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Nenad Veličković – Nachtgäste

Wie kann man nur vom Grauen des Krieges erzählen? Nenad Veličković entscheidet sich in seinem Roman Nachtgäste für die Perspektive einer jungen Frau, die in ihren Notizen und Niederschriften das Bild des belagerten Sarajevo inmitten des Bosnienkriegs entstehen lässt. Nicht nur die junge Frau fragt sich, wer hier eigentlich gegen wen kämpft – und vor allem wozu?


Obschon die Gräuel des Bosnienkrieges in den 90ern mehr oder minder vor unserer Haustür stattfanden, sind die Erinnerungen an das Kriegsgeschehen schon wieder sehr verblasst, wenn sie überhaupt je so präsent waren wie andere Kriegsgeschehen zur der damaligen Zeit, etwa der kurz zuvor begonnene Zweite Golfkrieg, den die USA gegen den Irak führten.

Auch in der Literatur fristet der Bürgerkrieg, der fast 100.000 Menschen das Leben kostete und zur Flucht und Vertreibung von fast 2,2 Millionen Menschen führte, ein Schattendasein. Zwar behandeln deutsche Autoren (Tijan Sila, Tanja Miljanović, Saša Stanišić) den Konflikt ebenso wie kroatische Autoren, darunter Miljenko Jergović oder Faruk Šehić – auf Interesse stoßen die zumeist von idealistischen Kleinverlagen herausgegebenen Werke besonders der fremdsprachigen Autor*innen dabei nur bedingt. Angesichts der überwältigenden Fülle von westlich zentrierter Literatur hat es diese Art von Büchern schwer.

Aus Logiergästen werden Nachtgäste

Nenad Veličković - Nachtgäste (Cover)

Der österreichische Jung und Jung-Verlag unternimmt jetzt einen weiteren Versuch, den im Original bereits 1995 erschienenen Roman Nenad Veličkovićs seinem Publikum zugänglich zu machen. Schon einmal war das Buch in deutscher Übersetzung im Jahr 1997 unter dem Titel Logiergäste erschienen. Nun liegt der Roman knapp zwanzig Jahre später in einer leicht überarbeiteten Übersetzung von Barbara Antkowiak dem Lesepublikum zum zweiten Mal vor.

Darin lässt Veličković seine Erzählerin Maja von einer ganz besonderen Schicksalsgemeinschaft berichten. Die junge Studentin erzählt in ihren Aufzeichnungen vom Krieg, der sie und ihre Familie in das vom Vater betreute Museum im Herzen Sarajevos verschlagen hat, das den Schauplatz des Romans bildet.

Ich heiße Maja. Was ich schreibe, wird ein Roman in Form eines Tagebuchs oder vielleicht ein Tagebuch in Form eines Romans. Das ist vorerst offen. Ich schreibe das, weil mir nichts anderes geblieben ist. Wir gehen nicht zur Schule, wir sehen nicht fern, wir verlassen den Keller nicht. Den Keller verlassen wir nicht, weil oben Krieg ist. Er wird zwischen Serben, Kroaten und Muslimen geführt.

Dávor sagt, der Krieg wird geführt, weil die Kroaten Kroatien haben, die Serben Serbien, aber die Muslime kein Muslimien. Alle denken, dass sie es haben sollten, doch sie können sich nicht über seine Grenzen einigen. Papa sagt, dass Dávor ein Esel ist und der Krieg deshalb geführt wird, weil Serben und Kroaten Bosnien unter sich aufteilen und die Muslime umbringen und vertreiben wollen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Einiges ist mir nicht klar.

Nenad Veličković – Nachtgäste, S. 8 f.

Nicht nur Maja ist einiges nicht klar, auch für die Leser*innen bleibt die Lage in Sarajevo unübersichtlich. Wer kämpft nun gegen wen, wo verläuft die Front, was soll der Krieg überhaupt erreichen? Neben der Sinnlosigkeit und der Brutalität des Kriegs und des Überlebenskampfes inmitten des diffusen Kriegsgeschehen lässt Maja in ihren Aufzeichnungen auch ein Bild des skurrilen Miteinanders der Nachtgäste entstehen. Nicht von ungefähr reicht der im Buch zitierte Bogen von Literaten deshalb von Jaroslav Hašeks und dessen braven Soldaten Schwejk über Karel Čapek bis hin zu Ivo Andrić. Auch Nenad Veličkovićs Schreiben deckt die Schattierungen dieser Autoren von absurd bis tragisch ab.

So erzählt Nenad Veličković vom Miteinander der bunt zusammengewürfelten Truppe. Da der Portier Brkic und dessen Freund Julio, die sich aus alten Partisanenkämpfen kennen. Dort die Großmutter, der Hund Sniffy, der Vater, Majas Mutter, die mit ihrem Hand zum Vegetarismus die Nerven der Gäste strapaziert, und dazu noch ihr Bruder Dávor mit dessen hochschwangeren Frau Sanja.

Die Gleichzeitigkeit von Petitessen und Überlebenskampf

Ihr Miteinander beschreibt Maja ebenso wie den Alltag im Museum, bei dem Truppen zu Gast sind, ein wagemutiger Ausbruchversuch mit einem improvisierten Ballon unternommen wird und der Weg mit Kanister zur Wasserverteilung schon einmal zum gefährlichen Gang wird, wenn die Serbo-Sniper lauern und sich die Müllberge in der abgeschnittenen Stadt immer höher türmen.

Daraus entsteht ein Bilderbogen, der von der Gleichzeitigkeit von Petitessen und Überlebenskampf erzählt – und wie der Krieg mitsamt dem Belagerungszustand alle die Unterscheidung solcher Dinge zum Verschwinden bringt. Egal ob drohende Niederkunft von Majas Schwägerin, ein über Dávors Kopf schwebender Einberufungsbefehl oder die Suche nach dem verschwundenen Sniffy. Für alles ist in Nachtgäste Platz und Nenad Veličković kann es durch die gewählte Form und Perspektive glaubhaft vermitteln.

Nicht nur angesichts der Konflikte etwa in Israel oder in der Ukraine birgt Nachtgäste viel Allgemeingültiges und erzählt nachvollziehbar, wie sich Krieg anfühlt, der durch den Schauplatz des bewohnten Hotels gleichzeitig auch etwas Enthobenes und Absurdes bekommt.

Fazit

Nenad Veličković gelingt mit Nachtgäste ein lesenswertes Buch, das die Schrecknisse des noch gar nicht so lange zurückliegenden Krieges wieder wachruft. Im zweiten Anlauf ist diesem Werk nun hoffentlich der Erfolg und die Aufmerksamkeit beschieden, die es neben den Werken der anderen eingangs erwähnten serbischen, kroatischen und bosniakischen Autor*innen verdient und die Markt und Kritik hierzulande viel zu oft links liegen lassen.


  • Nenad Veličković – Nachtgäste
  • Aus dem Bosnischen von Barbara Antkowiak
  • ISBN 978 3 99027 411 8 (Jung und Jung)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €
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Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern

Einmal quer durch die bundesrepublikanische (Nach)Kriegszeit bis hinein in die Gegenwart reicht der erzählerische Bogen, den Rabea Edel in ihrem Roman Portrait meiner Mutter mit Geistern spannt. In ihrem Roman beschäftigt sie sich mit den fünf Generationen an Frauen und deren Vaterlosigkeiten.


Es ist ein Signum der Familie der Erzählerin Raisa, das sich durch die Generationen zieht. Seit den Zeiten der Urgroßmutter Dina verschwinden die Männer aus der Familie. Mal sterben sie, mal machen sich die Mütter aus dem Staub, mal heißt es einfach, dass es keinen Vater gebe. Auch Raisa muss das kurz vor den Wendejahren erfahren, als die Frage nach ihrem eigenen Vater immer drängender wird.

Mein Vater musste verschwunden sein, als ich gerade geboren worden war. Mein Name war das Einzige, was ich von ihm bekommen hatte, und selbst das stimmte nicht ganz. Er gab ihn mir und kurz danach verschwand er. Besser so, sagte meine Mutter. Für sie war das ein normaler Zustand. Anstatt auf ihn zu warten oder einen neuen Vater für mich zu suchen, den sie gar nicht brauchte, packte sie einen Koffer und wir gingen auf Reisen.

Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern, S. 20

Mit den einfachen Erklärungen will aber weder Raisa noch die Autorin Rabea Edel begnügen. Denn Edel taucht in ihrem Roman tief in die Geschichte der Familie Raisas ein. Es ist ein Roman, der – so das Nachwort- auf wahren Begebenheiten basiert und der zudem die Ähnlichkeit zu lebenden oder toten Personen explizit nicht ausschließt, also durchaus als autobiographisch grundiert angesehen werden darf.

Verschwundene Väter als schwarze Löcher im Familiengefüge

Rabea Edel - Portrait meiner Mutter mit Geistern (Cover)

Es ist ein Kellerfund ihres Kindheitsfreundes Mat, der bei der Erzählerin einen ersten Anstoß für eine vertiefte Beschäftigung mit der eigenen Herkunft gibt. Jener Mat, der ebenfalls ohne einen sonderlich präsenten Vater in der Nachbarschaft Raisas in Bremerhaven aufwächst, entdeckt nämlich ausgerechnet in einem Buch über schwarze Löcher eine Widmung eines gewissen Pauls, der Raisas Mutter das Buch zueignet.

Doch wer ist dieser Paul? Warum darf Raisa nicht ans Telefon gehen und wer ist der Mann, der eines Abends vor der Tür der beiden Frauen steht und der von Martha brüsk abgewiesen wird?

All das klärt sich im Laufe des knapp 400 Seiten starken Romans, in dem Edel immer wieder in der Zeit zurückgeht und die verschwundenen Väter als eine Art schwarzer Löcher im Familiengefüge zeigt. Vor allem nimmt ihr Buch aber die unterschiedlichen Frauen der Familie in den Blick.

Zurückreichend bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erzählt sie von Nachkriegsgenerationen, von Flucht, von Migration, von gescheiterten Hoffnungen und Träumen und nicht zuletzt auch von der Emanzipation, die zwar jede Generation der Frauen versuchte, deren Erfolg aber zumindest zweifelhaft ist, blickt man auf die intergenerationalen Traumata und Muster, denen sich die Frauen immer wieder gegenüber sahen und sehen.

Wiederholt sich Geschichte oder nicht?

Wiederholt sich Geschichte oder wiederholt sie sich nicht? In diesem im Buch an verschiedenen Stellen aufscheinenden Spannungsfeld bewegt sich Portrait meiner Mutter mit Geistern. Immer wieder beschreibt Rabea Edel unterschiedliche Gründe und Ereignisse, die für die Abwesenheit von Vätern sorgen und die sich aber in ihrer Konsequenz ähneln.

Von Amerika bis nach Bremerhaven, von Kindstoden bis zur Geburt von neuem Leben reicht dieser erzählerische Bogen, der ähnlich wie die Schwarzen Löcher nicht nur als Symbol für die absenten Väter nutzt. Auch sind lassen sich die im geheimnisvollen Buch beschriebenen astronomischen Phänomene auch auf die Figuren und die Erzählweise des Buchs übertragen. Rabea Edel lässt immer wieder Leerstellen in den Biografien setzt und eher auf kurze Schlaglichter denn auf wirklich episches Erzählen.

So gelingt der Autorin, die wie ihre Heldin Raisa ebenfalls 1982 in Bremerhaven geboren wurde, ein berührender Roman, indem sie die vielfachen Belastungen und richtungsweisenden Entscheidungen ihrer Frauen in den Blick nimmt. Vom Erbe des Erlebten und den über Generationen hinweg weitergegebenen Mustern kann man sich eben nicht so leicht lossagen wie vom Eintrag des eigenen Namens im Telefonbuch. Das zeigt Portrait meiner Mutter mit Geistern deutlich.

Fazit

Portrait meiner Mutter mit Geistern ist ein Roman, der über große Zeit hinweg den Parallelen und Motiven in einem familiären Gefüge nachspürt und wirklich interessante Figuren in den erzählerischen Mittelpunkt stellt. Rabea Edel beweist mit diesem Buch ihren Sinn für Zerrissenheit und Hürden sowie die inneren Kämpfe, denen sich (nicht nur) ihre Frauen gegenübersahen. Das ist anrührend komponiert und interessant montiert und lädt zur genauen und sogar mehrmaligen Lektüre ein, um all die sanft eingewebten Fragen und Figuren in all ihren Komplexitäten und Abhängigkeiten wirklich zu erfassen.

Mit Portrait meiner Mutter mit Geistern dürfte Rabea Edel bei der anstehenden Literaturpreissaison sicherlich das ein ums andere Mal eine Rolle spielen!


  • Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern
  • ISBN 978-3-406-82971-0 (C. H. Beck)
  • 396 Seiten. Preis: 26,00 €
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Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter

Dass Weihnachten nicht unbedingt immer ein Fest der Liebe und der Harmonie ist, das beweisen viele Familienfeste landauf, landab. Bei den Edgeworths in Ivy Compton-Burnetts Roman Ein Haus und seine Hüter ist das nicht anders. Doch hier stellt das wenig besinnliche Weihnachtsfest nur der Auftakt zu einem ganzen Reigen aus Konflikten, Ehen und Toden dar, der sich im Laufe des Romans entspinnt und der der Autorin dem Vergleich mit Jane Austen auf Drogen eingetragen hat, wie das Magazin Harpers Bazar einmal schrieb. In der vorliegenden Ausgabe der Anderen Bibliothek kann man sich davon überzeugen, dass der Vergleich durchaus zutrifft.


Nein, dieses Weihnachtsfest lässt sich wirklich nicht gut an. Schon alleine, dass sich die Kinder und der Neffe nicht rechtzeitig zum Frühstück einfinden wollen, erzürnt den Patriarchen Duncan Edgeworth. Dann noch eine kritikwürdige Predigt in der Kirche, eine Nachbarin, die die Familie heimsucht, um persönlich noch einmal die Weihnachtsbotschaft und die Erwartungen eines Besuchs der Mette vorzutragen. Und zu allem Überfluss ist da auch noch ein – zumindest in den Augen des Familienvorstandes – unziemliches Buch, das sein Neffe Grant als Geschenk erhalten soll, welches Duncan Edgeworth aber lieber in den prasselnden Kamin wirft, anstelle es dem jungen Mann zu überlassen.

Ein wenig besinnliches Weihnachtsfest

Die Zeichen in Ivy Compton-Burnett ursprünglich 1935 erschienenen Roman Ein Haus und seine Hüter stehen wahrlich nicht auf Harmonie und Besinnlichkeit. Dass die gereizte Stimmung der ersten Seiten weit über die Festtage hinaus andauern wird, das zeigt sich dann auch recht rasch im Lauf des Romans. Denn im Laufe der knapp 370 Seiten Romanhandlung kommt es zu einem ganzen Reigen an Konflikten und Reibereien, die den eingangs zitierten Vergleich mit Jane Austen auf Drogen gar nicht so abwegig erscheinen lassen.

Es ist schon unglaublich, was in diesem Haus vor sich geht!

Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter, S. 249

Der erzählerische Motor, der diesen Roman beständig antreibt, sind seine Dialoge. Sie sind es, die über allem stehen und auch die äußere Handlung in den Hintergrund treten lassen, obschon auch hier eine ganze Menge in Compton-Burnetts Roman passiert. Diese Gespräche und Dispute dominieren alle Szenen und stehen auch in ihrer Anmutung in der der Tradition des viktorianischen Romans einer Jane Austen. Man debattiert, verlobt sich, lästert, streitet, pflegt Gerüchte, hütet Geheimnisse und redet aneinander vorbei.

Ivy Compton-Burnett in der Tradition von Jane Austen

Ivy Compton-Burnett - Ein Haus und seine Hüter (Cover)

Doch wo es etwa in Jane Austens stilprägendem Roman Stolz und Vorurteil mit dem Tête-a-tête von Elizabeth Bennet und Mr. Darcy noch relativ gemächlich zugeht, geht Ivy Compton-Burnett in die Vollen. Die 1884 in Middlesex geborene Autorin schafft es, im Laufe des Romans ganze drei Ehen des Familienpatriarchen Duncan Edgeworth durchzuexerzieren. Dazu kommen diverse Todesfälle, ein Mordverdacht, ein potentiell uneheliches Kind und noch einiges mehr, was in den Dialogen der Figuren zutage tritt.

Verschmähte Liebe, enttäuschte Hoffnungen und nicht immer glaubwürdige erzählerische Volten stehen im Mittelpunkt von Ein Haus und seine Hüter, das den Zerbröckelungsprozess einer Familie zeigt, die auch einmal über drei Seiten hinweg debattieren kann, wo nun das Porträt der verstorbenen Hausherrin zu platzieren ist.

„Ich bezweifle, dass es hilfreich ist, sich der Familie gegenüber taub zu stellen.“

„Der Familie“, sagte Duncan tonlos. „Wir sind überhaupt keine richtige Familie mehr. Es fehlt die Kraft, die uns miteinander verbunden hat.“ Er seufzte schwer. „Du machst es mir nicht gerade leicht, diesen Tag zu beginnen.“

Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter, S. 112

Die Wiederentdeckung einer vergessenen Autorin

Zwar trifft der englische Titel A house and it’s head den Kern des Romans noch etwas genauer, da der herrische Hausvorstand Duncan Edgeworth mitsamt seiner immer neu ansetzenden Eheversuche das Gravitationszentrum dieses Romans bildet. Aber auch die deutlich offenere Variante der Haushüter im Deutschen hat seine Berechtigung, schließlich hat bewachen alle Mitglieder der Familie Edgeworth das Haus in unterschiedlichen Formen und hüten so ziemlich alles, außer ihre Zungen.

Das Haus wird hier zur Bühne des Misstrauens, des Verschweigens, der Geheimnisse und der Konflikte, was die drückende Enge dieses Romans immer wieder unterstreicht.

Mit Ein Haus und seine Hüter hat Ivy Compton-Burnett ein Werk geschrieben, das sich stark an die Tradition der viktorianischen Gesellschaftsromane anlehnt. Dieses Werk bildet den Auftakt zu einer erstaunlich produktiven Karriere, wie Hilary Mantel im Vorwort zu diesem Roman schreibt. Ganze achtzehn weitere Werke aus der Feder der 1969 verstorbenen Autorin sollten folgen, „die immer stimmiger und kraftvoller wurden, zugleich aber „den Gefahren einer allzu großen Leserschaft nicht ausgesetzt“ waren, wie ihr Freunde sagten. Ihr britischer Verleger schien ihre Arbeit nicht zu verstehen oder zu schätzen und unternahm nur wenig, um sie zu fördern“, so Mantel.

Fazit

Der herausgebenden Anderen Bibliothek unter Leitung von Nele Holdack und Rainer Wieland sowie Übersetzer Gregor Hens ist es nun zu verdanken, dass diese Gefahr der allzu großen Leserschaft jetzt deutlich zunimmt. Denn ihre deutsche Neuveröffentlichung macht es möglich, diese hierzulande reichlich unbekannte Autorin (noch einmal) neu zu entdecken und tief in diesen dialogstarken, nicht immer völlig plausiblen, aber doch in der Unterhaltungstradition von Jane Austen und Co. stehenden Roman einzutauchen. Die schlechte Laune und den Zwist an den Weihnachtstagen kann man dann einfach den Edgeworths überlassen, um nach der Lektüre selbst deutlich frohgemuter in die Feiertage zu gehen.


  • Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter
  • Aus dem Englischen von Gregor Hens
  • 978-3-8477-0469-0 (Die Andere Bibliothek, Band 479)
  • 372 Seiten. Preis: 48,00 €
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Una Mannion – Sag mir, was ich bin

Wer bin ich und wo komme ich her? Diesen Klassiker der philosophischen Selbstbefragung verwandelt Una Mannion in einen Roman über Leerstellen im Leben, der sich spät noch zu einem Krimi mausert. Sag mir, was ich bin erzählt vom Verschwinden, vom Vermissen und von einem schlimmen Verdacht.


Mit Una Mannions neuem, von Tanja Handels übersetzten Roman ist es ein bisschen wie mit einem dieser Geschicklichkeitsspiele, mit denen man als Kind einst seine Motorik trainierte. Eine in einem flachen Kasten eingeschlossene Kugel galt es mit Drehungen und präzisem Kippen von außen durch ein Labyrinth oder eine durchlöcherte Strecke zu manövrieren. Ganz am Ende des Parcours wartete das finale Loch, in das die Kugel dann versenkt werden durfte. Liest man Sag mir, was ich bin, fühlt sich einiges wieder wie damals an, als die Kugel durch Schütteln, Rütteln und Ziehen bewegt wurde.

Una Mannion präpariert ihre erzählerische Strecke ebenfalls mit einigen Löchern und Schikanen, durch die sie ihre Leser*innen lotst, um dann auf den letzten Seiten ihren Roman zu einem eindrücklichen Ende zu führen. Mag sich auch mitten im Text manchmal ein Zweifel einstellen, ob das wirklich ein Krimi ist, wie die Shortlist-Nominierung für die diesjährigen Dagger Awards nahelegt, so lässt sich doch das Ende keinen Zweifel, wenn die literarische Kugel ins Ziel plumpst: ja, Sag mir, was ich bin ist (auch) ein Krimi. Davor ist es vor allem ein Parkour, durch den wir uns und vor allem Mannions Heldin Ruby sich bewegen müssen.

Unterwegs im erzählerischen Parkour

Una Mannion - Sag mir, was ich bin (Cover)

Zusammengesetzt aus verschiedenen Rückblenden und zeitlichen Sprüngen schält sich die Geschichte eines großen Verlusts heraus, der das Leben der Figuren in diesem Roman bestimmt. So verschwand am 8. Februar 2004 Deena, die Schwester von Nessa und Mutter von Ruby spurlos. Nach einer Schicht in einem Krankenhaus in Pennsylvania nicht mehr nachhause zurückgekehrt, verloren sich alle Spuren der jungen Frau und die Familie muss mit der fortan klaffenden Leerstelle im Familiengefüge irgendwie umgehen.

Nicht leichter wird das Ganze durch die Tatsache, dass Lucas, der Mann von Deena und Vater von Ruby beschließt, zusammen mit seiner Mutter und seinem Kind nach Vermont zu ziehen und alle Kontakte zu Deena und ihrer Familie zu unterbinden. Zuvor gab es einen Sorgerechtsstreit um das Kind, nun hat Lucas vollen Zugriff und schottet Ruby vollkommen ab.

Das verstärkt das Unwohlsein von Nessa, die schon zuvor die Beziehung ihrer Schwester mit dem extrem besitzergreifenden Lucas nicht guthieß. Mit dem jetzigen Kontaktabbruch aber erreicht das Ganze noch einmal eine neue Qualität, der bei Nessa die Alarmglocken schrillen lässt und bei Ruby den Wunsch weckt, doch irgendetwas über ihre Mutter zu erfahren, die in ihrem neuen Zuhause in Vermont totgeschwiegen wird.

Von familiären Leerstellen und der Frage der Herkunft

Una Mannion erzählt hauptsächlich aus Sicht von Rubys Tante Nessa und dem Mädchen selbst, wie es sich anfühlt, wenn da plötzlich eine Leerstelle im Leben klafft, die man weder aus kindlicher, noch aus Erwachsenenperspektive so recht zu verstehen mag. Wie Lucas seine Tochter indoktriniert und jegliches Informationsbedürfnis von Ruby zu unterdrücken versucht – und wie sich Deena nicht mit den neuen Gegebenheiten abfinden will, das ist stark gemacht.

Sag mir, was ich bin ist ein Roman, der vor allem aus seiner psychologischen Komponente seine Stärke zieht. Eindrücklich porträtiert Mannion ihre beiden weiblichen Figuren und schafft durch die achronologische, springende Erzählweise einen abwechslungsreichen Roman, der in seiner Beziehung von Ruby zu ihrem Vater in der Isolation Vermonts selbst Bezüge zu Shakespeares Der Sturm herstellt.

Ruby als Miranda, ihr Vater als auf einer Insel gestrandeter Zauberer Prospero und über allem die Frage, ob die Abschirmung der Tochter dem Schutz dient oder ob man diesem Zauberer in seinem abgelegenen Königreich misstrauen sollte. Auch aus dieser Parallele zieht der Roman seinen Reiz, der trotz der begrenzten Handlung zu fesseln vermag und vor allem am Ende unter Beweis stellt, warum sich dieser Roman beim Dagger Award 2024 in der Endauswahl fand.

Fazit

Immer wieder nährt Mannion durch die springende Erzählweise einen Verdacht, schubst sie uns in die eine oder andere Richtung, bietet Raum für Misstrauen und führt das Ganze dann zu einem schlüssigen Ende. Wie schon in ihrem ersten, ebenfalls im Steidl-Verlag erschienenen Roman Das Licht zwischen den Bäumen erweist sich Mannion auch hier als Zeichnerin familiärer Entropie, kindlicher Lebenswelten und schmerzender Leerstellen.

Leser*innen, die etwa die ruhigen aber psychologisch dicht gezeichneten Krimis von Tana French schätzen, dürften auch mit Una Mannions neuem Roman glücklich werden, die uns gelungen durch ihren literarischen Parkour führt.


  • Una Mannion – Sag mir, was ich bin
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-96999-403-0 (Steidl)
  • 304 Seiten. Preis: 28,00 €
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Abraham Verghese – Die Träumenden von Madras

900 Seiten pralles Leben in Südindien. Über siebzig Jahre hinweg zeichnet der Autor Abraham Verghese in seinem Roman Die Träumenden von Madras Schicksale, gesellschaftliche Entwicklungen und jede Menge Medizingeschichte nach. So liefert der Roman Einsichten in eine Region, die im westlich geprägten Literaturmarkt kaum präsent ist.


Travancore, eine Region in an der Ostküste im Süden Indiens. Hier spielt der Großteil von Abraham Verghese voluminösen Romans Die Träumenden von Madras, der im Jahr 1900 einsetzt. Es ist das Jahr, in dem die Frau verheiratet werden soll, die später als Big Ammachi die Geschicke des Dorfzentrums Parambil leiten soll.

Doch bis es soweit ist, wird noch viel Zeit vergehen – und droht zunächst sogar die Hochzeit zu scheitern. Denn die von Heiratsvermittlern und dem Onkel des jungen Mädchens vorangetriebene Verheiratung steht auf der Kippe, als der künftige Ehemann vor dem Altar flieht, als er des 12-jährigen Mädchens ansichtig wird. Er, der schon einmal verheiratet war und bereits ein Kleinkind zuhause hat, soll nun ein weiteres Kind ehelichen? Diese Hochzeit wird durch viel Zureden trotzdem vollzogen – und soll sich entgegen aller Erwartungen tatsächlich als Glücksfall erweisen.

Denn nach einer langen Zeit der Eingewöhnung und des Kennenlernens finden Big Ammachi und ihr Ehemann zu einem gemeinsam Umgang dort in jenem Haus, das das Zentrum von Parambil bildet. Über 200 Hektar Wald und Anbaufläche umfasst das Gebiet, das von vielen Flüssen durchzogen ist. Fast überall kann man den Spaten in den laterithaltigen Boden stechen , um rostrotes, an Blut erinnerndes Wasser aus dem Boden quellen zu sehen.

Im Süden Indiens

Es ist eine reichhaltige Landschaft, in die Big Ammachi nun eintaucht und in der sie Stück für Stück Wurzeln schlägt.

Das Zuhause der jungen Braut und ihres verwitweten Bräutigams liegt in Tracanvore an der Südspitze Indiens, eingezwängt zwischen dem Arabischen Meer und den Westhats – dem langen Gebirgszug, der parallel zur Küste verläuft. Das Land ist geprägt vom Wasser, und seine Bewohner sind durch eine gemeinsame Sprache vereint: Malayalam. Wo das Meer auf weißen Strand trifft, schiebt es Finger ins Land, um sich mit den Flüssen zu vereinen, die sich die grün bedachten Hänge der Ghats herabwinden. Es ist die Phantasiewelt eines Kindes aus Bächen und Kanälen, ein Gitterwerk aus Seen und Lagunen, ein Labyrinth aus Altwassern und flaschengrünen Lotusteichen: ein riesiger Kreislauf, denn wie ihr Vater immer sagte, alles Wasser ist verbunden.

Abraham Verghese – Die Träumenden von Madras, S. 22

Doch das Wasser, es ist nicht nur Paradies, sondern bedeutet vor allem für die männlichen Nachkommen der Familie ihres Ehemanns Gefahr. Immer wieder finden Männern den Tod im Wasser und haben deshalb begonnen, dieses zu meiden.

Familien- und Medizingeschichte

Abraham Verghese - Die Träumenden von Madras (Cover)

Wieso dem so ist, das ist eine der großen erzählerischen Linien, die durch diesen mäandernden Fluss von Buch führt. Denn neben dem Leben und dem Vergehen der Zeit in Parambil macht vor allem die Medizingeschichte einen großen Teil dieses Romans aus.

Wie schon in seinem Bestseller Rückkehr nach Missing ist lässt sich auch hier der medizinische Hintergrund Abraham Verghese nicht leugnen, arbeitet er doch als Arzt und lehrt als Professor am Stanford University Medical School. Wie schon in seinem 2008 erschienen Vorgängerroman stehen auch hier Ärzte und Chirurgen eine große, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle.

So gibt es den schottischen Arzt Digby Kilgour, der sich zunächst im Madras der 30er Jahre seine medizinischen Sporen verdient und später in einem Leprosarium seine Berufung finden wird. Sein Schicksal verflicht sich mit der Familie von Big Ammachi, darüber hinaus bekommen es fast alles Figuren im Lauf des Romans mit schwierigen Entbindungen oder anderen medizinischen Notfällen zu tun.

Abraham Verghese trifft Gabriel Garcia Marquez trifft Noah Gordon

So liest sich Die Träumenden von Madras an vielen Stellen, als hätte Abraham Verghese Gabriel Garcia Marquez‚ Dorf Macondo nach Kerala verpflanzt und dazu noch Noah Gordon eingeladen, um die Schilderung von Medizingeschichte einfließen zu lassen.

Das Ganze verbindet sich so zu einem üppigen Roman, der mit vielen Schicksalen und Tiefschlägen, aber auch erhellenden Momenten dort im Süden Indiens aufwarten kann. Und auch wenn das Kastensystem, die Misogynie oder das Ende der britischen Kolonialherrschaft an einigen Stellen aufblitzen, hätte Die Träumenden von Madras tatsächlich in meinen Augen noch etwas mehr Zeitgeschichte und Kolorit vertragen.

Mahatma Ghandi etwa spielt fast überhaupt keine Rolle und grüßt nur einmal aus der Ferne. Stattdessen konzentriert sich Verghese eher auf das Schicksal des Ammachi-Clans mitsamt sämtlichen Volten und medizinischen Ereignissen. Erst ganz am Ende der fast 900 Seiten Saga aus der indischen Provinz rundet sich dann alles und erklärt auch die Konstruktion dieses Romans, die schlussendlich noch einmal für viel Wucht und familiäres Drama sorgt.

Fazit

Die Träumenden von Madras ist ein Roman, der eine Familie über verschiedene Generationen nachverfolgt, der zeigt, wie sich innerhalb von knapp achtzig Jahren die Gesellschaft und das Leben in Indien wandelten, welche Probleme das Land umtreiben und wie sehr auch die Medizin im Verlauf des 20. Jahrhunderts dazugelernt hat.

„Das ist Literatur! Literatur ist die große Lüge, die die Wahrheit darüber spricht, wie die Welt lebt!“

Abraham Verghese – Die Träumenden von Madras, S. 295

Abraham Verghese erweist sich nach diesen Worten, die eine der Figuren im Gespräch über Moby Dick und die Frage nach dessen Fiktionalität ausruft, als großer Lügner. Mit seiner fiktiven Geschichte aus dem Süden Indiens erzählt er uns viel Wahrheit über ein Land, das trotz seiner immensen Größe und seines wachsenden Einflusses uns noch immer fern ist. Auch wenn sein Epos noch etwas mehr geschichtliche Wahrheit und an der ein oder anderen Stelle etwas mehr Subtext vertragen hätte, ist Die Träumenden von Madras doch auch große Unterhaltung, die die Höhen und Tiefen des Familienclans von Big Ammachi mit Sinn für die Brüche im Leben der Figuren nachzeichnet.


  • Abraham Verghese – Die Träumenden von Madras
  • Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
  • 978-3-458-64393-7 (Insel-Verlag)
  • 894 Seiten. Preis: 28,00 €
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