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David Szalay – Was nicht gesagt werden kann

Vom Mörder zum Baulöwen in der englischen High-Society, von der Einsamkeit in die Arme einer Geliebten: In seinem Roman Was nicht gesagt werden kann schickt David Szalay seinen Protagonisten István auf einen Weg zwischen tiefen Tälern und steilen Höhen des Lebens. Nur das mit dem Ankommen, es will zu keinem Zeitpunkt so recht klappen.


Liest man den neuen Roman des 1974 in Kanada geborenen David Szalay, ist man doch verwundert, schaut man auf die bislang erschienen Romane. In diesen erhob er das episodische Erzählen zur Kunstform, etwa in seinem letzten, von Hennig Ahrens ins Deutsche übertragenen Roman Turbulenzen. Dort schüttelte er in den titelgebenden Turbulenzen eines Flugzeugs die Leben mehrerer Passagiere auf einem Linienflug durcheinander und erzeugte dadurch einen Reigen von Leben und Schicksalen.

Schon in seinem ersten, ebenfalls von Henning Ahrens übersetzten Roman Was ein Mann ist, wandte Szalay dieses Erzählprinzip eines Reigens an, um von mehreren Männern in ganz verschiedenen Altersstufen und Lebensstadien zu erzählen – und dabei nicht nur einen Blick auf Männlichkeit in der Gegenwart zu werfen, sondern auch für einen englischsprachigen Erzähler reichlich ungewöhnliche Schauplätze wie etwa den oberfränkischen Pilgerort Vierzehnheiligen aufzusuchen.

Ein biografischer Roman anstelle von Reigen

David Szalay - Was nicht gesagt werden kann (Cover)

Liest man nun diesen dritten, wieder von Ahrens ins Deutsche übertragenen Roman, ist eine völlige Abkehr von diesem multipersonellen Erzählkonzept zu beobachten. Stattdessen nimmt sich David Szalay diesmal einen ganz konventionellen biografischen Rahmen vor, um wie etwa Robert Seethaler das Schicksal eines Mannes chronologisch von der Kindheit bis zum Tod durchzuerzählen.

Sein Held heißt István. Er wächst in einem ungarischen Plattenbau auf, wo er bei seiner alleinerziehenden Mutter wohnt. Schon bald folgt er der Lust des Fleischs (das im englischsprachigen Original den Titel bildet), die sich ihm im Zuge der Offerte einer verheirateten Nachbarin bietet. Diese übernimmt die sexuelle Initiation des deutlich jüngeren Mannes, was von ihr aber deutlicher ernst genommen wird als von István.

Dieser verfällt der Nachbarin immer mehr und wird in seinem fleischlichen Begehren sogar zum Mörder. Eine Gefängnisstrafe und ein Abstecher zum Militär folgen, ehe István später in einer Art Pygmalion-Moment zu einem Personenschützer in London aufsteigt.

Die Lust des Fleisches

Dort wird er zum Aufpasser des absurd reichen Oligarchenpaares Nyman, das unter umgekehrten Vorzeichen eine ähnlich hohe Altersdifferenz aufweist, wie es damals bei István und seiner Nachbarin der Fall wird. Auch hier erscheinen sie wieder, die Verlockungen des Fleisches – und wieder folgt eine Affäre, die István – so viel Klischee darf sein – zum Liebhaber seines eigentlichen Schutzobjekts macht. Diese Affäre ist es auch, die ihm den Aufstieg in die höchsten Kreise der englischen High Society ermöglicht, wo István zu einer Art Baulöwe, oder im Businesssprech zum Projektentwickler wird. Doch wie es schon Ikarus erging, so muss auch István feststellen, dass auf einen Höhenflug auch ein tiefer Absturz folgen kann.

Tatsächlich sind es hohe Gipfel des Erfolgs wie auch tiefe Täler, die István in Form von Gefängnis oder Traumata durchwandert. Gemein ist allen Stationen dieses Lebenswegs, dass er sie stoisch erträgt. Selbst der Mord am Nachbar wird bei ihm zu einer recht kühlen Angelegenheit, die er ebenso wie Traumata oder den Abstieg nach seinem Aufstieg in die englische Oberschicht durchmisst, ohne davon tiefer ergriffen zu sein, und das obschon David Szalay als Erzähler ja ganz nah dran ist an seiner Figur.

Ein moderner Mann ohne Eigenschaften

Mit István erschafft Szalay einen modernen Mann ohne Eigenschaften, der erkennbar aus Fleisch und Blut geformt ist, dessen Seele und inneren Kämpfen man aber überhaupt nicht nahekommt. In den Dialogen recht minimalistisch und zurückhaltend agierend erfüllt David Szalays Held so auch den völlig anderen, aber ebenso zutreffenden Titel Was nicht gesagt werden kann.

Hieraus zieht Szalays Roman seinen Reiz: intime Momente, Gefühle, eine enorme Spanne von Berufen, Emotionen und Bindungen und doch stehts das Gefühl, dass sie István nicht tiefer gehend berühren, dieser Mann keine tiefere Verbindung zu sich selbst hat und stattdessen dieses Leben eher als Zuschauer des eigenen Lebens denn als gestaltender Protagonist erlebt.

Fazit

Damit greift Szalay trotz der völlig anderen Erzählform ein Stück weit auch seine Männlichkeitsvermessung aus Was ein Mann ist auf und zeigt uns hier ein wenig greifbares Exemplar dieser Spezies, bei dessen Schicksal man als Zuschauer deutlich mehr mitfiebert, als es das beobachtete Objekt selbst tut.

Erkennbar tat das im Übrigen auch die Jury des renommierten britischen Booker-Prizes, die in diesem Jahr David Szalay den Preis für den Roman zusprach, nachdem er es mit Was ein Mann ist bereits im Jahr 2016 in die engere Auswahl für den Preis geschafft hatte.


  • David Szalay – Was nicht gesagt werden kann
  • Aus dem Englischen von Henning Ahrens
  • ISBN 978-3-54610150-9 (Claassen)
  • 384 Seiten. Preis: 25,00 €

José Falero – Supermarkt

Serien über Drogenhändler*innen gibt es wie Sand am Meer. Neben ehrfürchtigen Biopics über Größen wie Pablo Escobar oder Griselda Blanco sind solche Drogendealergeschichten auch oftmals welche, die die Wandlung von zumeist Jedermännern hin zu Dealergrößen nachzeichnen. Von How to sell drugs online fast bis hin zum wahrscheinlich bekanntesten Beispiel Breaking Bad, das den Weg vom krebskranken Chemielehrer Walter White hin zum gefürchteten Drogenbaron mit dem Pseudonym Heisenberg nachzeichnet. Nun hat der Brasilianer José Falero einen Roman geschrieben, der einmal mehr einen solchen Wandel von Zero to Hero nachzeichnet, diesmal in Brasilien, wo zwei Männer ausgehend von ihrem Job im Supermarkt zu Drogenhändlern werden.


José Falero siedelt seinen Roman im brasilianischen Porto Alegre an. Dort tun in einer Kette des Fênix-Supermarktes die beiden Angestellten Pedro und Marques ihren Dienst. Beiden gemein ist, dass sie aus armen Verhältnissen stammen und es trotz ihrer Arbeit bislang nicht viel weiter gebracht haben in ihren jeweiligen Leben. Kleine Diebstähle des supermarkteigenen Bestandes haben sie perfektioniert, aber eine wirkliche Verbesserung ihres gesellschaftlichen Status und ihrer finanziellen Lage ist nicht in Sicht.

Als Marques‘ Frau ihm eröffnet, dass sie erneut schwanger ist, tun sich die beiden Männer mit einem recht simplen Plan zusammen. Zwar ist die Gegend, in der sie leben, in puncto Drogen bereits sehr gut versorgt. Allerdings wird das Cannabis-Segment aus Gründen der Unrentabilität von keiner der rivalisierenden Banden in ihrem Viertel wirklich bedient. In diesem Marktlücke sehen die beiden Männer ihre Chance.

Joint Venture

José Falero - Supermarkt (Cover)

Und so klären sie mit den rivalisierenden Drogenbanden ab, dass sie ihnen mit ihrem Grasgeschäft nicht in die Quere kommen wollen, organisieren sich komfortabel per Bote geliefert die erste Ladung an Cannabis und beginnen ihr im wahrsten Sinne des Wortes Joint Venture

Bekannte werden zu Verteilern ihrer Drogen und insgesamt hat das Ganze den Charakter eines hemdsärmeligen Startups. Ihre Geschäftsbesprechungen halten sie im Schwimmbad ab, zur Tarnung arbeiten die beiden nach wie vor im Supermarkt und rekrutieren von dort auch ihr Personal. Doch wie das so ist im Drogengeschäft ist – wo der Erfolg ist, da lauert auch die Gefahr. Und schon bald müssen auch Pedro und Marques feststellen, dass das Drogengeschäft ein tödliches Business sein kann.

Aufstieg und Fall von Drogenhändlern

Supermarkt zeichnet recht geradlinig und wenig überraschend den Weg nach, den in der Popkultur die meisten Drogenbarone nehmen. Der Aufstieg aus einfachen Verhältnissen, die Skalierung ihres Drogenbusinesses bis hin zum brutalen Fall, das alles ist der schon fast archetypische Entwicklungsbogen, den auch José Falero hier bedient.

Die mäßige Originalität wird durch den Job der beiden Männer im Supermarkt und den Einblick in ihre Lebenswelt in Porto Alegre ein Stück weit wieder aufgefangen.

Was aber bei Supermarkt, der in Brasilien mit über 40.000 verkauften Exemplaren zum Überraschungerfolg avancierte, in meinen Augen wirklich nachteilig ins Gewicht fällt, ist das manchmal arg erdrückende Dozieren, in die vor allem Pedro immer wieder verfällt. Seine monologisierende Kapitalismuskritik, die er Marques seitenlang darlegt oder die akribische Darstellung des Geschäftsplans, wie man das Geschäft mit den Drogen immer größer aufziehen kann, sie wirken eher wie Exkurse aus einem Sachbuch denn ein schneller Roman über einen schnellen Aufstieg der beiden Amateuer-Escobars.

Fazit

Wer sich davon nicht schrecken lässt, der bekommt mit Supermarkt eine Erzählung zweier Nobodys im Drogenbusiness, das den Bildungsweg der Protagonisten von einfachen Supermarkmitarbeitern mit krimineller Energie hin zu erfolgreichen Dealern in Porto Alegre nachzeichnet. Zwar erfindet José Falero mit dieser Drogengeschichte das Rad nicht neu, liefert aber mit Abstrichenen einen soliden Roman ab, der sich von den vielen anderen Aufstiegserzählungen im Drogengeschäft zuvorderst durch seinen Handlungsort unterscheidet. Ansonsten klare Genreunterhaltung, die von Nicolai von Schweder-Schreiner aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt wurde.


  • José Falero – Supermarkt
  • Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner
  • ISBN 978-3-455-01662-8 (Hoffmann und Campe)
  • 320 Seiten. Preis: 25,00 €

Isaac Rosa – Ein sicherer Ort

Hoch stapeln und tief graben. In seinem Roman Ein sicherer Ort rückt der Spanier Isaac Rosa drei Generationen an windigen Geschäftsmännern in den Mittelpunkt und erzählt von der Endzeitfaszination, die Prepper und ökologische Aussteiger umtreibt.


Tunnel und Bunker, sie faszinieren die Menschen seit Generationen. Setzte zu Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine der von mir Bunker-Journalismus getaufte Trend ein, hierzulande stillgelegte Bunker und deren Rettungspotential wieder journalistisch zu beleuchten, sorgte unlängst die TikTokerin Karla alias Tunnelgirl für Aufsehen. Ihr Kurzvideos wohldokumentiertes Vorhaben: unter ihrem Haus einen Tunnel mit dem Ziel eines Sturmschutzbunkers zu bauen. Ein Vorhaben, das die Behörden vereitelten, der jungen Frau aber jede Menge Aufmerksamkeit bescherte.

Isaac Rosa - Ein sicherer Ort (Cover)

Die Möglichkeit eines exklusiven Rückzugsortes in die Tiefe der Erde, ob in Folge von Krieg oder anderer Katastrophen, sie ist virulent. Auch Segismundo García, der Ich-Erzähler in Isaac Rosas neuem Roman, hat dieses Bedürfnis nach Abschottung und Sicherheit erkannt.

Er bietet seinen Klienten einen sogenannten „Sicheren Ort“, in den sie sich im Notfall zurückziehen können, um alle möglichen apokalyptischen Szenarien zu überleben. Eine Firma als Geschäftspartner für sein Vorhaben hat er auch schon an der Hand, Kunden stehen Schlange – nur mit dem Kredit für sein unternehmerisches Vorhaben mag es nicht so richtig klappen.

Und so tingelt er von Termin zu Termin, lässt sich von begeistern Ehemännern und skeptischen Ehefrauen Kellerabteile vorführen, besichtigt ausgeschalte Pools der Oberschicht oder Tiefgaragen in Neubaugebiete, immer mit dem Ziel, eine Vorfinanzierung für einen Sicheren Ort herauszuschlagen. Es ist ein mehr als windiges System, mit dem er endlich auf seinen großen Durchbruch hofft.

Abgestürzt mit dem gesellschaftlichen Fahrstuhl

So gut es geht, verschweigt er dabei aber den Familiennamen, denn dieser lässt nichts Gutes hoffen. Schließlich war es sein Vater Segismundo García, der mit ähnlich windigen Konzepten und der Vision einer Zahnarztketten mit Dumpingpreisen erst hoch stieg, um dann tief zu fallen. Bis hinab ins Gefängnis.

Wir werden immer besser. Steigen immer weiter auf. Der Gesellschaftliche Fahrstuhl, weißt du noch? Ein Ausdruck nach deinem Geschmack. Kaum gehört, machtest du ihn dir zu eigen. Der Gesellschaftliche Fahrstuhl! Wir waren das beste Beispiel dafür, dass es ihn gab und dass er gut funktionierte. Garcías wie so viele andere, 08/15-Garcías, Garcías von ganz untern, aus dem Nichts, die sich durch Arbeit, durch harte Arbeit, Stockwerk um Stockwerk hochgekämpft hatten, in die oberen Etagen, auf dem Weg ins Penthouse. Bis es plötzlich eine Panne gab und unter unseren Füßen der Boden des Aufzugs wegbrach; du fielst durchs Loch, und ich blieb hängen, klammerte mich mit den Fingerspitzen fest, mit Nägeln, und da bin ich immer noch, rutsche Millimeter um Millimeter ab, ein Finger nach dem anderen löst sich, aber noch bin ich nicht gefallen.

Isaac Rosa – Ein sicherer Ort, S. 50 f.

Zweifelhafte Geschäftemacherei liegt quasi in der DNA dieser Familie, in der Segismundo II. zwar kämpft, seine Bemühungen aber auch zum Scheitern verurteilt sind. Denn obwohl er sich abmüht, seinen Sohn Segismundo III. an einer elitären Privatschule zu parken und dem Sohn so Anschluss an die Kreise zu verschaffen, zu denen sein Vater und er längst den Anschluss verloren haben, zeigt auch der jüngste Spross, dass sich die DNA des Riskos und des Hochstapelns auch bei ihm vererbt hat.

Drei unterschiedliche Generationen an Hasardeuren, vereint durch ihren Namen und das Streben nach dem großen Geld. Isaac Rosa zeigt sie, indem der einen erzählerisch engen Rahmen wählt. Einen einzigen Tag umfasst die Handlung von Ein sicherer Ort. An diesem Tag erleben aber alle drei Generationen ihre großen Momente, die Rosa in einer Mischung aus Rückblenden und vorwärtstreibender Handlung erzählt. Ein Tag, bei dem Segismundos sich festklammernde Hände ein Stück weit mehr abrutschen vom gesellschaftlichen Parkett und ein Tag, an dem der finale Absturz noch ein ganzes Stück näher rückt.

Drei Generationen von Hasardeuren

Während sich der Ich-Erzähler Segismundo mit Terminen für Bunkerbegeisterte herumschlägt und auf eine Kreditzusage seiner Bank hofft, sitzt der junge Segismundo an der Privatschule gehörig in der Tinte. Und der demente, mit Du adressierte Patriarch dieses halbseidenen Clans, er wird von einer Pflegekraft betreut, schafft es aber dennoch, von zuhause auszureißen und macht sich auf den Weg durch die nicht näher benannte Stadt.

Um diese Verquickung dreier Generationen und deren individuellen Problemen herum baut Isaac viele Reflektionen des erzählenden Segismundo ein. Allmählich ergibt sich ein klares Bild der Familie und ihrer Hintergründe. Auch blickt Ein sicherer Ort auf die Bunkerfixierung und das Bedürfnis nach Sicherheit und Abschottung. Der Roman umkreist die Faszination des Endes, auf das sich Prepper und ökologische Aussteiger mit unterschiedlich, dann aber doch wieder ähnlichen Strategien vorbereiten.

Überhaupt. Auf die ökologischen Gemeinschaften hat es Segismundo abgesehen. Spätestens, seitdem ihn seine Frau verlassen und sich als Sympathisantin der Aussteigerbewegung erwiesen hat, pflegt Segismundo seinen Hass auf die von ihm „Tonkrügler“ getauften Ökos, die sich für ihn auch nicht nennenswert von den egoistischen Preppern unterscheiden. Seine Tiraden strukturieren diesen Roman – und liefern dann sogar noch einen subtilen Anknüpfungspunkt an Rosas letzten Roman.

Fazit

Insgesamt gelingt Isaac Rosa in diesem von Luis Ruby ins Deutsche übertragenen Roman ein durchaus komisches Porträt dreier Generationen von Hochstaplern und Luftikussen, der auch von unserem Sicherheitsbedürfnis und der Lust nach Blendung erzählt.

Ein sicherer Ort ist ein gelungener Schelmenroman zwischen Bunkern und „Tonkrüglern“, Blendern und Geblendeten. Dargeboten wird dieser Kreuzweg einer Desillusionierung in einer wilden Suada aus Stream of Consicousness, der von Luis Ruby gelungen ins Deutsche übertragen wurde. Nicht nur für Sichere Orte eine hervorragende Lektüre!


  • Isaac Rosa – Ein sicherer Ort
  • Aus dem Spanischen von Luis Ruby
  • ISBN 978-3-95438-174-6 (Liebeskind)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €

Lauren Groff – Matrix

Nein, mit den Spielfilmen der Wachowskis hat Lauren Groffs neuer Roman Matrix wirklich nichts zu tun, auch wenn das Cover mit seiner leicht psychedelischen Anmutung falsche Fährten setzt. Vielmehr hilft der Blick ins lateinische Wörterbuch, das für Matrix die Bedeutungen der Mutter, des Muttertiers und der Stammmutter ausweist. Alle diese Funktion nimmt in Groffs historischem Roman die Nonne Marie war, die zur Beginn des Hochmittelalters ein Kloster zur wirtschaftlicher Blüte führt und dem Patriachat den Kampf ansagt.


Mit diesem Roman ist Lauren Groff eine wirkliche Überraschung gelungen. Bislang waren ihre Romane im Bezugsrahmen der jüngeren amerikanischen Geschichte oder Gegenwart angesiedelt (etwa die Flower-Power- Ära in Arcadia oder die Gegenwart in Licht und Zorn) und spielten stets in Amerika (so zuletzt auch Groffs Kurzgeschichtensammlung Florida). Nun aber bricht sie mit diesen erzählerischen Gepflogenheiten vollständig.

Statt amerikanischer Gegenwart setzt Matrix nämlich im Jahr 1158 ein. Eleanore von Aquitanien verbannt Marie, eine uneheliche Schwester der Krone, und schickt sie in die Einöde nach England. Dort soll sie Priorin in einem darbenden Kloster werden und so möglichst vom Thron und ihrem bisherigen höchst annehmlichen Leben ferngehalten werden.

Sister, act!

Lauren Groff - Matrix (Cover)

Vor Ort stellt sich die Situation als katastrophal heraus. Zu Essen gibt es so gut wie nichts, Kälte und Entbehrung dominieren das Leben der wenigen Schwestern. Doch als Maries Sehnen nach der Heimat keinen Erfolg zeitigt, beschließt die junge Priorin in einem Akt der Selbstermächtigung, von nun an die Geschicke des Klosters in die eigenen Hände zu nehmen.

Beharrlich setzt sie auf neue Strategien, um das Leben der Schwestern annehmlicher zu gestalten. Vom benediktinischen Ideal des vita contemplativa hält Marie gar nichts, vielmehr strebt sie ein vita activa an.

Dabei schrickt sie auch vor Gewalt und Einschüchterung nicht zurück, um betrügerische Pachtbauern und unwillige Chorherren auf Linie zu bringen. Dank ihrer überragenden und wenig femininen Gestalt wird sie schon zu einem gefürchteten und bewunderten Mythos, der das Kloster zu neuer Blüte führt.

Sie verwandelt die Abtei in ein prosperierendes Refugium, in dem Männer keinen Zutritt haben. Visionen verheißen ihr neue Aufträge wie etwa ein riesiges Labyrinth oder ein Äbtisinnenhaus, das mit der Zeit entsteht. Doch wo Frauen Erfolge feiern und sich ihrer Privilegien zu gewiss sind, da wächst auch der Hass.

Sowohl Klerus als auch die Dorfbevölkerung blicken neidisch auf das Werk Maries, das diese mit ihren Nonnen immer wieder verteidigen muss, um ihr Kloster gegen missliebige Einflüsse und Gewalt von Außen zu schützen.

Eine moderne Geschichte in altem Gewand

Matrix ist eine moderne Geschichte im Gewand einer alten Erzählung. So sind die Themen, mit denen sich die Äbtissin Marie auseinandersetzen muss, heute genauso aktuell wie im Setting des Hochmittelalters, das Lauren Groff hier ausgewählt hat. Neid, Missgunst und die Gefahr von Männern, denen Frauen mit zu viel Einfluss und Erfolg ein Dorn im Auge sind, die von diesen lieber kleingehalten werden sollen, es sind die Themen, die in Maries Klosterwelt genauso wie in unserer Gegenwart präsent sind.

Schön, dass Groff in ihrer Selbstermächtigungsgeschichte aber nicht den Fehler einer Hagiographie Maries begeht. Ihre Äbtissin ist fehlerhaft, wenig heilig, kämpft mit Worten und Taten und biegt sich auch das Wort Gottes zurecht, um sich ihrer Widersacher oder Konkurrentinnen zu entledigen. Heilig ist an Marie häufig nichts – von ihrem Begehren bis hin zu ihrem Handeln. Das schafft das plastische Bild einer widerspenstigen und kreativen Frau, die als Denkerin und Managerin des Klosters geradezu einem BWL-Seminar über Produktivitätssteigerung entsprungen sein könnte oder die als Schutzheilige aller Betriebsprüfer eine gute Figur machen würde.

Mutter für die Priorinnen, Muttertiere als militante Beschützerin ihres Klosters und der Gemeinschaft von Frauen sowie Stammmutter, die für eine neue Form der Weiblichkeit steht und der das Fortleben ihres Klosters von höchster Bedeutung ist, all diese Facetten finden sich so im Wesen der Matrix Marie.

Auf den Spuren der Säulen der Erde

Mit diesem Buch rückt Lauren Groff dabei natürlich auch in die Nähe des Referenztitels, was historische Schmöker im mittelalterlichen Umfeld angeht, nämlich Ken Folletts Bestseller Die Säulen der Erde.

Was im Mittelalter-Roman des Briten der Bau einer Kathedrale auf englischem Boden war, ist bei Lauren Groffs Matrix der Ausbau des Klosters, der von einer zugigen Ruine mit einer verschreckten Schar Nonnen zu einem prosperierenden und einflussreichen Wirtschaftszentrum unter weiblicher Selbstverwaltung gerät.

Neben vielen erzählerischen Parallelen beider Bücher liegt natürlich aber auch eine entscheidende Frage auf der Hand: kann Lauren Groff dem Millionenseller von Follett literarisch die Stirn bieten?

Das ist zweifelsohne der Fall, denn wo bei Follett stereotype Figuren den Roman bevölkern, die sich ganz banal in Gut-Schlecht-Kategorien einsortieren und denen kaum Entwicklung zugestanden wird, so gerät die Sache bei Groff doch deutlich differenzierter und interessanter. Hier gibt es kein simples Schwarz und Weiß, sondern widersprüchliche Menschen, die das Leben im Kloster auch nicht vor Fehlern (oder meinetwegen Sünden) wie Hoffart, Lügen oder Mord schützt.

Das ist ausnehmend interessant erzählt und besticht trotz allem Drängen und Vorwärtsstreben Maries eben auch durch nuancierte Zeichnungen aller Figuren und Konflikte – was man bei Follett oftmals vergeblich sucht.

Fazit

Mit Matrix liefert Lauren Groff die feministische Antwort auf Ken Folletts Mittelalter-Schmöker Die Säulen der Erde – und überflügelt ihren Kollegen in meinen Augen deutlich. Ihre Beschreibung vom Kampf der Äbtissin Marie um Selbstständigkeit und den Erfolg des von ihr verwalteten Klosters besticht durch eine differenzierte Zeichnung ihrer Heldin, die sich mit einem Lob der feministischen Selbstermächtigung verbindet. Überraschend und überzeugend ist dieses Buch!


  • Lauren Groff – Matrix
  • Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
  • ISBN 978-3-546-10037-3 (Claassen)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €

Baret Magarian – Die Erfindung der Wirklichkeit

Es gibt wirklich spektakulärere Leben als jenes, das Oscar Babel führt. Nachdem der Erfolg und die Inspiration als Maler ausblieben, fristet er nun als Kinovorführer sein Dasein. Da ihm dieses Leben zu trist ist, beschließt sein Bekannter Daniel Bloch zumindest auf dem Papier für etwas Schwung in Babels Leben zu sorgen. Doch die Fiktion wird schnell zur Realität – mit ungeahnten Folgen, wie Baret Magarian in Die Erfindung der Wirklichkeit zeigt.


Es sind zunächst äußerst subtile Änderungen, die Bloch seiner Version von Oscar Babel auf den Leib schneidert beziehungsweise schreibt. Er mag plötzlich die Kompositionen Wagners und sein Vermieter, in realiter ein echter Haustyrann, umschlingt diesen mit Liebe. Beängstigend wird es allerdings, als diese auf dem Papier erdachten Veränderung tatsächlich in Babels Leben Einzug halten. Sein Vermieter ist frisch verliebt, Tristan und Isolde üben plötzlich einen hohen Reiz auf Babel aus, er wird zum Aktmodell – und ein Kätzchen läuft ihm auch noch zu.

Bei diesen Veränderungen bleibt es nicht – denn Babel gerät in den Fokus des Medien-Impressarios Ryan Rees, der Babel zu einer Art modernem Propheten aufbauen will. Er steckt viel Geld in eine Kampagne, die Oscar Babel bekannt machen soll. Bei der Verleihung des Duchamp-Preises beleidigt er die anwesenden potentiellen Preisträger*innen, später werden einzelne Reden von Babel aufgenommen und entwickeln sich zum Hit. Und dann bucht Rees auch noch den Park Kensington Gardens, wo Babel erstmals vor großem Auditorium auftreten soll. Dieser Gig entwickelt sich dann aber völlig unerwartet und weckt an Erinnerungen an das Geschehen, das einst ein literarischer Antiheld namens Jean-Baptiste Grenouille mit seinem Parfum auf dem Marktplatz von Grasse auslöste.

Der Aufstieg des einen, der Abstieg des anderen

Während Oscar Babel zum Stadtgespräch avanciert, geht es mit dem Initiator von Babels Aufstieg immer weiter bergab. Bloch will nach den beängstigenden Ergebnissen seiner Fiktion von Babels Neuschreibung ablassen – und wird immer kränker, während den Menschen um ihn herum allzu Unwahrscheinliches geschieht.

Baret Magarian - Die Erfindung der Wirklichkeit (Cover)

Davon erzählt Baret Magarian, der mit Die Erfindung der Wirklichkeit nun zum ersten Mal auf Deutsch zu lesen ist. Ähnlich wie seine Figur Oscar Babel hat auch Magarian schon als Aktmodell gearbeitet, zudem nennt der Verlag noch Tätigkeiten als Theaterregisseur, Übersetzer, Musiker oder Dozent, derer der Autor mit anglo-armenischen Wurzeln schon nachgegangen ist.

Seinem Buch stehe ich etwas zweigespalten gegenüber. So ist die Idee eines Aufstiegs eines Nobodys durch literarische Fiktion und skrupellose Medienmanager hin zu einem vieldiskutierten Mann mit hoher Reichweite durchaus interessant. Vor allem in Bezug auf das Spiel mit der Öffentlichkeit, die in Babel Dinge sehen möchte, die er gar nicht vorweisen kann, ist das Buch durchaus interessant und weist einige Parallelen zur Gegenwart auf.

Dennoch funktioniert das Buch für mich leider nicht wirklich. Mit Humor ist es ja eh so eine Sache, ist er doch höchst subjektiv und erreicht Menschen ganz unterschiedlich. Hier war ich für die Satire, die von vielen Seiten aus gepriesen wird, nicht wirklich empfänglich. Und auch in der „Gesellschaft der modernen europäischen Meister“ sehe ich dieses Buch im Gegensatz zum Klappentextlob von Jonathan Coe nicht wirklich, selbst wenn Magarian seinem Buch ein Zitat aus Bulgakows Der Meister und Magarita voranstellt.

Eine Nummernrevue und alberne Figurennamen

Das beginnt mit der Benennung von Figuren wie eben Oscar Babel, Vernon Lexicon, Tracy Fudge oder einer Journalistin namens Rebecca Murdeck, die man durchaus als satirisch bezeichnen kann, ich allerdings nur albern fand. Mag man über solche geschmacklichen Petitessen noch streiten, reichen meine Schwierigkeiten – und hier wird es deutlich gravierender – bis zur Struktur des Buchs selbst, das mir zu oft in eine klamaukige Nummernrevue zerfällt, anstatt eine stringente Geschichte zu erzählen.

So gibt es immer wieder eine komische Szenen wie die des Wahrsagers Alexi Sopso (auch hier wieder so ein überdrehter Name), der sich als völliger Dilettant seiner Zunft herausstellt. Das hält ihn dennoch nicht davon ab, seine Kundin zu überreden, bei einem Abendessen mit seinen strengen Eltern als Alibi-Freundin zu fungieren. Auch andere Szenen offenbaren Magarians Sinn für Komik, etwa wenn eine Figur ihr eigenes Haus anzündet oder Babel bei einem äußerst merkwürdigen Dreh für einen Dokumentarfilm zugegen ist.

Insgesamt fehlt der Geschichte in meinen Augen aber etwas der Zug und der klare Fokus auf die Erzählabsichten Baret Magarians. Sein Handling der Figuren ist nicht immer ganz souverän, denn während Bloch ziemlich schnell aus dem Fokus gerät, schieben sich andere Nebenfiguren in den Vordergrund, um erst viele Dutzend Seiten später wieder eine Rolle zu spielen, während sich immer wieder wirre Pamphlete Blochs oder Online-Artikel im Buch finden, die das Ganze etwas zerfahren wirken lassen. Darüber hinaus befremdeten mich Formulierungen wie die der Essenstafel beim Duchamp-Preis, die im Lauf des Abends langsam vergewaltigt wird.

Fazit

An solchen Stellen hatte ich das Gefühl, dass Magarian selbst seine Fabrikation, wie der Titel im englischen Original heißt, etwas entglitten ist. Vielleicht bin ich aber auch einfach nicht sonderlich empfänglich für den im Buch gepflegten Humor dieser parabelhaften Satire und kurzum schlicht der falsche Leser. Aber mit etwas mehr erzählerischem Zug, klareren Fokus auf die Hauptfiguren und eine weniger ausufernde Erzählweise hätte es vielleicht geklappt mit mir und der Erfindung der Wirklichkeit. So bleibt bei mir leider der Eindruck einer lauwarmen und deutlich zu langen Satire, der einige Straffungen gutgetan hätten.


  • Baret Magarian – Die Erfindung der Wirklichkeit
  • Aus dem Englischen von Cathrine Hornung
  • ISBN 978-3-85256-861-4 (Folio Verlag)
  • 481 Seiten. Preis: 28,00 €