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Claire Fuller – Bittere Orangen

Alles so schön heruntergekommen hier

Suchte man nach einem literarischen Äquivalent des Shabby Chic, so würde man mit Claire Fullers neuem Streich Bittere Orangen (Deutsch von Susanne Höbel) eindeutig fündig.


Sekretär im Shabby-Chic-Stil

Shabby Chic zeichnet sich ja dadurch aus, dass die Gebrauchsspuren des Interieurs als Merkmal von Klasse und Stil betrachtet werden. Das Marode, das Heruntergekommene gilt (in begrenztem Rahmen natürlich) als Qualitätskriterium, nach dem sich die ästhetischen Ansprüche richten. Somit tritt Shabby Chic offenbar der Behauptung des Philosophen Byul-Chung Han entgegen, der im Glatten das Charakteristikum unserer Gegenwart ausgemacht hat.

Hier sind die Gebrauchsspuren das Glatte, die Signatur, die durch ihren Makel so etwas wie Authentizität und Einzigartigkeit simulieren soll. Dass diese gewollte Unperfektion und der damit verbunde Wunsch nach Singularität (an dieser Stelle sei noch auf Andreas Reckwitz‘ Theorie der Gesellschaft der Singularitäten hingewiesen) dabei schon wieder einen Massenmarkt mit serieller Beschädigung der Möbel und damit das genaue Gegenteil der gewünschten Distinktion geschaffen hat- geschenkt. Durch die Normierung des Makels und oberflächlichen Schadens entsteht damit dann doch wieder eine Oberflächlichkeit, die damit Byung-Chul Hans These stützt. Doch darum soll es hier eigentlich nicht gehen – sondern um das neue Buch von Claire Fuller.  Genug der Abschweifung!

Warum steht das Buch von Claire Fuller in der Tradition des Shabby Chic? Die Einordnung in diese Kategorie liegt schon aufgrund des gewählten Schauplatzes auf der Hand.

Verwahrlostes Haus

Denn Claire Fuller siedelt ihren neuen Roman im Herrenhaus namens Lynton an. Dorthin verschlägt es die junge Ich-Erzählerin Frances Jellico im Jahr 1969. Nachdem ihre Mutter verstorben ist, sucht sie Halt in einer neuen Aufgabe. Für einen Amerikaner soll sie eine Expertise des Gartens rund um das Herrenhaus vornehmen. Nachdem die Kriege und der Zahn der Zeit heftig an dem Haus genagt haben, ist es nun ihr Auftrag, die Schäden und Chancen am Haus zu dokumentieren und ihre Ergebnisse an den in Übersee weilenden Auftraggeber zu übermitteln.

Der Einfachheit halber bezieht Frances gleich in den oberen Stockwerken des Hauses Quartier und trifft auf zwei weitere Bewohner des heruntergekommenen Anwesens. Als eine Art Hausmeister lebt und arbeitet dort Peter zusammen mit seiner Freundin Cara. Im Laufe des Buches wird die Bande zwischen diesen drei Protagonistinnen immer enger. Mit unabsehbaren Konsequenzen für alle Beteiligten …

So viel zunächst zu den erzählerischen Grundpfeilern von Bittere Orangen. Doch mit der Nennung der drei Hauptfiguren habe ich die vierte und mindestens ebenso wichtige Figur in diesem Roman unterschlagen. Dabei handelt es sich um das Haus Lynton, das ebenfalls eine gewichtige Rolle spielt und Frances, Cara und Peter ihre Spielfläche gibt.

Claire Fuller inszeniert ihr Lynton so, dass jeder Innenausstatter oder Fan von Lost Places feuchte Augen bekommen dürfte. Wie eine Art ruinöses Downton Abbey reihen sich im Haus Bibliothek, Esszimmer, Schlafgemächer und Dienstbotenzimmer aneinander und ermöglichen es, dass die drei bei ihren Streifzügen immer wieder neue Räume und Geheimnisse entdecken, abendliche Dinner im Kerzenschein in den heruntergekommenen Hallen inklusive. Höhepunkt ist die Orangerie, in der sie dann über die titelgebenden bitteren Orangen stolpern. Die Entdeckung der Orangerie und die weiteren Räume werden dann zu einem Wendepunkt der Beziehungen der drei Freunde.

Wie Enid Blytons Fünf Freunde tollen die Figuren durch das Haus und den umgebenden Garten. Sogar eine pflanzenumrankte Brücke gibt es, die das zum Haus gehörige Gewässer überspannt. Manchmal hat es durchaus den Anschein, als hätte Claire Fuller ihrem Roman Standardwerke für die englische Garten- und Baukunst zugrundegelegt. Aber sie schafft es, trotz dieses Settings alle Klischeeklippen sauber zu umschiffen.

Fans von Shabby Chic dürften durch Fullers Inszenierung dieser Ruine neue Ideen zur Ausgestaltung des eigenen Zuhauses bekommen (auch wenn man dafür hoffentlich nicht die Bibliothek derartig ruiniert, wie das im Lynton Anwesen der Fall ist).

Doch es gibt darüberhinaus noch einen zweiten gewichtigen Grund, dieses Buch in diese Mode einzuordnen.

Hausgäste mit Makeln

Denn die Verfallenheit des Hauses setzt sich in der Anlage der Charaktere fort und trägt zu deren Entwicklung bei. So ist Frances selbst bereits durch den Tod ihrer Mutter gezeichnet. Diese war über 30 Jahre der Fixstern in ihrem Leben und lässt sie nun mit diversen Problemen und Makeln zurück.

Aber auch Cara und Peter haben ihre Geheimnisse und Schwächen, die Claire Fuller geschickt im Laufe des Buches langsam lüftet. Sollbruchstellen, Makel – alle Figuren in Bittere Orangen sind davon betroffen. Besonders evident wird dies dann auch sukzessive auch in der Rahmenhandlung in der Gegenwart, die wie eine Klammer die Geschehnisse im Sommer 1969 umkränzt. Hier gibt es keine glatten Menschen, sondern im Gegenteil jede Menge (moralische) Verwahrlosung und Abgründe – was auch zusätzlich einen großen Reiz dieses Romans ausmacht. Nicht umsonst bedient sich Claire Fuller in ihrem Roman auch der Erzähltheorie des unzuverlässigen Erzählers. All das ist gut komponiert und mit viel Atmosphäre stimmig inszeniert.

Mag auch ihr Schauplatz und das Personal von Bittere Orangen mit Makeln und Sollbruchstellen versehen sein – der Roman selbst ist es nicht. Im Sinne von Byung-Chul Han kann man hier dann wieder von einem Roman sprechen, der das Glatte und den runden Lesegenuss in den Vordergrund stellt, ohne in Oberflächlichkeit abzugleiten. Das gelingt Claire Fuller ganz ausgezeichnet.

Fazit

Mit diesem Roman erschreibt sich die Britin Fuller in meinen Augen ihren Platz irgendwo zwischen Ian McEwan und J.L. Carr. Eine wirklich interessante Erzählerstimme von der Insel, deren Schaffen ich weiterhin aufmerksam im Blick habe, Shabby Chic hin, Chabby Chic her.

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David Whitehouse – Der Blumensammler

Erst neulich im Urlaub gewesen mit Freunden – und dabei auch über die Urlaubslektüre ausgetauscht. Im Gepäck überwiegend Krimis und Thriller. In meinem Koffer hingegen das neue Buch des Briten David Whitehouse (Jahrgang 1981) mit dem Titel Der Blumensammler (Deutsche Übersetzung von Dorothee Merkel). Die Reaktion eines Freundes nach meiner Zusammenfassung der erzählerischen Grundpfeiler: Etwas Langweiligeres könnte ich mir nicht vorstellen. Ein Buch über einen Mann, der Blumen sammelt. Öde

Und ja, das Blumensammeln hat keinen guten Ruf. Allzu spleenig ist das Hobby, viele sind damit wohl nur in der Schule im Heimat- und Sachkundeunterricht oder in Biologie in Berührung gekommen. Blumen bestimmen mithilfe des Schmeil-Fitschen, eines Bestimmungsbuches, bei dem man über einen Entscheidungsbaum die Pflanzen eingrenzen konnte. Oder als Höhepunkt das eigene Herbarium. Durch die Flora stiefeln, Blumen sammeln und dann zwischen den Seiten des verstaubten Lexikons die Blüten wochenlang pressen, bis diese so platt wie verdorrt sind.

Ich kann es dem Freund nicht verübeln, dass er da von einer trockenen und langweiligen Angelegenheit ausging. Doch Whitehouse Buch ist so ganz anders und zeigt, welche Faszination von Blumen ausgehen kann. Wer hat schon einmal von der Udumbara oder der geheimnisvollen Gibraltar-Lichtnelke gehört, nicht zu reden von einer schaffressenden Pflanze?

Drei unterschiedliche Männer und ihre Verbindungen

In seinem Buch begegnen wir all diesen Wunderwerken der Natur genauso wie drei Männern, die mehr verbindet, als es zunächst den Anschein hat. Da gibt es den Tatortreiniger Peter Manyweathers, der einen alten Brief entdeckt, der ihn zum Blumensammler macht. 20 Jahre später begegnen wir Dove, der eigentlich in London als Telefondisponent bei einem Rettungsdienst arbeitet. Er wird immer wieder von Flashbacks von Peter Manyweathers Leben heimgesucht. Und dann gibt es als Dritten im Bunde noch einen Professor, der bei einer waghalsigen Exkursion einen Flugschreiber rettet.

Erscheinen diese drei Erzählstränge zu Beginn noch völlig wahllos und unverbunden, so ordnet sich alles nach und nach zu einem logischen Ganzen. Die Frage, ob eine derartig komplizierte Erzähllkonstruktion nötig ist (die ich mir anfangs stellte) würde ich am Ende klar mit ja beantworten.

Fazit

Alles andere als trocken ist dieses Blumenbuch – es sind andere Adjektive, die für mich das Buch beschreiben. Berührend, kurzweilig, überraschend und exotisch. Neben den vielen Schauplätzen (Sumatra, Nairobi, Gibraltar, um nur einige zu nennen) thematisiert David Whitehouse auch die Faszination, die Pflanzen auf Menschen ausüben können, durchaus überzeugend. Würde man dieses Buch nur als Presse für ein Herbarium verwenden, so wäre das schade. Stattdessen sollte man das Buch auf alle Fälle lesen – und dann vielleicht sogar auf Pflanzenexpedition gehen!

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Mick Herron – Slow Horses

Ein Fall für Jackson Lamb

Sie sind die Slow Horses – die Mannen und Frauen rund um Jackson Lamb. Eine Truppe von Paria, die ihr individuelles Versagen eint. Einer aus der Truppe hat einst eine CD mit Geheimdienstinformationen im Zug liegen lassen, der andere hat bei einer Anti-Terror-Übung versagt. Nun hat man sie aus dem Hauptquartier des Geheimdienstes im Regents Park abgeschoben in ein Domizil, wo sie keinen Schaden mehr anrichten können. Der bezeichnende Name der neuen Unterkunft: Slough House. Aufgrund der Ausbootung erfolgte in Kollegenkreises die Verballhornung zu Slow Horses.

Doch auch wenn man sie als lahme Klepper schmäht – aufgeben will das Team um ihren Anführer Jackson Lamb deswegen noch lange nicht. Unverhofft sind sie wieder im Rennen, als sie die eigentlich öde Routineüberwachung eines Journalisten plötzlich in einen Entführungsfall katapultiert. Die Geheimdienstmitarbeiter auf dem Abstellgleis beginnen selbst zu ermitteln und geraten damit unverhofft in einen verzwickten Fall, bei dem die Fronten gar nicht einmal so klar sind, wie es zu Beginn scheint.

Großbritannien und Spionage, das passt einfach. Vom Altmeister Ian Fleming und seinem Agenten im Dienste ihrer Majestät bis hin zur BBC-Serie Spooks – die Insel bietet einfach einen guten Nährboden für Agenten und Verschwörungen. Mick Herron modernisiert das etwas angestaubte Genre des Agenten-Krimis nun mit einem Twist. Statt glorreicher Helden, die sich gewandt in allen Milieus bewegen und mit Chuzpe ihren Missionen nachgehen, macht er genau das Gegenteil. Er erhebt Versager zu den Helden seines Buchs. Statt eines gewieften George Smiley gibt es bei Mick Herron einen auch durchaus gewieften, aber eben auch korpulenten und von seinen Vorgesetzten abgesägten Jackson Lamb. Ein eher an Nero Wolfe erinnernder Mann, der mit seinen Geheimagenten völlig unverhofft ins Feld ziehen muss. Aus dieser Unwahrscheinlichkeit zieht dieser Krimi für mich seinen Reiz.

Mögliche Verfilmung nicht ausgeschlossen

Slow Horses ist sorgfältig gearbeitet und nimmt sich Zeit für die Einführung seiner Figuren. Bis die Haupthandlung einsetzt, vergehen einige Dutzend Seiten. Wie in einem Schachspiel positioniert Herron seine Figuren, eher er dann loslegt. Neben der Handlung und der Art und Weise seiner Erzählung überzeugen auch die Dialoge (einen Anteil daran hat sicherlich auch Herrons Übersetzerin Stefanie Schäfer). Dies bringt Tempo und Abwechslung in den Plot und sorgt dafür, das man sich nicht langweilt, wenn die Slow Horses losgaloppieren. Bei diesem Buch sollte man auch eine eventuelle Verfilmung nicht ausschließen – die Vorbedingungen sind äußerst gut

Fazit: Slow Horses liest sich wie eine Mischung aus Jussi Adler-Olsens Sonderdezernat Q und den eleganten Spionagegeschichten eines John Le Carrés. Ein Spionage-Krimi, der das Genre von jeglicher Kalte-Krieg-Romantik oder andere Klischees freipustet und der Spaß macht. Man darf auf weitere Bände der Reihe gespannt sein!

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Margaret Cavendish – Die gleißende Welt

Hinweis: Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der Reihe #WomeninSciFi des Blogs Binge-Reader

Was die Gleißende Welt im Innersten zusammenhält

Es gibt Geschichten, die sind eigentlich zu tolldreist, um sie zu glauben. Das Werk Die gleißende Welt und seine Erschafferin Margaret Cavendish sind genau solch ein Fall.

Margaret Cavendish wird 1623 in England geboren, zu einer Zeit also, in der der 30-jährige Krieg ganz Europa beherrscht. Im Schoß ihrer Familie wächst die junge Frau heran, während Oliver Cromwell gerade dazu ansetzt, die Monarchie unter dem englischen König Charles I. zu stürzen. Höchst turbulente Zeiten also, die von den Konflikten zwischen Krone und Parlament gekennzeichnet sind.

Margaret Cavendish (Quelle: Wikimedia)

Auch die Familie von Margaret Lucas (so der Mädchenname der Autorin) bleibt von diesen Turbulenzen nicht verschont. Der Familiensitz der Lucas‘ wird zweimal von anti-royalistisch gesinnten Bürgern angegriffen und schlussendlich sogar zerstört. Etwas Ruhe verheißt da der Antrag von William Cavendish, der um die Hand von Margaret anhält.

Cavendish, der Herzog von Newcastle-upon-Tyre ist frisch verwitwet und mit 50 Jahren ganze dreißig Jahre älter als Margaret. Er gilt als Unterstützer und Förderer von Geistesgrößen wie etwa Thomas Hobbes (und nebenbei auch als berüchtigter Frauenheld). Margaret willigt in die Ehe mit dem Herzog von Newcastle-upon-Tyre ein und wird folglich selbst zur Herzogin. Ihre neuen Freiheiten weiß sie geschickt zu nutzen. Obwohl sie kaum eine nennenswerte Schulbildung genossen hat, setzt sie dazu an, sich mit den Ideen der Philosophen und Forscher ihrer Zeit auseinanderzusetzen. Sie beginnt Briefe, Gedichte und Schriften zu veröffentlichen – zu der damaligen Zeit ein absolutes Unding. Das Verfassen von Schriften war den Männern vorbehalten und zudem eher für die interne Verbreitung in den privaten Zirkeln vorgesehen. Mit diesen Traditionen bricht Margaret Cavendish und beginnt ihr schriftstellerisches Ouevre zu veröffentlichen. Unterstützung erfährt sie dabei auch von ihrem Mann, der den Werken gerne ein selbst verfasstes Gedicht voranstellte, um zu zeigen, dass seine Frau seinen Rückhalt genoß.

Margaret Cavendish – eine Feministin?

Äußerst standesbewusst weiß sie sich zu inszenieren. Gerne trägt sich auch Männerkleidung und besucht Experimente der Royal Society. Sie mischt sich in Debatten ein und setzt sich mit den Forschungen ihrer Zeit auseinander und legt dabei ein großes disziplin-übergreifendes Interesse an den Tag. Margaret Cavendish aufgrund ihrer Unangepasstheit und ihrem Kampf um einen Platz in der Gesellschaft für Frauen als frühe Feministin zu bezeichnen, wäre allerdings falsch. Ihre eigene Position und persönliche Freiheiten galten der Herzogin von Newcastle weitaus mehr als sich mit anderen Frauen niederer Stände zu solidarisieren.

Mit ihrer Haltung und ihrem Gestaltungsdrang eckte die exzentrische Dame natürlich auch an. Mit ihren Briefen und ihrer Prosa zog sie viel Häme und Kritik ihrer ZeitgenossInnen auf sich. Beispielhaft sei hier eine Bemerkung von Dorothy Osborne genannt, einer Zeitzeugin, deren Urteil über Margaret Cavendish wie folgt ausfiel:

Bestimmt ist die arme Frau ein wenig verwirrt, sie könnte sich sonst nie so lächerlich machen, sich zu erlauben Bücher zu schreiben und noch dazu in Versen. Wenn ich vierzehn Tage nicht schlafen würfe, sollt es nicht so weit mit mir kommen. (Briefe von Dorothy Osborne an William Temple, Hg. vom G. C. Moore Smith. Oxford, 1928)

Nach ihrem Tod 1673 fiel Margaret Cavendish und ihr literarisches Ouevre alsbald dem Vergessen anheim. Die zumeist vernichtende Kritik sorgte für ein schnelles Ende ihres Nachruhms. Erst Virginia Woolf setzte Anfang des 20. Jahrhunderts wieder dafür, dass das Erbe von Margaret Cavendish nicht ganz vergessen wurde, wobei Woolfs Urteil über Margaret Cavendish recht ambivalent ausfiel. Erst im Zuge der aufkommenden Frauen-Forschung der 80er Jahre wurde Margaret Cavendish und ihr literarisches Schaffen wieder neu entdeckt. Und nun bekommt sie auch einen Platz in der Reihe #WomeninSciFi. Ein Platz, der der Engländerin als einer der Urmütter der Science Fiction fraglos mehr als zusteht.

Frontispiz von The Blazing World

Denn Margaret Cavendish verbindet als eine der ersten die Positionen Science und Fiction. Während London 1666 beim Großen Brand in weiten Teilen zerstört wird, erschafft die Herzogin von Newcastle in diesem Jahr ebenfalls ein gleißendes Ereignis – die Rede ist von ihrem Werk The Description of a New World Called the Blazing World. Diese Fiktion erscheint in Verbindung mit ihrer Schrift Observations upon Experimental Philosophy, beide Schriften stehen in enger Verbindung – hier die philosophischen Betrachtungen, auf der anderen Seite ihre Phantasie einer Welt, in der die Philosophie eine tragende Rolle spielt. Science und Fiction at it’s best quasi.

Die Autorin selbst bemerkt dazu im Vorwort ihres Buchs:

Es ist die Beschreibung einer Neuen Welt, nicht wie die bei Lukian oder die Welt im Mond des Franzosen (Cyrano de Bergeracs , Anmerkung meinerseits), sondern eine Welt, die ich selbst geschaffen habe und die ich die Gleißende Welt nenne. Der erste Teil ist romanzenhaft, der zweite philosophisch und der dritte bloße Laune oder (wie ich es nennen würde) phantastisch. Wenn dich dies erfreut, werde ich mich als glückliche Schöpferin betrachten ; wenn nicht, muß ich mit einem melancholischen Leben in meiner eigenen Welt Vorlieb nehmen. (Cavendish, Margaret: Die Gleißende Welt, S. 9)

Hier schlägt dem Leser schon der selbstbewusste Ton der Herzogin entgegen, die sich selbst als Hauptfigur in ihre Erzählung verpflanzt. Ein Kniff, den auch etwa ihr Landsmann Thomas Morus in Utopia anwendet (beide Bücher weisen nicht von ungefähr zahlreiche Berührungspunkte auf). Die Grundgeschichte ist ihrer Erzählung ist dabei schnell umrissen:

Eine Reise an den Nordpol

Ein Kaufmann möchte eine junge Dame in einem fremden Land erobern und raubt sie kurzerhand. Doch das Boot wird abgetrieben und gerät an den Nordpol. Nur die junge Frau überlebt an Bord und gelangt vom Nordpol durch einen Übergang in eine fremdartige Welt. Dort trifft sie auf Bären- Fuchs- und Vogelmenschen, sowie dergleichen mehr. Die Dame wird von den verschiedenen Bewohnern dieser Gleißenden Welt bewundert, sodass sie sogar zur Kaiserin des Reichs aufsteigt. Mit den verschiedenen Gattungen ihrer Welt tritt sie in den Dialog und lässt sich von ihnen die Welt erklären und führt unzählige wissenschaftliche Dispute. So gibt es Gespräche über die Philosophie, Syllogismus oder naturwissenschaftliche Themen (die auch immer Cavendish‘ zahlreiche Interesse widerspiegeln). Hier liest man eine Autorin und Heldin, die wirklich wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Der Ton ihrer Erzählung ist dabei manchmal märchenhaft, dann aber auch wieder forschend und nachbohrend wie der Wissensdurst eines kleinen Kindes. Die royalistische Grundhaltung lässt sich ebenso klar aus dem Text ablesen wie ihre Verachtung für manche Philosophen, die nicht von ungefähr etwa als Wurmmenschen auftreten lässt. Auch enthält ihre Erzählung weitere Themen wie etwa den Krieg (sogar zu einer Schlacht kommt es in ihrem Roman) oder die Suche nach der idealen Staatsform. Die von ihr kreierte Welt ist eine Utopie, bei der alle verschiedenen Rassen und Gattungen friedlich miteinander leben, geeint durch eine Religion und ein Staatsoberhaupt.

Diese ganzen Ansätze und Ideen machen eine Lektüre von Die gleißende Welt auch heute noch interessant, auch wenn die Lektüre manchmal etwas zäh gerät, besonders in den vielen wissenschaftlichen Diskussionen. Das Durchkämpfen durch diese Passagen lohnt sich aber, besonders wenn man sich für einen weiblichen Blick auf die damaligen Machtverhältnisse und Schreiben als Abbild oder Eskapismus der Wirklichkeit interessiert. Weitere Einblicke in das Leben und Wirken Margaret Cavendishs liefert zudem das Nachwort der Übersetzerin Virginia Richter, die zahlreiche Informationen über diese besondere Autorin zusammengetragen hat.

Ein außergewöhnliches Buch, eine noch außergewöhnlichere Autorin!

(Cavendish, Margaret: Die Gleißende Welt. Scaneg-Verlag, Reihe punctum, Bd. 15. Erscheinungsjahr 2001. ISBN 3-89235-115-5. Preis: 15,00 €)

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J. L. Carr – Ein Tag im Sommer

„Das war ein außergewöhnlicher Tag“, sagte Mrs Loatley. „Nicht so sehr wegen dem, was passiert ist, als wegen dem, was hätte passieren können. Dass es ein merkwürdiger Tag werden würde, habe ich schon gespürt, als ich aufgestanden bin. Den ganzen Tag habe ich mich schon so komisch gefühlt. Zuerst dachte ich, es liegt an den Holunderblüten, ihrem süßlichen Geruch; aber das war es nicht. Es ist etwas, das mich die ganze Zeit umgibt. Vielleicht die Hitze; andererseits habe ich ja schon andere heiße Tage erlebt. Nein, es ist etwas anderes.“

(Carr, J.L.: Ein Tag im Sommer, S. 281)

Nicht nur die werte Mrs Loatley wird an jenem Tag im Sommer aus den gewohnten Bahnen geworfen – nein das ganze englische Städtchen Great Minden steht Kopf. Und das hat auch einen Grund. An jenem Tag feiert man in der Kleinstadt Kirchweih. Zur Feier des besonderen Tages wird ein Jahrmarkt veranstaltet. Die SchülerInnen sind mit dem Kopf schon längst bei den abendlichen Festivitäten – und auch in der restlichen Dorfbevölkerung macht sich Unruhe breit.

Eine besondere Brisanz erhält der Tag durch das Auftauchen eines weiteren unerwarteten Gasts: im Zug nähert sich der Kriegsveteran Peplow Great Minden. Der Grund für seinen Besuch liegt in einer offenen Rechnung, die er im verschlafenen Städtchen begleichen will. Mit im Gepäck hat er eine Waffe und den Wunsch nach Rache.

Trotz dieser erzählerischen Grundanordnung sollte man keinen Krimi erwarten. Ein Tag im Sommer ist ein ruhiger Roman, der die drei Aristotelischen Einheiten von Handlung, Ort und Zeit fast durchgängig beachtet. Die knapp 300 Seiten gliedern sich in Morgen, Mittag und Abend und spielen nahezu ausschließlich in Great Minden. J. L. Carr springt immer von wieder von Dorfbewohner zu Dorfbewohner und liefert ein genaues Porträt der Bevölkerung des Ortes. Da ist ein junger Referendar, der mehr Arbeit in die zahlreichen Affären mit der Dorfbevölkerung steckt, als in seine Unterrichtsvorbereitung. Da gibt es frömmelnde Damen, voyeuristische Kriegsinvaliden, eine verliebte Friseurin und dergleichen mehr.

Möchte man spötteln, könnte man die Literatur J.L. Carrs auch als Manufactum-Literatur desavouieren. Hier wird ein England gezeigt, das nichts mit dem heutigen schnellen Leben und der Brexit-Welt gemein hat. Die Uhren ticken noch langsam, ein Jahrmarkt gilt als herausragendes Ereignis. Da das Buch aber tatsächlich aus dieser Zeit stammt, von der es erzählt, nämlich 1963, sind solche Vorwürfe hanebüchen.

Ein Tag im Sommer ist genauso wie das erste auf Deutsch veröffentlichte (und ebenso gut von Monika Köpfer übersetzte) Ein Monat auf dem Land eine wunderbare Wiederentdeckung. Eine nostalgische Entschleunigungslektüre, die darüberhinaus auch wunderbar in Form gebracht worden ist. Mit einem reduzierten und genau deshalb so stimmigen Cover, Lesebändchen, Vorsatzpapier und haptisch angenehmer Verarbeitung ein echter Treffer. Nicht nur als Sommerlektüre ein Gewinn!

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