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Maria Borrély – Das letzte Feuer

Die (Wieder-)Entdeckung von Maria Borrély geht weiter. Nachdem der Kanon-Verlag im letzten Jahr erstmalig den Roman Mistral der deutschen Leserschaft zugänglich machte, gibt es nun mit Das letzte Feuer ein weiteres Werk aus dem Schaffen der vergessenen französischen Autorin zu bestaunen – abermals übersetzt von der Borrély-Entdeckerin Amelie Thoma.


Dass in öffentlichen Bücherschränken veritable Überraschungen bereithalten können, das bewies die Geschichte hinter der deutschen Übersetzung von Maria Borrély Roman Mistral im vergangenen Jahr eindrücklich. Die Übersetzerin Amelie Thoma hatte das Werk der hierzulande völlig und in ihrer Heimat zumindest weitgehend unbekannten Autorin in einem offenen Bücherschrank in einer Kneipe in der Provence entdeckt, wo Thoma regelmäßig ihren Urlaub verbrachte.

Ihre Übersetzung des ebenso sinnlichen wie kraftvollen Buchs aus der Haute-Provence erwies sich als Erfolg, weshalb der Kanon-Verlag nun mit Das letzte Feuer einen weiteren Roman aus der Feder Maria Borrélys in deutscher Übersetzung von Amelie Thoma veröffentlich. Und ähnlich wie in Mistral finden auch hier wieder alle Zutaten zusammen, die Borrélys Schreiben auszeichnen: die Kraft der Natur und deren Lauf, dazu menschliche Schicksale, die in die geradezu archaische Natur eingebettet werden.

Ein typischer Roman von Maria Borrély

So vereint schon der erste Satz ihres 1931 erschienen Romans all das, was das Buch im Folgenden kennzeichnen wird:

Im wilden Duft des Buchsbaums, unterhalb des Dorfes und von weiter oben kommend, liegt gewunden wie eine Schlange dieses Schreckenstal der Terre-Rompues mit dem Riou-Sec, der alles Land der Bewohner von Orpierre-d’Asse gefressen hat.

Maria Borrély – Das letzte Feuer, S. 8

Wie schon in Mistral ist auch hier die Natur einmal mehr der eigentliche Hauptdarsteller, der bei Maria Borrély seinen großen Auftritt bekommt. Bislang hat es die Natur mit den Bewohner*innen des Dorfes Orpierre-d’Asse alles andere als gut gemeint.

Gemeinsam versuchen die Bergbewohner*innen dem steinigen Boden dort oben so gut es geht etwas abzutrotzen. Aber dennoch bleibt die Ausbeute der Felder und der Tierzucht mehr als mager. Schmalhälse werden die Bewohner*innen von Orpierre-d’Asse in den umliegenden Dörfer geheißen. Hunger und Mangel sitzen bei allen Mahlzeiten stets mit am Tisch.

Karges Leben am Berg, fruchtbares Leben im Tal

Doch mit dem kargen Leben am Berg ist es schon bald vorbei und das Leben in Armut nur noch eine ferne Erinnerung für die meisten der Schmalhälse. Denn diese haben fast alle nacheinander den Abstieg ins Tal gewagt, wo die Asse in ihrem Bett ruht.

Das Leben dort unten scheint deutlich leichter und erträglicher zu sein. Der Fluss sorgt für fruchtbare Böden, das Getreide gedeiht ebenso wie die Tierzucht. Man hat sich dort Häuser gebaut und genießt den Reichtum des neuen Lebens, was Maria Borrély mit ihrer kraftvollen Prosa anschaulich zu schildern vermag.

Durch die Fenster mit den halb geschlossenen Läden hört man Kaninchenpfeffer und Ragouts brutzeln und die Kutteln auf großem Feuer brodeln. Der Schmorbraten riecht nach Pfifferlingen. Man ruft einander von einem Fenster und einer Tür zur anderen. Mädchen im Rock, ein Tuch über den bloßen Schultern, spülen am Brunnen die Karaffen, die sie mit Sand geschmirgelt haben, waschen die Winterendivien. Man öffnet Trüffelkonserven aus Montagnac und Puimoisson.

Maria Borrély – Das letzte Feuer, S. 44

Schönheit und Zerstörung

Lebensklug stellt Pélagie, eine von Borrélys Hauptfiguren, am Ende des Buch fest, dass es sich mit der Zeit wie mit der Asse verhält. Beide hinterlassen Zerstörung auf ihrem Weg. Und von beidem versteht es Maria Borrély, klug zu erzählen.

Maria Borrély - Das letzte Feuer (Cover)

Sowohl den Gang der Natur auch den Gang des Lebens fängt Das letzte Feuer hervorragend ein. So altern ihre Figuren innerhalb der wenigen Seiten (knapp 130 an der Zahl) deutlich. Sterben und Leben, Umzug und Neubeginn sind Themen, die den Roman durchziehen.

Alles drängt hin zur Erneuerung, zum besseren Leben und einer Abkehr von den Entbehrungen des Lebens, die man dort oben am Berg zurückgelassen hat. Dies führt mitunter zu kuriosen Szenen, etwa als in der Euphorie des Neubeginns sogar die Kirche von ihrem angestammten Ort oben auf dem Berg ins Tal versetzt wird.

Nur Pélagie Arnaud und ihre Ziehtochter Berthe nehmen nicht Anteil an diesem neuen Leben. Pélagie harrt dort oben im Dorf aus, ihr ist die Nähe des umgezogenen Dorfs zur nahen Asse nicht wirklich geheuer. Und selbst als Berthe auszieht und selbst eine Familie gründet, bleibt Pélagie im Dorf zurück.

Die Zähmung der Natur als Ausgangspunkt für die Katastrophe

Es spricht aus ihrem Verhalten die Verbundenheit zum alten Dorf genauso wie ein Misstrauen gegen den neuen Komfort und die trügerische Idylle, den die Tallandschaft mitsamt der Asse bietet. Ein Misstrauen, das sich im Verlauf des Buches noch bestätigen wird…

Hier kommt dann der zweite Aspekt der Feststellung der erfahrenen Pélagie zum Tragen, denn Das letzte Feuer erzählt auch von der Katastrophe, den der Eingriff in die Ökologie bedeutet. Die Besiedelung von flussnahem Gebiet und einer Unterschätzung der Kräfte der Natur führt hier zur Katastrophe, die auch in die Gegenwart verweist.

Man kann Das letzte Feuer nicht lesen, ohne an Flutkatastrophen wie etwa die Ahrtal-Überflutung vor wenigen Jahren zu denken. Der Versuch der Menschen, sich mit den Gegebenheiten der Natur zu arrangieren und diese für eigene Zwecke zu zähmen, er findet nicht nur in Maria Borrélys Roman keinen guten Ausgang und ist damit nicht nur in unserer Gegenwart aktuell, sondern wird auch in einer Zukunft mitsamt der möglichen Klimakatastrophe an Brisanz gewinnen.

Fazit

Zwar vermisst man ein einordnendes Nachwort in Das letzte Feuer ebenso wie das damalige Vorwort ihres Schriftstellerkollegen Jean Giono, von dem nur noch ein Zitat auf dem Cover dieser Ausgabe zeugt. Dieser kleine Makel wird aber von der Freude über die Entdeckung dieser so kraftvollen Autorin, die nach wie vor gültige Brisanz ihrer Prosa und die nuancenreiche Übersetzung durch Amelie Thoma bei Weitem überwogen. Es bestätigt sich eindrücklich: die (Wieder-)Entdeckung dieser Autorin ist ein großer Glücksfall!


  • Maria Borrély – Das letzte Feuer
  • Aus dem Französischen von Amelie Thoma
  • ISBN 978-3-98568-113-6 (Kanon-Verlag)
  • 128 Seiten. Preis: 20,00 €
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Julia Jost – Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht

In diesem Frühjahr haben die langen Buchtitel Hochkonjunktur. Nach Owen Booth im vergangenen Jahr fordern heuer etwa Cho Nam-Joo , Saša Stanišić oder Slata Roschal die Tippfähigkeiten von Buchhändlern und Bibliothekarinnen heraus. Nun auch noch Julia Jost, die mit ihrem Debüt Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht einen modernen Heimatroman vorlegt, der den Mikrokosmos eines kärntnerischen Dorfs in einen großen Spielplatz der Sprache und Themen verwandelt.


Tu felix austria kann man nur immer wieder ausrufen. Die Alpenrepublik schafft es in erstaunlich hoher Schlagzahl, immer wieder neue und vielversprechende Autor*innen hervorzubringen, die sich sprachmächtig mit ihrer Heimat befassen und eine neue Form der Heimatliteratur schreiben, die sich mit dem Althergebrachten, der Region, ihren Menschen beschäftigt, dabei aber auch die Verstrickung in die Vergangenheit und die dunklen Seiten der Heimat nicht vergisst.

Raphaela Edelbauer, Leander Fischer, Valerie Fritsch, Helena Adler, Vea Kaiser oder Johanna Sebauer sind nur einige Namen in dieser Riege junger österreichischer Autor*innen, die sich in den letzten Jahren mit dörflichen Gemeinschaften und dem Miteinander unterschiedlichster Figuren auseinandersetzten.

Auch Julia Jost reiht sich nun mit ihrem wirklich außergewöhnlich betitelten Debütroman in diese Riege ein. Denn ihr gelingt mit Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht ein Roman, der vielleicht nicht ganz so sprachverliebt wie die Edelbauer, Fritsch oder Fischer, dafür aber erstaunlich reichhaltig an Themen und Setzungen ist.

Den erzählerischen Rahmen bildet ein Umzugstag, den die junge Erzählerin im heimischen Garten des Gratschbacher Hofs neunzehnhundertvierundneunzig erlebt. Dieser in Kärnten gelegene Gasthof befindet sich in der Nähe der Karwanken, die sich in der Entfernung von gut vierzig Kilometer auftürmen. Mit der Zeit dort auf dem Hof ist es eigentlich schon vorbei, als der Roman einsetzt, denn die Familie will umziehen.

Ein Umzug steht an

Und so schleppen Umzugshelfer Kiste um Kiste, aus dem Zuhause dort, das die Mutter mit Möbeln an- oder besser gesagt schon überfüllt hat. Alle kommen sie noch einmal zum Abschied um beim Umzug zu unterstützen, vom Dorfpfarrer Don Marco bis zu der Generation der Großeltern, die den Hof dort am Fuß der Karawanken begründet haben und den Umzug partout nicht verstehen können. Es ist ein großes Hallo, das die Erzählerin aus der Distanz unter einem LKW heraus beobachtet, wo ihr nur ein schnüffelnder Rauhaardackel Gesellschaft leistet.

Julia Jost - Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht  (Cover)

Durch die Fülle an Gestalten, die sich auf dem Hof die Klinke in die Hand geben entsteht ein erzählerischer Reigen, der die Figuren, den biografischen Hintergrund der Erzählerin und damit auch die Gegend, in der Josts Geschichte spielt, näher definiert und ausgestaltet.

Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht ist reich an Themen. Die Vergangenheit einer Figur als Partisanenkämpfer im slowenischen Teil des Karawankengebirges ist ebenso Thema der Erzählung wie der kaum verborgene Faschismus, der sich auch im Jahr 1994 noch als erstaunlich widerstandsfähig und hartnäckig erweist.

Von der Zeit des Zweiten Weltkriegs bis in die erzählte Gegenwart hinein bildet dieser Faschismus ein Kontinuum, das von alkoholgeschwängerten Besäufnissen, Gedenken an die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs und Weltkriegsdevotionalien bis zu einem Foto von Kurt Waldheim im Klassenzimmer der Erzählerin reicht. Es ist ein Kontinuum, das man von dem von Jost gezeichneten Bogen mühelos auch bis hinein in die Gegenwart weiterspannen könnte, in der die rechtsextremistische FPÖ kurz vor ihrem Wahlsieg bei den diesjährigen Nationalratswahlen steht.

Partisanen, Rechtsextremismus und Tod im Dorf

Aber auch der Tod als Thema ist präsent in diesem Roman. Das Erwachen der eigenen Sexualität, die den landläufigen Vorstellungen entgegensteht, das Verhältnis zur Tochter des bosniakischen Kustos des Gratschbacher Hofs, die Volksfrömmigkeit, die Konzentration auf das Wirtshaus als mindestens der Mittelpunkt des Dorfs, wenn nicht gar der Welt, von all diesen Themen erzählt Julia Jost in ihrem Debüt, das die Fülle an Themen und Figuren durch den engen erzählerischen Rahmen des einzelnen Tages gut eingebunden bekommt.

Verliert dieser so hochtourig beginnende Roman vielleicht grob aber der Hälfte des Buchs auch etwas an erzählerischer Spannkraft, ist Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht dennoch ein famoses Debüt, das zeigt, wie moderne Heimatliteratur aussehen kann und mit dem sich Julia Jost einen Platz in der vorderen Reihe der österreichischen Erzähltalente sichert.

Weitere Stimme zu Josts Debüt gibt es auch bei Juliane vom Blog Poesierausch und dem Blog Bücheratlas, die sich ebenfalls dem Buch gewidmet haben. Auch Alexander Carmele widmet auf dem Blog Kommunikatives Lesen Julia Josts Roman eine vertiefende Analyse.


  • Julia Jost – Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht
  • ISBN 978-3-518-43167-2 (Suhrkamp)
  • 231 Seiten. Preis: 24,00 €
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Helga Bürster – Als wir an Wunder glaubten

Glauben und Aberglauben in der ostfriesischen Provinz kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. In Helga Bürsters Roman Als wir an Wunder glaubten erzählt die Autorin von Kriegsheimkehreren, Aberglauben unter der Landbevölkerung und der Modernisierung, die allmählich sogar im ostfriesischen Moor ihre Spuren hinterlässt.


Unnenmoor, so heißt der Weiler in der ostfriesischen Provinz, der Schauplatz der Geschehnisse in Helga Bürsters Roman ist. Dominiert wird die Umgebung des kleinen Dorfs vom namensgebenden Moor, das seit Menschengedenken bis vor die Tore Unnenmoors reicht. Moorleichen hat man daraus schon geborgen, aber auch Waffen, Munition und den ein oder anderen Pass, den die Menschen kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs besser verschwinden lassen wollten, ehe die Alliierten ihren Weg in die ostfriesische Einöde fanden.

Nun liegt das Kriegsende schon ein paar Jahre zurück und allmählich normalisiert sich auch in Unnenmoor die Lage, wenn auch nur ganz langsam. Die Armut ist überall noch zu greifen, viele Männer sind im Krieg geblieben – darunter auch der Vater von Betty, die mit ihrer Mutter Edith nun das gemeinsame Haus bewohnt. Dritter im Bunde ist der Journalist Theo, der mit Bettys Mutter in einem „Bratkartoffelverhältnis“ steht, das sich allerdings selbst auch in der Schwebe befindet – schließlich könnte Ediths Mann auf den heimischen Hof zurückkehren, wenn auch mit jedem verstrichenen Monat die Hoffnung sinkt.

Die Geister des Moors

Zuflucht findet Betty bei der alten Guste, die in einer windschiefen Kate im Moor haust und die Betty bei ihren Besuchen immer wieder mit mystischen Erzählungen von Moorgeistern, Töverschen und anderen Legenden unterhält. Es ist ein Glaube an die Urkräfte des Moors und der unsichtbaren Geister, der sich in den Erzählungen Bann bricht und der auf Betty einen starken Eindruck macht. Denn auch sie meint die Urkräfte des Moors in sich zu spüren, insbesondere als sie in einer verhängnisvollen Nacht dem Ruf des Moors Folge leistet.

Helga Bürster - Als wir an Wunder glaubten (Cover)

Den anderen Dorfbewohnern bleibt die Wirkmacht des Moors ebenfalls nicht verborgen, auch wenn sie diese eher als Aberglaube abtun. So wendet sich Ediths ehemals beste Freundin Anni nach Einflüsterung durch einen lokalen Strippenzieher, Spökenfritz geheißen, gegen ihre Freundin. Für sie wie für die anderen Dorfbewohner scheint nach den Intrigen und sorgsam gestreuten Gerüchten festzustehen, dass Edith, ihre Tochter und auch Guste mit dunklen Kräften aus dem Moor im Bunde stehen.

Während das ganz reale Wirtschaftswunder auch langsam die ostfriesische Provinz erfasst, sorgt der Aufschwung allerdings nicht für eine Ausrottung dieses mythischen Aberglaubens, im Gegenteil.

Während das Moor systematisch ausgetrocknet wird, um neue Straßen zu bauen, steht die Bevölkerung noch immer im Bann des (Aber)Glaubens. Ein Arbeiter begeht Selbstmord und durch die Aufwiegelung des schon unter den Nationalsozialisten gut gelittenen Spökenfritz nehmen die dörflichen Spannungen zu, auf deren Höhepunkt Betty und ihre Mutter gar als Hexen tituliert werden – mit dramatischen Folgen.

Der Glaube im Mikrokosmos Dorf

Als wir an Wunder glaubten blickt auf den Mikrokosmos Dorf und darauf, wie der Glaube nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs in ganz unterschiedlichen Facetten Anhänger fand. So beschreibt Helga Bürster die Versuche von Ediths ehemaliger Freundin Anni, die für ihren behinderten Sohn Heilungen bei allen möglichen Scharlatanen sucht und die den abergläubischen Einflüsterungen des Strippenziehers Fritz erliegt.

Guste hingegen glaubt an die Naturkräfte und findet vor allem in der jungen Betty eine Verbündete, die die Kraft des Moors ebenso in sich zu spüren vermeint. Diese unterschiedlichen Aspekte verbunden mit einer Dorfgeschichte der Nachkriegszeit machen den Reiz dieses mit reichlich plattdeutschen Dialogfetzen versehenen Romans aus.

So zeigt Bürster neben dem multiperspektivischen Erzählen aus der Sicht Ediths, Bettys oder des Kriegsheimkehrers Josef auch den Aufschwung in der Provinz, der den großen Baumaschinen folgen sollte. Der Wirt, der einen Fernseher in die Dorfkneipe stellt, die neuen Häuser mit modernen Sanitäranlagen oder auch neckische Spielereien wie ein neuer Katalog für Ehehygiene, den die frühere Hausiererin nun unter die Leute bringt, sie alle sind Zeichen eines sich wandelnden Zeitgeists, der nur den Glauben auszusparen scheint. Das ist gut erzählt und zeigt die Dorfgemeinschaft als gesellschaftlichen Nukleus zerrissen zwischen Glaube und Welt.

Fazit

Helga Bürster gelingt ein farbiges, stimmiges und eindrucksvolles Bild dieser Zeit, die sich trotz aller Modernität auch nicht von altem (Un)Glaube lösen konnte oder wollte. Das macht aus Als wir an Wunder glaubten eine lohnenswerte Lektüre, die nicht nur für norddeutsche Leserinnen und Leser von Interesse sein dürfte!


  • Helga Bürster – Als wir an Wunder glaubten
  • ISBN 978-3-458-64388-3 (Insel)
  • 285 Seiten. Preis: 23,00 €
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Josephine Tey – Nur der Mond war Zeuge

Ein verschlafenes Nest irgendwo in England kurz nach dem Zweiten Weltkrieg- und eine ungeheure Anschuldigung, die nicht nur den lokalen Anwalt Robert Blair aufrüttelt. Josephine Tey erzählt in ihrem ursprünglich 1948 erschienenen Krimi Nur der Mond war Zeuge von der Suche nach Wahrheit zwischen Beschuldigten und Beschuldigerin – und der Sensationsgier der Boulevardpresse.


Es war doch seltsam, dachte Robert, als er in die Runde blickte, dass der Anlass zu dieser so fröhlichen, so warmherzigen, so geborgenen Familienfeier die große Not zweiter hilfloser Frauen sein sollte, die in diesem dunklen, stillen Haus zwischen den endlosen Feldern lebten.

Josephine Tey – Nur der Mond war Zeuge, S. 294

Anrufe, die einen kurz vor Feierabend erreichen, sollte man besser nicht annehmen. Meistens bringen sie nur Arbeit und vergällen einem den ruhigen Feierabend. Das ist eine Erkenntnis, die auch der Anwalt Robert Blair machen muss. Bei ihm ist es ein solcher nachmittäglicher Anruf, der ihn kurz vor seinem Aufbruch aus der Kanzlei erreicht. Versunken in der Behaglichkeit seines Daseins als Anwalt, bei dem nur die Keksauswahl etwas Abwechslung verspricht, macht er sich gerade auf, um die Dorfstraße von Milford hinabzupromenieren, als ihn der Anruf von Marion Sharpe erreicht, die ihn um anwaltlichen Beistand ersucht.

Ihrer Mutter und ihr wird nämlich ein ungeheures Verbrechen zur Last gelegt, was Blair nach seiner widerwilligen Annahme des Mandats direkt bei der Ankunft am einsam gelegenen Häuschen der Sharpes offenbart wird. Scotland Yard ist in Form von Inspektor Grant anwesend (der hier im Gegensatz zu den anderen Krimis der Reihe nur eine kleine Nebenrolle spielt) und die Zeichen stehen auf Sturm. Denn es ist der Vorwurf der Entführung und Misshandlung, der die Polizeibehörden auf den Plan gerufen hat, weswegen nun anwaltlicher Beistand für Mutter und Tochter Sharpe notwendig ist.

Im Gespräch kristallisieren sich rasch die Hintergründe für den Aufruhr heraus. So wurde ein junges Mädchen aufgegriffen, das schwere Anschuldigungen gegen die Sharpes erhebt. Es sei von Mutter und Tochter entführt und im „Franchise“ genannten Haus der beiden gefangen gehalten worden. Misshandlung und Zwangsarbeit seien an der Tagesordnung gewesen, ehe sich das Mädchen aus der Gewalt seiner Peinigerinnen befreien konnte.

Wer spricht hier die Wahrheit?

Josephine Tey - Nur der Mond war Zeuge (Cover)

Schwere Anschuldigungen, die die beiden Frauen weit von sich weisen und sich die Hilfe Roberts ausbedungen haben. Komplizierter wird der Fall dann auch noch, als das Mädchen bei einer Gegenüberstellung sämtliche Details aus dem Inneren des Hauses nennen kann, womit sich der Vorwurf der Entführung und Misshandlung erhärtet.

Obwohl zunächst noch widerwillig, verbeißt sich Robert schon bald in den Fall, der nicht nur in Milford für Aufsehen sorgt. Wer spricht die Wahrheit? Seine beiden Klientinnen oder das junge Mädchen, das sogar die Bespannung der Koffer im Schrank der Sharpes benennen kann? Da ja tatsächlich nur der Mond Zeuge der potentiellen Ereignissen gewesen zu sein scheint, steht es zunächst noch nach Aussage gegen Aussage. Scotland Yard sieht keinen Grund für weitere Untersuchungen, doch dann tritt die Presse auf den Plan. So wird der Fall durch eine Thematisierung in der Boulevardpresse rasch zu einer überregionalen Causa.

Das Ack-Emma genannte Revolverblatt setzt den Fall mit einer Inszenierung des jugendlichen Opfers auf die Titelseite – was für eine erhebliche Beschleunigung und Dynamisierung des Geschehens rund um die Sharpes sorgt. Leserbriefe werden geschrieben, sensationslüsterne Scharen von Besuchern wollen das „Franchise“ sehen, wo sich das Verbrechen mutmaßlich zugetragen hat – und je mehr der Boulevard spekuliert, umso aufgeheizter wird die Stimmung. Dabei sind die Steine, die gegen die Fensterscheiben der Sharpes fliegen, nur der Anfang….

Viel Wirbel in der Kleinstadt

Nur der Mond war Zeuge erzählt von den Kreisen, die eine Anschuldigung ziehen kann. So ist der Anruf, der Blair aus seiner Ruhe reißt, nur ein kleiner Dominostein in einer Kette immer dramatischer werdenden Ereignisse. Vor der Kulisse des kleinen Dorfs zeigt Tey, wie sich die Stimmung durch die skandalisierende Berichterstattung immer weiter aufheizt und wie die eh schon nicht so gut gelittenen Sharpes durch die Anschuldigungen zu Parias werden.

Josephine Tey erzählt mit einem genauen Gespür für die psychologischen und sozialen Mechanismen des Dorfs Milford. Während sich Robert Blair nach dem anfänglichen Hadern mit der Situation immer mehr im Fall verbeißt und selbst vom Anwalt zum Detektiv mutiert, wachsen auch die Zweifel an den unterschiedlichen Versionen der Geschichte. Wie kann es dem Mädchen möglich sein, die Beschaffenheit der Böden und die Anordnung des Dachfensters in der Kammer beschreiben, wenn es nie in dem Zimmer anwesend war? Immer stärker werden die Indizien, die Mutter und Tochter Sharpe und damit auch Robert Blair in die Bredouille nehmen.

Hellsichtig und gut beobachtet

Dabei ist dieser Roman eine genaue Studie des Dorfs, wie er auch die Dynamiken der öffentlichen Meinung in den Blick nimmt. Zwar mag man manche Meinung oder Äußerung eines Dorfbewohners und Polizisten heute mit Verwunderung zu Kenntnis nehmen (generell haben sich doch viele Ansichten deutlich überlebt) und nicht alles im Roman ist plausibel und sauber motiviert. Im Kern aber ist Nur der Mond war Zeuge aber ein sehr hellsichtiges und gut beobachtetes Buch, das auch nach über 75 Jahren immer noch wirklich lesenswert ist.

Nicht nur als ruhiger Kleinstadtkrimi, sondern vor allem als Beobachtung dieser beschriebenen Dynamiken funktioniert Nur der Mond war Zeuge ausgezeichnet, auch wenn man über manche Unplausibilitäten gnädig hinwegsehen sollte.

Schön, dass mit diesem Buch die schottische Autorin wieder neu entdeckt werden kann – ihr Werk ist es wert, Josephine Tey auch heute wieder oder erst recht zu lesen, auch wenn man den in der neuen Version titelgebenden Mond hier wirklich suchen muss. Mit einer passenderen Übertragung des Originaltitels „The Franchise Affair“ als der eher generisch wirkenden Titelwahl hätte man den Kern des Buchs besser getroffen – aber sei’s drum!


  • Josephine Tey – Nur der Mond war Zeuge
  • Aus dem Englischen von Manfred Allié
  • Mit einem Vorwort von Louise Penny
  • Produktnummer 173832 (Büchergilde Gutenberg)
  • 432 Seiten. Preis: 22,00 €
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Gianna Molinari – Hinter der Hecke die Welt

Eine allesüberragende Hecke, dahinter ein Dorf, das zu verschwinden droht und Menschen, die immer mehr schrumpfen. Kinder, auf denen die Hoffnung des Dorfs ruht. Und dazu eine Forscherin in der Einsamkeit des ewigen Eises. Klingt nach einer wilden Mischung? Ist aber im Falle von Gianna Molinaris Roman Hinter der Hecke die Welt ein spannender Erzählansatz, um vom möglichen Leben inmitten der Klimakatastrophe zu erzählen.

Wie wir verschwinden

Auf den ersten Blick wählt Gianna Molinari für ihren Roman einen Erzählansatz, der auf dem deutschen Büchermarkt eigentlich schon für eine völlige Übersättigung gesorgt hat: die Rede ist vom Dorfroman. Auch in Molinaris Fall ist es schon wieder ein Dorf, vor dessen Hintergrund Molinaris Geschichte hauptsächlich verhandelt wird und in dem die beiden Kinder Lobo und Pina leben.

Gianna Molinari - Hinter der Hecke die Welt (Cover)

Auf den zweiten Blick aber wird dieses auserzählte Setting interessant – denn das Dorf steht kurz vor dem Verschwinden. Hinter einer Hecke in Übergröße gelegen schrumpft das Dorf – und mit ihm seine Bewohner. Jeder, der da über 1,50 Meter groß ist, zählt schon zu den Hoffnungsträgern. Neben dem Dorfhund Pilaster sind das eben Pina und Lobo, auf denen die Hoffnung der Dorfgemeinschaft ruht. Sie sollen das Dorf dem Vergessen entreißen und für eine Zukunft sorgen, die aktuell recht düster aussieht.

Ab und an finden noch Touristenbusse in das Dörfchen, um die Hecke zu bewundern und das Dorfmuseum zu besuchen, ansonsten ist das Dorf aber keineswegs ein Aspirant für den Wettbewerb Unser Dorf hat Zukunft.

Eine Welt in Auflösung

Die Welt des Dorfs, sie befindet sich in Auflösung. Und mit ihr auch die Welt da draußen, die hinter der Hecke in einem diffusen Prozess des Verschwindens inbegriffen ist.

Es gibt Stellen, sagte Pinars Vater, die von der Landkarte verschwinden. Das geht nicht nur uns so. Auch andere Orte verschwinden, Inseln gehen unter, Berge zerbröseln zu Steinklumpen, Klümpchen, zu Staub.

Pinas Vater war der Meinung, dass hinter der Hecke das Dorf liege und dieses darum besser geschützt sei als andere Orte.

Pina war der Meinung, das hinter der Hecke die Welt liege. Die Welt und irgendwo auch die Arktis.

Gianna Molinari – Hinter der Hecke die Welt, S. 27 f.

Die Arktis ist der zweite Handlungsstrang, den Gianna Molinari in ihrem Roman einführt. In diesem Strang steht die Arktisforscherin Dora im Mittelpunkt, die zugleich auch im ewigen Eis ebenjene Untergangsstimmung spürt, die auch das Dorf und seine Welt ergriffen hat. Dora, die auch die Mutter von Pina ist, schickt ihrer Tochter Sprachnachrichten, die von der schwindenden Schönheit des Eises erzählen.

Wuchernde Hecken, schmelzende Gletscher

Sie berichtet über Gletscher und Eisberge, die zerfallen, denkt über die Einsamkeit von Grönlandhaien nach und beschreibt durch kleine Momentaufnahmen die zerstörerische Kraft des Anthropozäns. Immer ist es der Mensch als Erdbewohner, der alles zerstören muss, was diese Erde eigentlich ausmacht. Ergänzt werden diese Impressionen durch kleine Skizzen, die das Erzählte in Silhouetten noch einmal nachzeichnen.

Es sind Szenen, die von ebenso still wie eindrücklich vom allmählichen Ende dessen künden, was Dora aktuell noch dort hoch oben im Eis beobachten kann.

Damit ist Hinter der Hecke die Welt eine kraftvolle Meditation über die Vergänglichkeit und den Klimawandel, in den wir sehenden Auges reichlich fatalistisch steuern. Ähnlich wie zuletzt bei T. C. Boyle fällt auch bei Gianna Molinari die menschliche Antwort auf die Klimakatastrophe reichlich fatalistisch aus.

Irgendwie arrangiert man sich mit den schmelzenden Gletschern und dem Schrumpfen der Menschen – es geht ja doch irgendwie weiter – und Aufgeben wäre eh keine Option, und so lebt man einfach weiter, von Tag zu Tag. Dieses Gefühl trifft Hinter der Hecke die Welt sehr genau.

Fazit

Gianna Molinari gelingt mit ihrem Roman Hinter der Hecke die Welt ein ungewöhnlicher Dorfroman mit Parabelcharakter, eine Erzählung übers Verschwinden und Artensterben – und den Fatalismus der Menschen, die sich auch von Schrumpfen, übergroßen Hecken und dem Schmelzen der Gletscher und Eisberge nicht aus dem Konzept bringen lassen. Obwohl das Buch nur aus kurzen Szenen und Momentaufnahmen montiert ist, gelingt der Schweizer Autorin ein tiefgreifender Eindruck dieser Prozesse, den sie in ihrer schwebenden und wie hingetupft wirkenden Prosa präsentiert.


  • Gianna Molinari – Hinter der Hecke die Welt
  • ISBN 978-3-351-04173-1 (Aufbau)
  • 208 Seiten. Preis: 24,00 €
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