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Paul Murray – Der Stich der Biene

Mit Der Stich der Biene liefert Paul Murray den eindrücklichen Beweis, dass auch Iren einen Great American Novel schreiben können. Er erzählt in seinem für den Booker Prize nominierten Roman im Gewand eines Familienromans von der Vorzeigefamilie Barnes, in der jedes Mitglied doch auf eigene Weise unglücklich ist – und vom Crash der irischen Wirtschaft, der sich ebenfalls im Inneren der Familie niederschlägt.


Vater Dickie, Mutter Imelda, Tochter Cass und Sohn PJ. Was auf den ersten Blick wie eine perfekte Familie irgendwo in einer Kleinstadt im Herzen von Irland wirkt, bekommt auf den zweiten Blick erheblich Risse. Denn das alte Tolstoi’sche Diktum von den unglücklichen Familien, die alle auf ihre eigene Art unglücklich sind, es trifft auch auf die Barnes zu.

Eine irische Vorzeigefamilie?

Um das zu zeigen, lässt sich Paul Murray allerdings viel Zeit und Raum. Er erzählt separat von allen vier Familienmitgliedern und findet für jede Figur einen eigenen erzählerischen Tonfall (übersetzt von Wolfgang Müller). So knabbert Vater Dickie an der Rezession, die die gesamte irische Wirtschaft erfasst hat und für Massentlassungen gesorgt hat. Auch an der Familie Barnes geht der Crash nicht spurlos vorüber, denn das familieneigene Autohaus steht kurz vor dem Aus. Früher hatte es sein Vater Maurice als sein Lebenswerk zu Glanz und Blüte geführt, nun ist sein Sohn Dickie gezwungen, die Filiale im Nachbarort zu schließen und wird in der Folge auch zum Stadtgespräch.

Die Krise hatte die Hauptstraße in ein Maul voller Zahnlücken verwandelt. Große und kleine Geschäfte hatten in der Folge zugemacht. Aber die Pleite der Niederlassung empfanden die Stadtbewohner als eine ganz andere Größenordnung. Ein so verwirrender Niedergang wie der der Familie Barnes konnte nicht nur ökonomische Gründe haben. Da musste es ein moralisches Element geben.

Paul Murray – Der Stich der Biene, S. 50
Paul Murray - Der Stich der Biene (Cover)

Der erarbeitete Wohlstand ist in Gefahr und sorgt dafür, dass Mutter Imelda immer mehr aufgetürmte Besitztümer wieder per Ebay veräußern muss und auf das Erscheinen des Schwiegervaters als Retter in der Not hofft.

Tochter Cass steht derweil kurz vor den entscheidenden schulischen Prüfungen kurz vor dem Übertritt, ist aber eher von einer neuen Lehrerin, Partys und Alkohol fasziniert. Und dann ist da noch PJ, der Jüngste im Bunde. Auch er will seine eigenen Besitztümer veräußern, weil er von einem Mitschüler drangsaliert und erpresst wird. Dabei würde er auch lieber in Dublin oder irgendwo ganz weit weg sein. Das Schicksal meint es nicht unbedingt gut mit der Familie.

Statt Zusammenhalt treibt die Familie im Laufe der exakt 700 Seiten immer weiter auseinander, spürt verschüttetem Begehren und neuen Anziehungen nach und entfremdet sich zusehend von den anderen Barnes bis hin zur Frage, ob das überhaupt noch eine Familie ist, die im Mittelpunkt dieses Familienromans steht. Durch seine vier getrennten Erzählstränge vermag Paul Murray dies wunderbar anschaulich zu schildern.

Ein bittersüßes Leseerlebnis

Der Stich der Biene erzählt vom Weglaufen vor Konsequenzen, von Begehren und der Vertuschung ebenjenem Begehrens, was sich in Verbindung mit komischen Elementen zu einem bittersüßen Leseerlebnis verbindet, bei dem schon der erste Satz des Romans auf die dramatische Konsequenz verweist, die Familie im größtmöglichen Katastrophenfall auch bedeuten kann.

Im Nachbarort hatte ein Mann seine Familie umgebracht.

Paul Murray – Der Stich der Biene, S. 8

Paul Murray nimmt sich viel Zeit, um das langsame, aber immer stärker werdende Auseinanderdriften der Familie Barnes zu schildern. Die Bewegung hin von einer vordergründigen Bilderbuchfamilie zu einem schon fast toxischen Miteinander mitsamt allem Aneinander-Vorbeireden oder besser Aneinander-Vorbeileben, das schildert der irische Autor glaubwürdig und nachvollziehbar über die ganze Länge des Romans, bei dem trotz des überschaubaren Handlungsrahmen eben zu keinem Zeitpunkt wirkliche Längen auftreten. Dazu verdichtet der irische Autor das Bild der Figuren und ihrem Miteinander zunehmend auf gekonnte Art und Weise.

Die familiären Hintergründe werden konkreter, im Zusammenfallen verschiedener Perspektiven werden bestimmte Episoden verständlicher und anekdotisches Erinnern entzaubert. Schlussendlich ergibt sich so ein Bild einer Familie, in der nach Tolstoi’scher Manier wirklich jeder auf seine eigene Art und Weise unglücklich ist.

Damit stellt sich Paul Murray in die Erzähltradition großer amerikanischer Erzählwerke wie Jonathan Franzens Die Korrekturen oder aktueller etwa Miranda Cowley-Hellers Der Papierpalast. Es ist eine Reihe, in die sich das Werk des Iren ausnehmend gut einfügt.

Fazit

Der Stich der Biene ist ein Familienroman im besten Sinne, der langsam das Bild einer irischen Vorzeigefamilie entzaubert und vom Zerfall eines familiären Gefüges erzählt. Mit Sinn für Timing und gegensätzliche Perspektiven nimmt Paul Murray das Unglück in den Blick, das Familie bedeuten kann – und wie man sich trotzdem irgendwie durchs Leben mogelt.

Wer sich nach der Lektüre des Romans für das Schreiben und die Hintergründe zu Der Stich der Biene interessiert, dem sei auch das Interview auf der Webseite des Booker Prizes empfohlen, für den der Ire im vergangenen Jahr bereits zum zweiten Mal nach Skippy stirbt im Jahr 2010 nominiert war


  • Paul Murray – Der Stich der Biene
  • Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
  • ISBN 978-3-95614-581-0 (Kunstmann)
  • 700 Seiten. Preis: 30,00 €
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Sarah Gilmartin – Service

Ein Restaurant der Spitzenklasse, eine Servicekraft, ein Küchenchef, seine Frau – und dann steht da mitten im Raum der schwerwiegende Vorwurf einer Vergewaltigung. Was das mit den Beteiligten macht und wie sie auf das (möglicherweise) Geschehene blicken, das erkundet die irische Schriftstellerin Sarah Gilmartin in ihrem Roman Service.


Vor wenigen Wochen sorgte einmal mehr eine ein juristischer Lehrfilm aus der Feder Ferdinand von Schirachs für Aufsehen. Während er in Terror die Zuschauer selbst zu einer Jury in einem Gerichtsverfahren werden ließ, so wendete er sich im Fernsehfilm Er sagt, sie sagt dem Sujet einer mutmaßlichen Vergewaltigung zu, bei der Aussage gegen Aussage der Beteiligten steht.

Es ist kein ganz neues Konzept, die Schwierigkeit einer Wahrheitsfindung nach solchen Anschuldigung, der prozessualen Dynamiken und den widersprüchlichen Aussagen herauszuarbeiten. Was beispielsweise der Prozess um den Wettermoderator Jörg Kachelmann unter großem Interesse der Öffentlichkeit und sensationsheischender Boulevardmedien-Begleitung in realiter zeigt, auch in der Literatur wird es immer verhandelt.

So schilderte die Autorin Bettina Wilpert in Nichts, was uns passiert schon fast lehrbuchhaft die Aufarbeitung einer potentiellen Vergewaltigung, die sich in einer Sommernacht in Leipzig ereignet haben könnte. Sie nutzte dazu ebenso wie Schirach zwei Perspektiven, um die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Perspektiven nebeneinander zu stellen um so auch auf das Interessanteste zu blicken: das Dazwischen, in dem die Wahrheit liegen könnte.

Der Service, die Ehefrau, der Spitzenkoch

Auch Sarah Gilmartin bedient sich für ihren Roman Service dieser Erzählweise, indem sie mehrere Perspektiven nebeneinanderstellt, die auf das blicken, was sich im legendären Dubliner Restaurant, das hier nur T geheißen wird, abgespielt haben könnte.

Dafür kommen zu Wort: Hannah, die als Servicekraft eines der Gesichter des nahe des Unterhauses des irischen Parlaments gelegenen Edelrestaurants war. Daniel Oswald Costello, der als Küchenchef hinter den Kulissen für außergewöhnliche kulinarische Genüsse sorgte und mit seinen Kochkünsten den Ruhm des Restaurants mehrte. Julie, seine Ehefrau, die zusammen mit Daniel und den beiden Kindern in einem noblen Anwesen wohnt und schon seit langer Zeit mit Daniel verheiratet ist.

Sarah Gilmartin - Service (Cover)

Sie sind die drei zentralen Figuren in diesem Roman, die aus ihren Augen auf das Geschehen blicken, das sich hinter den Türen des T ereignet haben könnte und das aufgrund der Prominenz Daniels für viel Aufmerksamkeit und Paparazzi vor der Haustür der Costellos sorgt. Denn Daniel steht vor Gericht, weil ihm durch eine ehemalige Mitarbeiterin eine Vergewaltigung vorgeworfen wird.

Einstweilen ruht das Geschäft im T und die Figuren beginnen sich zu erinnern. Julie daran, wie das mit der Beziehung zu Daniel anfing, für den Frauen entweder Süße oder Schlampen sind und der mit seinem Charme und seiner Präsenz Menschen im Handumdrehen für sich einnehmen kann. Hannah daran, wie es zuging im Restaurant, wie man die herausfordernden Schichten zwischen ordinärem Küchenpersonal auf der einen und den anstrengenden Kunden auf der anderen Seite der Küchentür überstand. Und Daniel, wie es ist, vor Gericht zu stehen, zusammen mit seiner Anwältin eine Verteidigungsstrategie zu entwerfen und von alten Bekannten nicht mehr gegrüßt zu werden.

Drei Blicke auf das Geschehene

Aus diesen drei Strängen montiert Sarah Gilmartin eine spannende Erzählung, die durch ihre erzählerischen Gegenschüsse, das Miteinander aus Gegenwart und Rückblenden auf die atemlose Atmosphäre des Restaurantbetriebs überzeugt. Nicht ganz so ambivalent schwebend wie die zitierten Erzählungen liegt bei Sarah Gilmartin der erzählerische Fokus weniger auf der Frage, was wirklich passiert ist, sondern konzentriert sich eher auf die Dynamiken und Prozessen, die nach den Anschuldigungen einsetzen und auf die die Beteiligten ganz unterschiedlich reagieren.

Wie sich Daniel als Opfer von Neidern und „aufmerksamkeitsgeilen“ Me-Too-Hysterikerinnen sieht, wie Julie trotz der Kenntnis des Charakters ihres Mannes weiterhin das Familienleben aufrecht erhält und wie Hannah mit den eigenen Erinnerungen und dem Erlebten hadert, das verbindet sich in Service zu einer mitreißenden Lektüre, die durch die multiperspektivische Erzählweise noch einmal gewinnt und die Schwierigkeiten einer Anklage nach einem sexuellen Übergriff eindrücklich vor Augen führt.

Dass der im Roman geschilderte Prozess so in der Realität kaum möglich wäre, da die Hürden (nicht nur) in Irland nach solchen Anschuldigungen noch einmal höher sind, peinliche Befragungen, Verzögerungen in der Bearbeitung und andere Widerstände inklusive, all das lässt schlucken, ist Sarah Gilmartins Buch doch schon so harter Tobak. Der Umstand, dass es das System Menschen nach einem Übergriff gegenwärtig noch einmal schwerer macht, ist wirklich schwer zu fassen und braucht eben solche Bücher wie das von Sarah Martin, die unterhaltsam und nicht platt moralisierend vor Augen führen, was sich ändern muss.

Fazit

Service ist ein überzeugend geschilderter Roman, der durchdacht montiert aus drei Blickwinkeln auf das Tun und Treiben hinter den Kulissen eines Spitzenrestaurants blickt. Sarah Gilmartin gelingt ein eindrücklicher Roman, der von den erniedrigenden Prozeduren in einem Prozess nach dem Vorwurf einer Vergewaltigung erzählt, wie er auch die Verteidigung und die Angehörigen in einem solchen Prozess klug in den Blick nimmt. Ebenso unterhaltsam wie aufrüttelnd!


  • Sarah Gilmartin – Service
  • Aus dem irischen Englische von Anna-Christin Kramer
  • ISBN 978-3-0369-5018-1 (Kein & Aber)
  • 320 Seiten. 24,00 €
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