Tag Archives: Berlin

Benedict Wells – Spinner

Bekenntnisse eines Slackers

Jesper Lier ist ein Slacker, wie er im Buche steht. Mit seinen zwanzig Jahren ist er nach der Schule aus München ins große Berlin gezogen und lebt nun in der Hautpstadt in den Tag hinein. Sein Praktikum beim Berliner Merkur ist eigentlich nur lästiger Broterwerb, seine wahre Leidenschaft gilt der echten Literatur und damit seinem Romanprojekt Der Leidensgenosse. An diesem 1200-seitigen Mammutwerk schreibt Jesper nachts unter Zuhilfenahme von Tabak und Alkohol. Und er schreibt. Und schreibt. Und schreibt.

pressebild_spinnerdiogenes-verlag_72dpiWir beobachten Jesper nun eine Woche lang, von Montag bis Sonntag – eine Art Wochen-Ulysses. Sieben Tage lang taumelt Jesper durch die Stadt und sein Leben, zerrissen zwischen Familiengeburtstagen, Schreiben, Partys und dem Wunsch sich zu verlieben. Meist scheitern Jespers Pläne und man beobachtet den jungen Mann, wie er nichts Handfestes zuwege bekommt und antriebslos durch die Hauptstadt steuert. Sein Leben gleicht einer Bummelbahn auf abschüssigen Gleisen, und das bei einer sehr kurvigen Route. Continue reading

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Christian Kracht – Die Toten

Ein neues Buch von Christian Kracht ist immer ein Ereignis – der Rummel um seinen letzten Roman Imperium war immens und die Wogen der Debatten schlugen (in meinen Augen völlig ohne Grund) hoch. Nun hat Kracht seinen nächsten Titel Die Toten veröffentlicht – was kann das Buch?

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Nach der wahren und höchst kuriosen Lebensgeschichte des Kokovaren August Engelhardt, der mithilfe seiner Kokosnuss-Sekte die Welt retten wollte, taucht Kracht nun ein in die fiebrige Welt der Weimarer Republik und in die des japanischen Kaiserreichs.

Er erzählt vom Schweizer Filmregisseur Emil Nägeli, der von Alfred Hugenberg, dem mächtigen Chef der UFA in Berlin, in einen wilden Plan eingespannt wird. Nägeli soll einen Film drehen – am besten mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle – der eine filmische Achse zwischen Deutschland und dem Japanischen Kaiserreich herstellen soll. Denn Hugenberg ist gewillt, den Streifen aus Hollywood die Stirn zu bieten – und Nägeli soll die Sache schaukeln …

Das Filmgeschäft in Berlin

Lotte Eisner, Charlie Chaplin, Siegfried Kracauer, Alfred Hugenberg – die Namen die Kracht in seinem neuen Roman auffährt, sind mehr als groß. Er führt direkt hinein ins damals boomende Filmgeschäft in Berlin, das Hollywood der Hauptkonkurrent war. Regisseure wie Fritz Lang sorgten für eine kreative Blüte in der Landes – und auch Kracht scheint diese Epoche beflügelt zu haben.

Die Sprache des Autors funkelt und blitzt – es ist ein Genuss dieses Geschichte zu lesen. Doch abseits von der kunstvollen Prosa bietet Die Toten eigentlich nicht viel außer jeder Menge Budenzauber. Nach der Beendigung der Lektüre überriss ich noch einmal die Handlung und hatte dabei das Gefühl, ein kunstvolles literarisches Baiser verzehrt zu haben, das recht schnell in sich zusammenfiel.

Die Rahmenhandlung des Romans ist für meinen Geschmack dann doch etwas zu banal (und auch etwas zu konstruiert), als dass das Buch länger im Gedächtnis bliebe oder in einen Literaturkanon aufgenommen werden müsste. Ein wunderbar geschriebenes Buch für Zwischendurch, aber große Kunst geht dann doch leider anders (und tiefer).

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Oliver Hilmes – 1936

Sechzehn Tage im August 1936 – diese sind das Gerüst für das Buch von Oliver Hilmes. Und diese Tage haben es in sich. In Berlin findet zu dieser Zeit die Spiele der XI. Olympiade statt, die das ganze Land elektrisieren und deren Auswirkungen auf der ganzen Welt spürbar sind.

Berlin 1936 von Oliver Hilmes

Berlin 1936 von Oliver Hilmes

Nach der Machtergreifung durch Adolf Hitler im Jahr 1933 haben die Nationalsozialisten Deutschland im Handstreich erobert, doch das Gesicht, dass das Land nun der Welt zeigen will, ist ein anderes. Das Erscheinen des Stürmers wird eingestellt, jüdische oder farbige Sportler dürfen an den Spielen teilnehmen und im Olympischen Dorf zeigt man sich von seiner kosmopolitischen Seite. Hitler-Deutschland generiert sich als Förderer des Sports und Göring, Goebbels und Hitler geben Empfänge und lassen sich an den Sportstätten sehen. Leni Riefenstahl dreht ihren berühmt gewordenen Streifen Olympiade – und in den Bars und Kneipen tanzt man zu Jazz und genießt die Freiheit, die die Olympischen Spiele den Berlinern bietet.

Chronologisch gliedert Oliver seine Erzählung in die sechzehn Augusttage, stets eingeleitet durch ein Foto mit Bezug auf das folgende Kapitel und einen Auszug aus dem Reichswetterdienst des aktuellen Tages. Was darauf folgt sind kurze Schlaglichter aus den Geschehnissen am aktuellen Tag, mal tauchen die Fäden später im Buch wieder auf, mal sind es nur kurze Leuchtfeuer von Leben und Sterben. Neben den Nazigrößen blickt Hilmes in seinem Buch auch auf die kleinen Berliner, Soldaten in geheimer Mission in Spanien oder Jazzmusiker, für die diese Augusttage große Bedeutung haben. Ihm gelingt so ein kurzweiliges, anektdotenreiches und stupendes Buch über Tage des Ausnahmezustandes, bei denen Jesse Owens die Spiele dominierte und unter den Augen der Machthaber als Farbiger von Weltrekord zu Weltrekord eilte. Nicht die einzige Pointe der Weltgeschichte, die Hilmes in seinem neuen Buch schildert.

Dieses schön komponierte Buch hat auch einen Bruder im Geiste, und zwar ist dies Florian Illies‘ 1913. Wer an letzterem Buch Freude hatte, der wird auch die Lektüre von Berlin 1936 nicht bereuen!

 

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Thomas Hettche – Pfaueninsel

Die Pfaueninsel inmitten der Havel, 22 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt. Diese Insel hat eine höchst wechselvolle Geschichte hinter sich, die Thomas Hettche in seinem neuen, mit zahlreichen Literaturpreisen gekrönten Roman wieder zum Leben erweckt. Der Mikrokosmos dieser Insel ist zugleich eine Schilderungen der Verwerfungen im 19. Jahrhundert und eine Einführung in die Welt der Gartengestaltung nebst einem Ausflug in die Geschichte des Preußischen Adels.

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Erzählt wird die Geschichte dabei aus der Sucht von Maria Dorothea Strakon, einem Schloßfräulein, die mit ihrem Bruder auf der Pfaueninsel lebt. Das Besondere hierbei: die Geschwister sind kleinwüchsig und wurden vom Preußischen König zur Pflege und als Faszinosum auf die Insel geschickt. Doch nicht nur das kleinwüchsige Geschwisterpaar bewohnt die Insel. Auch verschrobene Hofgärtner, ein echter Hawaiianer und weitere wunderliche Gestalten bevölkern das Eiland in der Havel.

Das Personal, das Thomas Hettche dabei in seiner Erzählung versammelt, ist ebenso außergewöhnlich wie einprägsam. Immer wieder wirft der Leser dabei Blicke auf Marias Leben gleich einem der vielen Beobachter, die auf die Insel kommen, um Pflanzen, Tiere und die außergewöhnlichen Menschen zu beobachten oder vielmehr zu begaffen.

Die Perspektive des kleinwüchsigen Schlossfräuleins ist dabei gut gewählt. Denn außer einem Grabstein mit den Lebensdaten gibt es eigentlich keine Informationen über die reale Maria Dorothea Strakon. Dies lässt Hettche viel Raum zur kreativen Gestaltung, die er zu nutzen weiß. Wie einst Günter Grass mit Oskar Mazerath einen Protagonisten ersann, der einen ganz eigenen Blick auf die Welt hat, so schafft es auch Hettche hier, aus Maries Augen den Blick auf die Welt zu wagen. Obwohl sie eigentlich nur auf Augenhöhe mit den Pflanzen der Insel ist, schafft sie es mit eine eigenen Blickwinkel, die Eigenheiten von Adel, Natur, Sexualität und Zeitenwenden zu beleuchten.

Höchste Sprachkunst von Thomas Hettche

Pfaueninsel zeugt von höchster Sprachkunst. Mit welchen gewandten Formulierungen und Beschreibungen der Autor seine Geschichte auskleidet, das sucht seinesgleichen. Ein Vergnügen allerhöchster Güte, welches man nicht so oft im Bücherregal findet!

Gleich der im Buch beschriebenen Gartenkunst und Weggestaltung ist auch dieses Buch ein Roman, der durch die Zeit zwischen Preußischen Adelsnachwehen und Beginn der Industrialisierung (hier beeindruckt besonders die dichte Beschreibung des Berliner Feuerlands) entlangmäandert und viele Aussichtspunkte und Sichtachsen öffnet. Die vielen Preise, die das Buch bislang einheimste, sind meiner Meinung nach durchaus gerechtfertigt. Falsch macht Thomas Hettche in diesem Buch überhaupt nichts. Sprache, Konstruktion des Plots und inhaltliche Durchdringung sind aufs Wunderbarste geraten und machen das Buch zu einem Genuss!


Bruder dieser Erzählung im Geiste ist für mich Robert Seethalers Ein ganzes Leben. Auch ihm gelingt es hier, ein einfaches Leben mit großer Kunstfertigkeit zu schildern. Die Leben werden dazi zum Spiegel der Geschichte eines ganzen Jahrzehnts. Für beide Titel uneingeschränkte und begeisterte Empfehlung!

  • Thomas Hettche – Pfaueninsel
  • ISBN: 978-3-462-04599-4 (Kiepenhuer & Witsch)
  • 352 Seiten, 19,99 €
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Hanns-Josef Ortheil – Die Moselreise

Noch vor seiner Berlinreise unternahm Hanns-Josef Ortheil als Junge bereits schon einmal eine Reise mit seinem Vater. Diese Moselreise führte ihn von Koblenz das Moseltal entlang bis nach Trier, völlig entschleunigt im Juli 1963. Die Adenauer-Jahre beherrschten Deutschland und eine heute gar nicht mehr vorstellbare Langsamkeit hüllte die BRD ein. Hanns-Josefs Vater nimmt sich Zeit für sein Kind und wandert mit ihm in kleinen Etappen die Strecke gen Trier, während die Mutter daheim in Köln weilt.

Die Moselreise von Hanns-Josef Ortheil

Die Moselreise von Hanns-Josef Ortheil

Auch wenn die Mutter nicht aktiv an der Reise teilnimmt, so begleitet sie Vater und Sohn doch beständig, die vielen Postkarten und Gedanken, die Ortheil an seine Mutter schickt, sind im Buch durch Einschübe eingefügt. Das Buch ist genau wie die Berlinreise auch wieder eine Collage aus Postkarten, Texten, Betrachtungen und Exkursen, die der junge Hanns-Josef Ortheil im Nachgang der Reise arrangierte und seinen Eltern schenkte, um sie an seinen Erlebnissen teilhaben zu lassen.

Die jetzige Ausgabe dieser Moselreise ist umgeben von einem Vor- und Nachwort, das das kindliche Reisetagebuch in Ortheils Werdegang als Schriftsteller einordnet. Beeindruckend hierbei ist die Klarsichtigkeit des Autors, der reflektiert das mit seinem Vater Erlebte in seiner Biografie einordnet. Auch rührt die Schilderung der zum zweiten Mal erlebten Moselreise an, die Ortheil noch im Nachwort anfügt. Als sein Vater gestorben war, unternahm der Schriftsteller die identische Reise einmal mehr, auch um sich seines Vaters zu erinnern. Der geschilderte Übergang von Erleben zu Erlebtem und Erinnern ist eindrücklich gelungen. Man liest und staunt über die Präzision und Ortheils und sein schriftstellerisches Geschick, das schon als Kind in ihm angelegt ist.

Ein kindlich, unschuldiges Buch, das die Lust nach einer ebensolch entschleunigten Reise zu wecken vermag!

 

 

 

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