Tag Archives: Berlin

Thomas Hettche – Pfaueninsel

Die Pfaueninsel inmitten der Havel, 22 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt. Diese Insel hat eine höchst wechselvolle Geschichte hinter sich, die Thomas Hettche in seinem neuen, mit zahlreichen Literaturpreisen gekrönten Roman wieder zum Leben erweckt. Der Mikrokosmos dieser Insel ist zugleich eine Schilderungen der Verwerfungen im 19. Jahrhundert und eine Einführung in die Welt der Gartengestaltung nebst einem Ausflug in die Geschichte des Preußischen Adels.

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Erzählt wird die Geschichte dabei aus der Sucht von Maria Dorothea Strakon, einem Schloßfräulein, die mit ihrem Bruder auf der Pfaueninsel lebt. Das Besondere hierbei: die Geschwister sind kleinwüchsig und wurden vom Preußischen König zur Pflege und als Faszinosum auf die Insel geschickt. Doch nicht nur das kleinwüchsige Geschwisterpaar bewohnt die Insel. Auch verschrobene Hofgärtner, ein echter Hawaiianer und weitere wunderliche Gestalten bevölkern das Eiland in der Havel.

Das Personal, das Thomas Hettche dabei in seiner Erzählung versammelt, ist ebenso außergewöhnlich wie einprägsam. Immer wieder wirft der Leser dabei Blicke auf Marias Leben gleich einem der vielen Beobachter, die auf die Insel kommen, um Pflanzen, Tiere und die außergewöhnlichen Menschen zu beobachten oder vielmehr zu begaffen.

Die Perspektive des kleinwüchsigen Schlossfräuleins ist dabei gut gewählt. Denn außer einem Grabstein mit den Lebensdaten gibt es eigentlich keine Informationen über die reale Maria Dorothea Strakon. Dies lässt Hettche viel Raum zur kreativen Gestaltung, die er zu nutzen weiß. Wie einst Günter Grass mit Oskar Mazerath einen Protagonisten ersann, der einen ganz eigenen Blick auf die Welt hat, so schafft es auch Hettche hier, aus Maries Augen den Blick auf die Welt zu wagen. Obwohl sie eigentlich nur auf Augenhöhe mit den Pflanzen der Insel ist, schafft sie es mit eine eigenen Blickwinkel, die Eigenheiten von Adel, Natur, Sexualität und Zeitenwenden zu beleuchten.

Höchste Sprachkunst von Thomas Hettche

Pfaueninsel zeugt von höchster Sprachkunst. Mit welchen gewandten Formulierungen und Beschreibungen der Autor seine Geschichte auskleidet, das sucht seinesgleichen. Ein Vergnügen allerhöchster Güte, welches man nicht so oft im Bücherregal findet!

Gleich der im Buch beschriebenen Gartenkunst und Weggestaltung ist auch dieses Buch ein Roman, der durch die Zeit zwischen Preußischen Adelsnachwehen und Beginn der Industrialisierung (hier beeindruckt besonders die dichte Beschreibung des Berliner Feuerlands) entlangmäandert und viele Aussichtspunkte und Sichtachsen öffnet. Die vielen Preise, die das Buch bislang einheimste, sind meiner Meinung nach durchaus gerechtfertigt. Falsch macht Thomas Hettche in diesem Buch überhaupt nichts. Sprache, Konstruktion des Plots und inhaltliche Durchdringung sind aufs Wunderbarste geraten und machen das Buch zu einem Genuss!


Bruder dieser Erzählung im Geiste ist für mich Robert Seethalers Ein ganzes Leben. Auch ihm gelingt es hier, ein einfaches Leben mit großer Kunstfertigkeit zu schildern. Die Leben werden dazi zum Spiegel der Geschichte eines ganzen Jahrzehnts. Für beide Titel uneingeschränkte und begeisterte Empfehlung!

  • Thomas Hettche – Pfaueninsel
  • ISBN: 978-3-462-04599-4 (Kiepenhuer & Witsch)
  • 352 Seiten, 19,99 €
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Hanns-Josef Ortheil – Die Moselreise

Noch vor seiner Berlinreise unternahm Hanns-Josef Ortheil als Junge bereits schon einmal eine Reise mit seinem Vater. Diese Moselreise führte ihn von Koblenz das Moseltal entlang bis nach Trier, völlig entschleunigt im Juli 1963. Die Adenauer-Jahre beherrschten Deutschland und eine heute gar nicht mehr vorstellbare Langsamkeit hüllte die BRD ein. Hanns-Josefs Vater nimmt sich Zeit für sein Kind und wandert mit ihm in kleinen Etappen die Strecke gen Trier, während die Mutter daheim in Köln weilt.

Die Moselreise von Hanns-Josef Ortheil

Die Moselreise von Hanns-Josef Ortheil

Auch wenn die Mutter nicht aktiv an der Reise teilnimmt, so begleitet sie Vater und Sohn doch beständig, die vielen Postkarten und Gedanken, die Ortheil an seine Mutter schickt, sind im Buch durch Einschübe eingefügt. Das Buch ist genau wie die Berlinreise auch wieder eine Collage aus Postkarten, Texten, Betrachtungen und Exkursen, die der junge Hanns-Josef Ortheil im Nachgang der Reise arrangierte und seinen Eltern schenkte, um sie an seinen Erlebnissen teilhaben zu lassen.

Die jetzige Ausgabe dieser Moselreise ist umgeben von einem Vor- und Nachwort, das das kindliche Reisetagebuch in Ortheils Werdegang als Schriftsteller einordnet. Beeindruckend hierbei ist die Klarsichtigkeit des Autors, der reflektiert das mit seinem Vater Erlebte in seiner Biografie einordnet. Auch rührt die Schilderung der zum zweiten Mal erlebten Moselreise an, die Ortheil noch im Nachwort anfügt. Als sein Vater gestorben war, unternahm der Schriftsteller die identische Reise einmal mehr, auch um sich seines Vaters zu erinnern. Der geschilderte Übergang von Erleben zu Erlebtem und Erinnern ist eindrücklich gelungen. Man liest und staunt über die Präzision und Ortheils und sein schriftstellerisches Geschick, das schon als Kind in ihm angelegt ist.

Ein kindlich, unschuldiges Buch, das die Lust nach einer ebensolch entschleunigten Reise zu wecken vermag!

 

 

 

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Roland Schimmelpfennig – An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Vertane Wolfs-Chance

„An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts überquerte ein einzelner Wolf kurz nach Sonnenaufgang den zugefrorenen Grenzfluss zwischen Deutschland und Polen.“

Schimmelpfennig, Roland: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen (…), S. 5

Was für ein Auftaktsatz, der den ersten Roman des deutschen Dramatikers Roland Schimmelpfennig (der meistgespielte deutsche Theaterautor, wie der Klappentext stolz kündet) einleitet. Man denkt an Musils Mann ohne Eigenschaften: „Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen.“

Eiskalt

Ein großartiger erster Satz aus der Feder Schimmelpfennigs, der damit schon ein Gefälle einstellt, auf dem alles, was danach folgt, hinunter rutscht. Der Debütant erzählt von eben jenem Wolf, der als Leitmotiv durch das Buch streift und unaufhaltsam auf Berlin zuhält. Immer wieder kreuzen Menschen den Weg des Wolfs und werden mit dem Schicksal des Raubtiers verknüpft. Diese Menschen sind Ausreißer, Späti-Besitzer oder Zeitungsvolontäre, die alle in diesem Wolf etwas anderes sehen. Doch leider lässt Schimmelpfennig seinen verschiedenen Charakteren, die immer wieder im Buch auftauchen, wenig mehr als ihre Berufe. Namen hält der Autor so gut wie immer für überbewertet, was dazu führt, dass das Ausreißerpärchen meistens nur als der Junge und das Mädchen tituliert wird. Es erfordert Aufmerksamkeit vom Leser, die verschiedenen Lebens- und Erzählstränge auseinander zuhalten, da Schimmelpfennig neben der minimalen Namensgebung auch auf so etwas wie Biographien hinter den Namen verzichtet und so keinerlei Tiefenwirkung erzielt. Ein weiteres Ärgernis, das ich bei einem Dramatiker eines Ranges von Roland Schimmelpfennig so niemals erwartet hätte, ist auch die Lustlosigkeit und Banalität der Dialoge. Jeder spricht mit jedem gleich, kein Soziolekt, keine Charakterisierung durch das gesprochene Wort – nichts.

Dies ist ärgerlich, da sich An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts wie ein einziges Fest der Klischees liest. Natürlich stammt das Ausreißerpärchen aus verschiedenen Welten (da der Vater des Jungen als Alkoholiker und Psychatrieinsasse, dort die Mutter des Mädchens als Bauhaus-Villa-Bewohnerin), natürlich arbeitet der Pole auf dem Bau und seine Frau putzt Wohnungen, natürlich hat der Vater der türkischstämmigen Zeitungsvolontärin einen Dönerimbiss am Kottbusser Tor. Munter reiht Schimmelpfennig Klischee an Klischee und auch zu Berlin fällt ihm nichts Neues ein. Mehr als eine Revue von Ortsnamen und Banalitäten ist das Ganze leider nicht (die Gentrifizierung greift in der Bundeshauptstadt um sich? Welch hellsichtige Analyse). So liest man das Buch merkwürdig distanziert und wird von nichts wirklich berührt. Was die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse zur Nominierung dieses Titels bewogen hat, bleibt auch nach der Lektüre mehr als schleierhaft. Eine wahrhaft vertane Wolfs-Chance, trotz all des Potentials, das die Erzählung geboten hätte!

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Hanns-Josef Ortheil – Die Berlinreise

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Nach der Moselreise veröffentlicht der Schriftsteller und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus hier das zweite Buch aus seiner Kindheit. Nachdem er im Alter von 11 Jahren mit seinem Vater die Moselregion bereiste und in der Folge eine Collage aus Erlebnisbericht, Postkarten und Beschreibungen für seine Eltern anfertigte, tat er dies auch ein Jahr später in Berlin. Analog zur Moselreise collagiert der 12-jährige Hanns-Josef in der Berlinreise auch wieder Eindrücke, die er im Jahr 1964 aus der geteilten Stadt Berlin mitnahm. Über mehrere Tage hinweg durchstreift der Bub zusammen mit seinem Vater die Stadt, bereist Orte aus der Vergangenheit des Vaters und seiner Mutter und unternimmt auch einen Ausflug in den Ostsektor der Stadt.

Langsam fühlt sich Hanns-Josef in die Geschichte der Stadt und die Geschichte seiner Eltern ein. Einfühlsam von seinem Vater betreut erkundet er das Leben seiner Eltern während des zweiten Weltkriegs und erfährt traurige Geschichten seiner Familie, die sein Weltbild gehörig durcheinander wirbeln.

Der Text ist chronologisch in die Tage des Aufenthalts aufgeteilt, eingeleitet werden die Kapitel stets mit Bildern oder Postkarten aus jenen Tagen, die Ortheil während seiner Reise sammelte. Neben den Nacherzählungen seiner Erlebnisse, die er im Nachhinein der Reise arrangierte, wird der Text von Postkarten an seine Mutter unterbrochen, die aufgrund einer Erkrankung in Köln bleiben musste. Zudem ist der Text mit kurzen Einschüben und Betrachtungen des jungen Ortheils angereichert, in denen er seine kindliche Sicht auf bestimmte Dinge schildert, z. B. den Unterschied beim Frühstücken oder Bummeln in Köln und Berlin.

Auch in der Berlinreise lässt sich wieder der hellsichtige junge Beobachter Ortheil erkennen, dessen Talent zum Schreiben und Beobachten auf jeder Seite zu Tage tritt. Gewählt und stilsicher verfasst der 12-Jährige seine Beobachtungen und Collagen und ruft damit Erinnerungen an ein Berlin vergangener Tage wach, in dem die Mauer verlief, die Ausläufer des Wirtschaftswunders zu spüren waren und die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland Bonn hieß.

Der kindliche naive Ton verliert sich hier ein wenig, man merkt die Reifung des Kindes im Vergleich zur Moselreise. Das Volumen dieses Buchs ist mit 288 Seiten schon gewichtiger als Ortheils erster Reisebericht, schafft es aber, genauso anzurühren und den Leser in die vergangene Welt der Kindheit abtauchen zu lassen. Ein literarisches Dokument und der Erlebnisbericht aus einer vergangenen Epoche, der mich in seinen Bann zog und sicher nicht mein letzter Kontakt mit Hanns-Josef Ortheil bleiben wird.

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Andreas Pflüger – Endgültig

Blinde Gerechtigkeit

Jenny Aaron war einst eine Spitzenagentin für eine geheime Unterabteilung des BKA, ehe ein Einsatz in Barcelona alles über den Haufen warf. Der Einsatz lief fürchterlich schief und seitdem plagt sich die Agentin mit schwersten Schuldvorwürfen herum und ist zudem blind. Dies hält sie allerdings nicht davon ab, weiterhin für Gerechtigkeit und Wahrheit einzutreten. Mit einer unglaublichen Selbstverbissenheit und unterstützt von ihrem Vater, einem Urgestein der GSG9, hat sie sich zurückgekämpft und ist ein echtes Ass in Sachen Körperbeherrschung und Verhören. Ihre Blindheit ist ihr dabei nur Ansporn, ihre eigenen Grenzen zu überschreiten

PflügerDie Ereignisse, mit den Andreas Pflüger die blinde Koryphäe in Endgültig konfrontiert, sind aber dazu angetan, sie an ihre Grenzen und darüber hinaus zu führen. Ausgangspunkt ist der Mord an einer Gefängnispsychologin in der JVA Tegel. Der mutmaßliche Mörder ist nur bereit, mit einer Person zu sprechen – Jenny Aaron. Das damit verbundene Psychospielchen entpuppt sich nur als Auftakt zu einer wahren Tour de Force, die Jenny mit alten Feinden und tief verschütteten Traumata konfrontiert. Denn wie es scheint, ist das jetzige Spiel, in dem sich Jenny wiederfindet, nur die Spitze eines Plans, der vor langer Zeit geschmiedet wurde, um Rache an der blinden Polizistin zu nehmen und sie büßen zu lassen. Doch kann sie dem diabolischen Plan wirklich entrinnen?

Selten hatte ich in letzter Zeit einen so spannenden, einen so gut geschriebenen und einen so temporeichen Roman in meiner Hand, wie dies bei Andreas Pflügers Endgültig der Fall ist. Der Autor trat bislang eher als Drehbuchautor der Weimarer Tatort-Folgen mit Christian Ullmen und Nora Tschirner in Aktion, doch auch ein Buch hat er bereits geschrieben. Dieses trägt den Titel Operation Rubikon und wurde auch mit Stars wie Jörg Schüttauf und Justus von Dohnány verfilmt.

Andreas Pflüger

Andreas Pflüger

Sein neuer Thriller ist ebenfalls mehr als filmreich, wobei das Wort Kopfkino hier einen doppelten Reiz hat. So entfesselt der Autor nicht nur tolle Bilder und inszeniert ein wahres Feuerwerk an einprägsamen Szenen, auch schafft er das Kunststück, den Leser an der Lebenswelt von Blinden teilhaben zu lassen. Er beschreibt Jenny Aarons Welt und sensibilisiert dafür, wie es sein muss, blind durchs Leben zu gehen. Vorher machte ich mir nie Gedanken, wie man Salz- und Pfefferstreuer einfach auseinanderhalten kann. Nun weiß ich das auch, dank Andreas Pflüger (Antwort – Salz raschelt, Pfeffer gibt keinen Laut von sich. Simpel – es muss einem aber auch erst auffallen.). Erinnert hat mich das Buch auch an Sebastian Fitzeks Thriller Der Augensammler, wobei jener Roman eher Kreisklasse ist, verglichen zu diesem Premium-Liga-Thriller. Alleine wer schon Sätze ersinnt wie „Die Herzmaschine jagt Verzweiflung in die Venen“ (S. 16), zeigt, dass es hier um mehr geht als die Lust am Krawall.

Natürlich darf man dem Buch auch Stereotype vorhalten – Jenny Aaron ist genauso übermenschlich gezeichnet, wie ihr Gegner allumfassend böse ist. Da diese Überzeichnung aber auch zu unterhalten weiß, war ich gewillt, diesem manchmal sehr hollywoodesken Setting zu verzeihen, da Pflüger das Spannungslevel und das Tempo über sämtliche 455 Seiten zu gehen weiß. Ein gut geplotteter Thriller, zudem auch fein gestaltet mit Brailleschrift und gelbem Buchschnitt.

Dieses Buch ist ein echter Kracher, ein Highlight im Spannungssegment dieses Frühjahrs und setzt Maßstäbe – breiteste Leseempfehlung von meiner Seite!

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