars gibt es unter anderem auf dem Blog Kulturgeschwätz von Katharina Herrmann zu lesen.


  • Katja Kullmann – Stars
  • ISBN 978-3-446-28246-9 (Hanser)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €
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Beatriz Serrano – Geht so

Dieser Roman dürfte erhebliches Identifikationspotenzial für viele Arbeitnehmer*innen bieten. In Geht so schildert Beatriz Serrano die Sinnlosigkeit eines Bürojobs, der ihre Heldin Marisa zunehmend ermattet. Zwischen Teambuildingseminar und sinnlosen Jour fixes laviert sich die junge Frau durchs Leben und gerät immer tiefer in die Sinnkrise.


Der Soziologe David Graeber hat sie bekannt gemacht, die sogenannten Bullshit-Jobs. Es sind Jobs, bei denen die Sinnfrage nicht wirklich befriedigend geklärt werden kann und die auf den ersten und auch den zweiten Blick nicht viel für das Vorankommen der Firma, geschweige denn das eigene, leisten.

In einer Gesellschaft, die sich durch Leistung und das eigene Vorankommen definiert, sind diese Bullshit-Jobs nicht unbedingt wohlgelitten, obschon sie auch eine Nische für Menschen sein können, die sich an ebenjenem Leistungsdruck und der dauernden Performanz des eigenen Tuns nicht beteiligen wollen.

Eine Tätigkeit im mittleren Management

Marisa ist einer dieser Menschen, die im Laufe von Beatriz Serranos Roman immer stärker das eigene Sein im Job hinterfragt. Stumpf schleppt sie sich jeden Tag zur Arbeit, die sie in einem Marketingunternehmen im mittleren Management fristet.

Von meiner Wohnung zum Büro brauche ich zwanzig Minuten zu Fuß, und manchmal werden diese zwanzig Minuten die besten des Tages. Ich gehe immer zu Fuß. Egal , ob es regnet, schneit oder der Asphalt unter meinen Sandalen schier verglüht. Auf dem Weg denke ich an verschiedene hypothetische Glücks- und Unglücksfälle. Es ist eine Frage von Wahrscheinlichkeiten.

Mir gefällt der Gedanke, dass ich im Lotto gewinnen könnte, aber ich weiß, dass ich sehr viel wahrscheinlicher von einem Bus erfasst werde. Vor kurzem habe ich erfahren, dass der Arbeitgeber nach einem Unfall auf dem Weg zur Arbeit, einem sogenannten Wegeunfall, für die Dauer der Krankschreibung das Gehalt ohne Abzüge weiterzahlen muss. Seitdem überquere ich die Ampeln ein bisschen weniger aufmerksam, manchmal sogar regelrecht tollkühn.

Beatriz Serrano – Geht so, S. 51

Es ist ein Job und ein Arbeitsumfeld, in dem die verschwundenen Kaffeekapseln in der Büroküche schon zum größten Aufreger taugen. Geschickt hat sich Marisa in diesem Umfeld eingerichtet und verlebt ihr unspektakuläres (Arbeits-)Leben, wobei sie sich ein effizientes System zur maximalen Abstinenz in Sachen Arbeitstätigkeit geschaffen hat.

Um sich stundenlang mit Youtube-Videos anstelle ihrer eigentlichen Arbeit zu beschäftigen, betreibt sie Aufgaben-Outsourcing, indem sie Student*innen ihre eigene Jobs als Studienaufgaben stellt. Steht doch einmal Arbeit an, so versucht sie mit hohen Erfolgsquoten eine mehr als auslastende Beschäftigung vorzuschützen. Unbedingt zu verteidigen ist das Privileg auf ein Einzelbüro, denn schließlich schützt das vor sozialer Interaktion und ist Rückzugsraum für das exzessive Schauen der obskuren Youtube-Videos.

Von Bullshit-Jobs und Teambuildingmaßnahmen

Beatriz Serrano - Geht so (Cover)

Und auch im Privaten ist Bequemlichkeit und Überschaubarkeit Trumpf. Eine lose Freundschaft Plus mit ihrem Nachbarn, regelmäßige Telefonate mit ihrer Mutter, damit hat es sich für sie. Doch dann steht ein Teambuilding-Seminar für Marisas ganze Abteilung an, bei dem alle erprobten Strategien zum Entzug jeglicher Mitarbeit plötzlich nicht mehr zu greifen drohen…

Geht so ist ein Roman, der die Sinnlosigkeit von Arbeit anschaulich beschreibt. Ähnlich wie die Romane von Fien Veldman oder Hanna Bervoets zeigt auch Beatriz Serrano die Sinnlosigkeit, die mit der Entwicklung neuer Arbeitsfelder in Firmen einhergeht, die mit der Anonymität des Arbeitsumfeldes und der Aufgaben in größeren Arbeitsstrukturen den Gegenentwurf zur handwerklicher Tätigkeit von früher darstellen.

Waren es in den Romanen der beiden Niederländerinnen die anonyme Arbeit in einem Start-Up beziehungsweise in als Content-Managerin in einer auf digitales Arbeiten spezialisierten Firma, so ist die Arbeitswelt von Marisa in der Werbeagentur doch noch etwas greifbarer. Ähnlich sinnentleert ist die Arbeit aber auch hier, womit Beatriz Serranos Heldin auch in die Nachfolge von Herman Melvilles Urvater aller Arbeitsverweigerer Bartleby tritt.

Fazit

Marisa möchte lieber nicht, wir als Leser aber schon. Denn ihr geschickter Kampf gegen Arbeitsbelastung und die kleinen Mikrosabotagen des Büroalltags, sie lesen sich so unterhaltsam wie die Bildwelten Hieronymus Boschs, die sich Marisa (passenderweise mit Ausnahme der Hölle) im Prado regelmäßig zu Gemüte führt. Besonders das Finale mit einem Teambuilding-Seminar, wie es klischeehafter nicht sein könnte und dann auf grandiose Weise entgleist, macht dieser Roman doch sehr viel Spaß. Geht so unterhält formidabel, erkundet ausgiebig die Seelenlandschaft seiner Heldin und bietet jede Menge Identifikationspotential für alle Arbeitnehmer, die sich auch ab und an die Sinnfrage bezüglich ihres eigenen beruflichen Tuns stellen.


  • Beatriz Serrano – Geht so
  • Aus dem Spanischen von Christiane Quandt
  • ISBN 978-3-8479-0212-6 (Eichborn)
  • 240 Seiten. Preis: 22,00 €
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