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Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister

Erinnerungssuche zwischen eigener Familie und agrikulturellen Studien. Der Geschichtsprofessor Ewald Frie beleuchtet in seinem Buch Ein Hof und elf Geschwister die Veränderungen der Landwirtschaft und des bäuerlichen Lebens – anhand seiner eigenen Familiengeschichte. Ihm gelingt ein einsichtsreiches Buch zwischen Memoir, Studie und Erinnerungsbuch, das mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2023 ausgezeichnet wurde.


Die Coronazeit, sie hatte neben allen Übeln und Einschränkungen auch ihr Gutes. So wurden durch die pandemiebedingten Einschränkungen plötzliche neue technische Möglichkeiten ausgetestet – die Schriftstellerin Helga Schubert beispielsweise konnte so am Bachmannpreis in Klagenfurt teilnehmen – und gewinnen, obwohl sie aufgrund der Pflege ihres Mannes an ihr norddeutsches Zuhause gebunden war.

Und auch Ein Hof und elf Geschwister von Ewald Frie verdanken wir gewissermaßen der Corona-Pandemie. Denn als plötzlich Archive und Bibliotheken schließen mussten und das öffentliche Leben mehr oder weniger zum Erliegen kam, wurde auch Frie in seinem eigentlichen Forschungsvorhaben ausgebremst.

Die eigene Familie als Ausgangspunkt des Buchs

Stattdessen besann er sich auf seine eigenen familiären Wurzeln und begann seine Arbeit an diesem Buch, indem er seine zehn Geschwister besuchte, die sich in ganz Deutschland niedergelassen haben. Mit all ihnen führte er strukturierte Interviews über ihre Kindheit und die Erinnerung an das Leben damals auf dem Bauernhof ihrer Familie – und vollendete schließlich dieses Buchprojekt anstelle seiner eigentlichen Forschung – wofür es dann in der Folge den Deutschen Sachbuchpreis 2023 gab.

Es ist ein Buch, das Frie selbst wie folgt umreißt:

Der Text ist ein Grenzfall, von Wissenschaft wie von Familiensinn. Meine Hoffnung ist, dass er Gutes aus beiden Welten zusammenbringt, um ein besonder[e]s Licht auf die Geschichte der Bundesrepublik zu werfen.

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister, S. 16

Es ist ein Vorhaben, das tatsächlich aufgeht und das tatsächlich den wissenschaftlichen Ansatz des Professors für Neuere Geschichte mit den Erinnerungen der Frie-Familie miteinander vortrefflich vereint und ein ebenso gut lesbares wie einsichtsreiches Buch ergibt.

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben

Denn obwohl Frie mitten hinein in das Innerste seiner eigenen Familie blickt und das katholische Milieu der Nachkriegszeit auf dem münsterländischen Land beschreibt, besitzt Ein Hof und elf Geschwister doch auch etwas über diesen Bezugsrahmen Hinausweisendes, das sich ebenso auf die andere Regionen in Deutschland übertragen lässt, beispielsweise auch die fränkische Gegend, der ich entstamme. Und nicht zuletzt weist Fries Buch auch in diesen Tagen der Bauernproteste und dem Aufbegehren der (noch immer) agrikulturell geprägten Lebensräume noch einmal eine ganz eigene Qualität auf und erklärt durch seine Schilderungen der Veränderungen im bäuerlichen Leben auch Hintergründe der massiven Disruption, die das agrikulturelle Leben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute erfahren hat.

Ewald Frie - Ein Hof und elf Geschwister (Cover)

So beginnt Frie seine bäuerliche Familiengeschichte um das Jahr 1945, was nicht nur durch das Ende des Zweiten Weltkriegs eine Zäsur für ganz Deutschland darstellt. Auch sein ältester Bruder kam ein Jahr zuvor auf die Welt und begründete eine ganze Folge an Geschwistern, von denen die jüngste im Jahr 1969 geboren wurde, als Fries Mutter schon 47 Jahre alt war. Er selbst ist das neunte der insgesamt elf Geschwister, der 1962 zur Welt kam und in der Folge schon gar nichts mehr mitbekam von den Jahren nach der „Stunde Null“ und deren Auswirkungen auf den Hof. .

So ist er in seinen Schilderungen dieser Jahre auf die Erinnerungen seiner Geschwister angewiesen, die er thematisch geordnet synthetisiert und auch mit aktueller Forschung und Literatur zusammenführt.

Der Wandel vom nahezu autarken Hof in der Einsamkeit der Höfe hin spezialisierten Höfen und einer Einbindung der einzelnen Höfe in die ländliche Struktur, der Wandel von körperlicher Arbeit auf dem Feld hin zum Einsatz von technischem Gerät und der Wandel hin von einer tiefgläubigen katholischen Familie hin zu einem eher säkulareren Leben mit Volksglaube aber weniger kirchlichen Einfluss, all das lässt sich in den Schilderungen Fries und seiner Geschwister anschaulich nachvollziehen.

Von Wolke II und dem Abschied von Zuhause

So erzählt er von Viehauktionen und dem ganzen Stolz seines Vaters, der rotbunten Kuh „Wolke II“, die der ganze Züchterstolz seines Vaters war. Die unterschiedlichen Wertigkeiten von Frauen- und Männerarbeit, die logische Einbindung der eigenen Kinder in den Hofbetrieb und die unterschiedlichen Ansätze der Generationen bei ihrer Arbeit auf den Höfen im Münsterland, das sind Themen, die Ewald Frie in diesem unterhaltsam zu lesenden wie kurzweiligen Buch schildert und dabei das Leben seines Vaters ebenso wie das seiner Mutter in den Blick nimmt. Der allmähliche Auszug der Kinder von Zuhause, der tiefgreifende Wandel einer bis dahin althergebrachten Logik und Ordnung, der sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten vollzog und der Abstand, den seine Geschwister dann vom bäuerlichen Leben suchten, all das bringt den Professor zu folgendem etwas wehmütigen Fazit:

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben war für uns kein trauriger Abschied. Er bot Chancen, die meine Mutter nicht hatte und mein Vater wahrscheinlich nicht hätte haben wollen. Dennoch bleiben wir duch unsere Herkunft geprägt. Die Welten unserer Eltern waren zwar nicht immer schon da, wie wir als Kinder geglaubt hatten. Sie waren kurz und veränderlich, wie dieses Buch gezeigt hat. Dennoch aber haben sie langfristige Folgen. Wir Geschwister tragen Spuren der Geschichte in neue Welten. Wir alle reisen in neue Zukünfte. Aber die Vergangenheit wird uns begleiten.

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister, S. 168 f.

In diesem Sinne ist Ein Hof und elf Geschwister ein hervorragender Träger dieser Spuren der Geschichte – und ein Buch, das anschaulich vor Augen führt, welche Folgen dieser Wandel im Laufe der Zeit hatte – und der auch die Bauernproteste zumindest in Ansätzen erklärt, indem er die ständigen nötigen Anpassungen und Veränderungen in der Landwirtschaft vor Augen führt, deren rasche Abfolge den Bäuerinnen und Bohern eine hohe Anpassungsfähigkeiten und Flexibilität abverlangt(e). Und auch die heutigen Trends hin zu Monokulturen und einer hohen Subventionsabhängigkeiten sind Themen, die Fries Buch zumindest berührt und so wichtige Verständnisgrundlagen für den aktuellen Protest schafft.

Fazit

Ein Hof und elf Geschwister ist ein Buch, das zurückschaut, das Einsichten liefert, die Stadtbevölkerung zumindest informatorische etwas mit der Landbevölkerung zusammenführt und das dabei trotz seiner Tiefe in den familiären Tiefen bohrt und wirklich gut unterhält – was kann man mehr von einem Sachbuch verlangen?


  • Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister
  • Artikelnummer 175126 (Buechergilde Gutenberg)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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Inger-Maria Mahlke – Unsereins

Zu Gast im kleinsten Staat des Königreichs. Inger-Maria Mahlke lässt in ihrem Roman Unsereins die Kaiserzeit um die Jahrhundertwende im kleinen Stadtstaat Lübeck wieder auferstehen, „der Pfau“ alias Tomy Mann inklusive. Leider gerät das Ganze dabei etwas zu arg hanseatisch-trocken.


Schon der Blick in das vorangesetzte Personenverzeichnis des neuen Romans von Inger-Maria Mahlke macht klar, dass hier mit großem Besteck operiert wird. So führt das Verzeichnis allein acht Kinder des im Mittelpunkt stehenden Senators Friedrich Lindhorst auf. Daneben Hausmädchen, Ratsdiener, Lohndiener, Senatoren, Wasserbaudirektoren und dergleichen mehr. Sie alle bewohnen den „Kleinsten Staat“ des Kaiserreichs, der eigentlich gar nicht der kleinste ist, zieht man in Bezug auf die Fläche Bremen oder in Bezug auf die Einwohnerzahl den noch kleineren Staat Köstritz heran. Aber wie es so ist mit der Fassade dort im vom Großbürgertum dominierten Stadtstaat – man möchte etwas sein, und so wird man eben kurzerhand zum kleinsten Staat, um mit irgendetwas herausstechen zu können.

Generell geht es viel um das Sein und Nicht-Sein in Unsereins. Denn Inger-Maria Mahlke beschreibt den Zustand der Entropie, der im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur das Kaiserreich, sondern eben auch den Stadtstaat und im Innersten auch die Familie Friedrich Lindhorsts erfasst.

Geschichten aus dem kleinsten Staat des Kaiserreichs

Inger-Maria Mahlke - Unsereins (Cover)

Während im Stadtstaat der Sozialdemokrat Theodor Schwartz der elitenzentrierten Politik der alteingesessenen Senatoren und Konsuln entgegenwirkt und sich um den einzigen Platz als Abgeordneter des Stadtstaates bewirbt, geht es auch in der Familie Lindhorst hoch her. Zwischen Ausbildung, Verlobung, Schule, Erwartungen der Eltern, Yokohama, London und Bad Kissing treibt die ganze Familie Lindhorst auseinander. Der finanzielle Status verschlechtert sich zunehmend, man muss Immobilien beleihen, der nach London entsandte Sohn Cord düpiert mit seinen Spekulationen nicht nur die Firma, sondern die eigene Familie. Auflösungserscheinungen aller Orten, den althergebrachte Ständeordnung gerät durcheinander – und nicht einmal ein Kaiserbesuch im kleinsten Staat des Landes kann da etwas retten.

Um diese vielköpfige Familie Lindhorst herum gruppiert Inger-Maria Mahlke weitere Figuren, die den Stadtstaat bevölkern und deren Schicksal immer mal wieder angerissen wird. So verliebt sich der Ratsdiener Isenhagen in seine Nachbarin, deren Pelargonium triste zunächst seine Aufmerksamkeit und sie wenig später sein Herz gewinnt. Homosexuelle und damit verbotene Avancen, geheime Fechtclubs in der Schule, deren Ursprung der der Schüler Georg Presswitz in seinem Geheimversteck auf der Primanertoilette ergründen will – und dann auch noch Presswitz‘ Mitschüler, der „Pfau“ geheißene Mitschüler Tomy mit schriftstellerischen Ambitionen und Sohn der Senatorenwitwe Mann, die bald aus Lübeck nach München ziehen wird.

Leider viel Langeweile

Viele Figuren und Erzählstränge für einen Roman – der dabei doch erstaunlich langweilig ist, um dieses wenig analysescharfe und recht undifferenzierte Erkenntnis gleich vornewegzusetzen. Das hat aber auch seine Gründe.

Wie schon in ihrem rückwärts erzählten Familienroman Archipel, für den sie 2018 den Deutschen Buchpreis zugesprochen bekam, handelt auch Unsereins wieder von den Umbrüchen in Ländern und Leben, erzählt vom Verfall und dem Niedergang des familiären Status einer großbürgerlichen Familie (hier aber eben im Stadtstaat Lübeck statt auf der Insel Teneriffa).

Nur ist in dieser neuen Geschichte Mahlkes nicht nur der Pelargonium trist – auch ihr Erzählen schleppt sich über die Jahre nur voran, statt eine Bindung zum Leser (zumindest in meinem Falle) aufzubauen. Dabei wäre der sich abzeichnenden Abstieg der Senatorenfamilie Lindhorst ja durchaus ein valider Grunde, die Leserschaft mitfiebern zu lassen, ob die Sanierung der Senatorenfamilie noch gelingen kann. Daraus wird aber nichts.

Die Jahre schreiten ins Land, die Schauplätze wechseln – trotz aller äußeren Bewegung fehlt allerdings die innere Bewegung. Die Familie verfällt, während man sich gegenseitig über die wahren Seelen- und Kontozustände täuscht. Man bleibt als unbeteiligter Beobachter dabei außen vor, stellt sich Fragen über den Verbleib mancher Figuren, die für Jahre und damit dutzende von Seiten aus der Geschichte fallen, ehe ihr weiteres Schicksal kurz wieder angeschnitten oder indirekt weitererzählt wird.

Das übergroße Personaltableau erweist sich als zentraler Mühlstein des Erzählens. Nicht einmal Schauplätze wie Kobe und Yokohama in der zweiten Hälfte des Romans können darüber hinwegtäuschen, dass das Buch erzählerisch stagniert und trotz aller Raffinesse der erzählerischen Mittel, die Inger-Maria Mahlke zweifelsohne zur Verfügung stehen, nicht vom Fleck kommt.

Das ist besonders schade, da diese Personenfülle auch das lobenswerte erzählerische Vorhaben zu erdrücken droht.

Ein Gegenentwurf zu den Buddenbrooks

Inger-Maria Mahlke positioniert sich mit ihrem Roman als Gegenentwurf zu Tomy alias Thomas Manns Debüt Buddenbrooks, in dessen Lübecker Bürgertumsporträt für Frauen und Dienerinnen allenfalls ein Platz am erzählerischen Seitenrand war. Was als Vorhaben in Teilen funktioniert, trägt leider aber nicht über die Länge des Buchs. Denn um eine Bindung beispielsweise zum Schicksal des Dienstmädchens Ida aufzubauen, müsste das Erzählen stärker auf sie fokussiert sein, anstatt immer wieder zu anderen Figuren und neuen Handlungssträngen abzuschweifen, ehe sich die Autorin wieder ihrer besinnt.

Dort wo die Gebrüder Mann einst die Kaiserzeit Form ihrer Romane Der Untertan und Buddenbrooks in staunenswerte Literatur gossen, bleibt hier alles leider nur Staffage und Kulisse, in der kein lebendiges Schauspiel stattfindet, trotz des unbestreitbaren Talents Inger-Maria Mahlke. Die Erzählung verharrt, das Personal bleibt (zumindest mir als Leser) fern und echten Drive entfaltet Unsereins leider auch nicht. Insofern bleibe ich etwas enttäuscht zurück, obschon ich mich wirklich auf den Roman gefreut hatte.


  • Inger-Maria Mahlke – Unsereins
  • ISBN: 978-3-498-00181-0 (Rowohlt)
  • 495 Seiten. Preis: 26,00 €
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Dana Vowinckel – Gewässer im Ziplock

Die Phrase vom „Buch der Stunde“ ist schon wirklich abgenutzt – im Fall von Dana Vowinckels Debütroman Gewässer im Ziplock trifft sie aber auf besonders eindringliche Art und Weise zu. Denn ihre Geschichte ist gerade inmitten unserer Tage von großer Wichtigkeit – und zeigt eine junge Autorin mit bemerkenswertem schriftstellerischem Talent.


Vater, Mutter, Kind. Die Grundkonstellation einer Familie. Im Fall von Gewässer im Ziplock ist sich diese Familie aber so fremd, wie die Schauplätzen dieses Familienromans weit voneinander entfernt sind. Denn während sich Margaritas Vater Avi als Kantor und Vorbeter seiner Synagoge in seiner Wohnung in Berlin aufhält, ist seine Tochter nach Chicago zu ihren Großeltern mütterlicherseits geflogen. Bei diesen verbringt sie die Sommermonate, flieht aber regelmäßig vor der familiären Enge und träumt sich eigentlich zu ihrer besten Freundin nach Berlin.

Und dann ist da auch noch Marsha, die Mutter von Margarita. Schon als diese noch ein Kleinkind war, verließ die Mutter die Familie und lebt nun in Jerusalem, wo sie in universitärem Auftrag linguistische Forschung betreibt, besonders unter dem Eindruck von Noah Chomskys Theorie der Universalgrammatik. Nach Jahren der Funkstille lädt sie nun Margarita ins Heilige Land ein, wo sie vor dem Schulbeginn mit ihrer Tochter Zeit verbringen möchte.

Trotz anfänglicher Widerstände fliegt die fünfzehnjährige Margarita von Chicago nach Jerusalem zu jener Frau, mit der sie eigentlich nichts verbindet und die sie so gut wie gar nicht kennt. Während sie mit ihrem Vater in regelmäßigen Austausch steht und auch während des Aufenthalts in Chicago häufig schrieb und mit ihm in Berlin telefonierte, ist Marsha für Margarita eine Leerstelle, die durch die ausbleibende Abholung Ritas am Flughafen von Jerusalem erst einmal alle Vorurteile über die Mutter, die ihr eigenes Kind verlassen hat, zu bestätigen scheint.

Zwischen Jerusalem, Berlin und Chicago

Während Marsha und ihre Tochter aber dann doch durch Israel reisen und ein Land zwischen Akko, Jaffa und Jerusalem entdecken, lernt auch Rita ihre Mutter besser kennen, ehe unvorhergesehene Ereignisse die ganze Familie im Heiligen Land wieder zusammenführen.

Dana Vowinckel - Gewässer im Ziplock (Cover)

Im Kern ist Gewässer im Ziplock ein Familienroman, der sich auf seine kleine dreiköpfige Kernfamilie konzentriert und dabei sogar diese nicht einmal gleichwertig mit Perspektiven in den Blick nimmt. Denn während Dana Vowinckel abwechselnd aus der Sicht von Avi und seiner Tochter Rita erzählt, bleibt die Stelle der Mutter zunächst völlig außen vor. Erst nachdem diese ihre Tochter nach Israel einlädt, findet ihr Blick durch die Erzählung von Vater und Tochter in die Erzählung. Allmählich entsteht durch die drei Figuren das Bild einer Familie, bei der die Zersplitterung und das Auseinanderdriften zum Wesensmerkmal zählt.

So trifft Marsha im Gespräch mit ihrer Tochter auf Seite 328 folgende Diagnose: „Everything is falling apart“. Angesichts der Ereignisse zwischen Chicago, Jerusalem und Berlin sicherlich eine völlig zutreffende Diagnose. Die Frage, die sich im Anschluss nur stellt ist die, ob im Bezug auf diese so zerrissene Familie jemals alles Vorher zu einem Ganzen gefügt war.

Eine Familie und die Frage der jüdischen Identität

Liest man Dana Vowinckels Roman liest, dann ist man geneigt, diese Frage zu verneinen. Denn hier ist nur wenig ganz. Das Familienleben nicht wirklich intakt, die einzelnen Familienmitglieder zwischen neuer Romanze, erster Liebe, alter Schuld und Geheimnissen der eigenen Herkunft zerrissen – und auch die Frage der jüdischen Identität ist eine, die Vowinckels Figuren allesamt unterschiedlich beantworten und auf die sie ganz unterschiedlich blicken.

Er dachte an die Schreie. Er dachte an die Schmerzen.

Er dachte an die Gedenkveranstaltungen, bei denen die Hülle seines Körpers, nur getragen durch die Stimme, sang. Würde auch sein Herz singen, müsste ihm die Stimme versagen, vor dem Bundeskanzler, vor dem Bundespräsidenten, wenn sie vom „Schutz der jüdischen Mitbürger“ sprachen. Würde auch sein Herz zuhören, bräche er nicht in Gesang, sonder in hämisches Lachen aus. doch sein Herz hörte nicht, nicht einmal die Ohren hörten, was sie sagten, die immergleichen Anzüge, sie schalteten sich taub, er musste nur verstehen, was er hören wollte.

Juden, hörte er manchmal, aber nur, wenn es um die Toten ging. Die Lebenden waren jüdisch, so viel hatte er mittlerweile verstanden.

Nichts in Deutschland hatte sich geändert, alles in Deutschland hatte sich geändert.

Dana Vowinckel – Gewässer im Ziplock, S. 210

Hochaktuell und politisch

Gewässer im Ziplock ist ein hochaktueller und politischer Roman, der traurigerweise mitten hinein in unsere Gegenwart zielt, in der jüdisches Leben abermals nicht wirklich sicher scheint und in der die Politik trotz aller Rituale und formelhaften Bekenntnissen – wie am vorgestrigen 9. November wieder einmal vorgetragen – merkwürdig hilf- und tatenlos erscheint.

Während in Berlin und an so vielen anderen Stellen in unserem Land hasserfüllte Parolen gebrüllt werden und der Antisemitismus wieder unverhüllt zutagetritt, an Türen von jüdischen Mitbewohner*innen der Davidstern prangt, müssen jüdische Zeitungen anonymisiert ausgeliefert werden und Jüd*innen mit Kippa auf dem Kopf auf der Straße Beschimpfungen und Attacken erleiden.

Dana Vowinckel zeigt das Kontinuum dieses Antisemitismus beeindruckend und erzählt von schnell wieder verdrängten Episoden wie dem Terrorangriff in Halle auf eine Synagoge, die in der Öffentlichkeit schon gar nicht mehr diskutiert werden, geschweige denn, dass man Lehren aus solchen Vorfällen gezogen hätte.

Wie umgehen mit der eigenen jüdischen Identität, wie leben im Jahr 2023 mit dem Wissen um das Leid und die Verluste des eigenen Volks? Das thematisiert Gewässer im Ziplock ebenso überzeugend, wie Dana Vowinckel von jüdischem Leben hierzulande erzählt und damit in unseren Tagen so wichtige Arbeit für Verständigung und die Sichtbarkeit anderer Lebenswelten leistet.

Beeindruckende literarische Flughöhe

Ihr gelingt ein Roman über Familie, jüdische Identität und die Findung eines eigenen Umgangs mit dem familiären Erbe, der auf einer beeindruckenden literarischen Flughöhe unterwegs ist. Spielend leicht übertrumpft Dana Vowinckel mit diesem Debüt literarische Wegmarken wie Yasmina Reza, deren Auseinandersetzung mit jüdischem Leben namens Serge weit hinter diesem Roman zurückbleibt.

Souverän gelingt es Vowinckel, die beiden unterschiedlichen Erzählperspektive von Vater und Tochter einzunehmen und deren Wahrnehmungen und Gedanken dieser nicht nur durch den Altersunterschied getrennten Figuren glaubhaft zu Papier zu bringen. Sie schafft sogar die Herkulesaufgabe, angemessen und figurenpsychologisch stimmig austariert vom Besuch in Yad Vashem zu erzählen. Ein Balanceakte, der ihre ebenso wie der Rest dieses formidablen Buchs großartig gelingt.

Fazit

Man kann sich dieser Tage bei der Lektüre leider nicht freimachen vom Hintergrundrauschen der antisemitischen Exzesse, die ausgelöst vom Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober hierzulande um sich greifen. Liest man Vowinckels Debüt, dann schlägt einem die diagnostischen Schärfe entgegen, die zeigt Vorbehalte gegen Jüd*innen, die alles andere als neu sind. Diese Hellsichtigkeit und leider so große Aktualität paart sich im Falle von Gewässer im Ziplock mit souveräner Figurenführung und überzeugenden literarischem Talent, was diesen modernen Familienroman zu einer großen Empfehlung macht. Besonders jetzt, aber natürlich auch darüberhinaus. Ein außergewöhnliches und in diesen Tagen schmerzhaft aktuelles Debüt!


  • Dana Vowinckel – Gewässer im Ziplock
  • ISBN 978-3-518-47360-3 (Suhrkamp)
  • 362 Seiten. Preis: 23,00 €
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Lot Vekemans – Der Verschwundene

Lost in den Rockys. Die niederländische Dramatikerin Lot Vekemans lässt in ihrem Roman Der Verschwundene einen jungen Mann in den Rocky Mountains in Kanada verlorengehen – und blickt auf seine Angehörigen, die der Verlust auseinanderbringt.


Die Rockys, dieses Ziel hat der junge Daan klar vor Augen, als er seinen Onkel Simon in Calgary besuchen kommt. Besuchen ist für den Hintergrund seiner Reise allerdings glatt das falsche Wort. Denn vielmehr gleicht der Besuch dem Versuch einer Abschiebung oder Resozialisierung, der Daans Mutter mit der Reise zu seinem Onkel nach Calgary vorschwebt. Denn Daans Eltern kommen mit ihrem sechzehnjährigen Jungen nicht mehr zurecht und sehen nun in Simon einen rettenden Ausweg, um den Jungen wieder auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.

Aus den Niederlanden nach Kanada

Dabei gibt es allerdings ein kleines Problem: Simon und seine Schwestern haben sich schon lange nicht mehr gesprochen. Simon floh einst vor seiner Familie in den Niederlanden nach Kanada, wo er sich verwirklichen wollte. Seitdem herrscht nun Funkstille zwischen den Parteien, ehe Simons Schwester der verlorene Sohn in Calgary wieder in den Sinn kommt, der damals mit der Familie brach und über den Atlantik nach Kanada aufbrach, um dort Karriere zu machen.

Von einer Erfolgsgeschichte dort in Kanada kann aber wahrlich nicht die Rede sein. Körperlich malade schlägt sich Simon mit Aushilfsjobs und kleineren Tätigkeiten durchs Leben und werkelt in seiner kleinen Wohnung vor sich hin. Mit der Ankunft seines Neffen kommt dieses fragile Gleichgewicht seiner Existenz aber gehörig ins Wanken. Denn wo er sich einigermaßen mit sich und seinem Lebensstil arrangiert hat, bricht nun der Junge unverhofft ins Leben, daddelt den ganzen Tag am Handy und strapaziert die Nerven des an seine Einsamkeit gewöhnten Simon, den er zudem mit seiner Forderung nach einem Besuch der Rocky Mountains malträtiert.

Verloren in den Rockys

Lot Vekemans - Der Verschwundene (Cover)

Nachdem Vekemans die Störung und Neufindung der Balance zwischen Simon und seinem jungen Neffen schildert, gibt sie die Drängen des Jungen nach und schickt diese auf der halben Strecke des Romans dann tatsächlich in die Rockys. Aber auch dort finden die beiden Männer nicht wirklich zu einem Miteinander, im Gegenteil. Trotz der Erfüllung seiner Forderung erweist sich Daan als unnachgiebig und es kommt zu einem Streit und Handgreiflichkeiten. Am nächsten Morgen ist der Junge verschwunden und eine Zeit der Suche und der Unsicherheit beginnt.

Hängt das Verschwinden mit einem anderen Vater/Sohn-Duo zusammen, das Simon und Daan vor kurzem auf ihrer Wanderung in den Bergen kennenlernten? Oder ist Daan etwas zugestoßen, hat er seine Flucht gar geplant? Simon beschließt, neben einer Kontaktierung der örtlichen Polizeibehörde auch Daans Eltern zu kontaktieren, die schnell Richtung Kanada aufbrechen.

In der Folge beobachtet Lot Vekemans das Auseinanderdriften der verschiedenen Parteien. So brechen die alten Gräben zwischen Simon und seiner Schwester wieder auf, die ihm schwere Vorwürfe angesichts des Verschwinden ihres Sohns macht. Für die Polizei rückt zunehmend Simon in den Verdächtigenkreis, nachdem sich die Spuren um das andere Vater/Sohn-Gespann nicht wirklich gut verfolgen lassen. Eine kostenintensive Suche nach dem Jungen im Berggebiet setzt ein – und alle misstrauen sich gegenseitig.

Lot Vekemans zweiter Roman

Lot Vekemans ist niederländische Dramatikerin und erfolgreiche Theaterautorin, deren Stücke auch auf hiesigen Spielplänen stehen. Nach Ein Brautkleid aus Warschau handelt es sich bei Der Verschwundene um den zweiten Roman der Autorin, der von Andrea Kluitmann aus dem Niederländischen ins Deutsche übertragen wurde und der abermals bei Wallstein erscheint.

Es ist ein Buch, das sich sehr schnell wegliest. Der Beginn mit der atmosphärischen Störung in Simons Leben, der zunächst durch den Kontakt mit seiner Schwester und dann durch die Ankunft des Jungen verursacht wird,

Alle Figuren verharren in ihrem Roman etwas statisch. Die Affäre, die sich aus der Suche nach dem Jungen heraus entwickelt, die Hintergründe zum Verschwinden, alles bleibt ein bisschen behauptet und erzählerisch nicht unbedingt sauber herausgearbeitet und begründet. Es ist mehr der Drift der Figuren, der Lot Vekemans interessiert. Die Geschichte selbst löst sich am Ende in sich selbst auf, es bleibt nichts zurück – und auch die Figuren sind als Funktionsträger an die Geschichte gebunden, ohne ein vertieftes Eigenleben zu entwickeln, das über das Buchende hinaus beschäftigen würde.

Es ist wahrlich kein schlechtes Buch, lässt Vekemans Talent zum Spiel mit ihren Figuren immer wieder durchscheinen. Und doch ist es auch ein Buch, das neben seinem letzten Endes banalen Fall des verschwundenen Jungen zu keinen weiteren Themen findet. Man geht auseinander, kommt nach der Ausnahmesituation wieder bei sich an, der Junge fliegt zurück in die Niederlande und Simon kann sich wieder entspannen. Hier fehlt es an einem bemerkenswerten Momentum, an einer Idee, die über die Beschreibung der Ausnahmesituation und der anschließenden Auflösung in Wohlgefallen hinausweist.

Fazit

Von daher ein Buch, das sich gut weglesen lässt, das genau auf soziale Dynamiken eines Duos wider Willen und später auf die Schuldzuweisungen infolge des Verschwindens des Jungen blickt. All das das ist wahrlich nicht schlecht gemacht – von dem Ganzen bleibt aber zumindest bei mir nicht allzu viel Bemerkenswertes zurück.


  • Lot Vekemans – Der Verschwundene
  • Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
  • ISBN 978-3-8353-5534-7 (Wallstein)
  • 266 Seiten. Preis: 22,00 €
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Rachel Yoder – Nightbitch

Zwischen Bücherbabys, künstlerischer Selbstverwirklichung und ungewöhnliche Erziehungsansätze. Rachel Yoder schreibt in Nightbitch über die Anforderungen an eine junge Mutter – und ihre Metamorphose zu einer Hündin.


Alles beginnt zunächst noch recht gewöhnlich mit ein paar Haaren. Diese finden sich allerdings an Stellen, an denen sie nicht hingehören. Zudem macht das Volumen ebenjener Haare der namenlosen Protagonistin in Rachel Yoders Roman Sorgen, denn so ganz normal scheint diese neue Haarpracht nicht zu sein:

Zugegebenermaßen wirkte sie haariger als sonst. Ihre widerspenstige Mähne stand ihr um Kopf und Schultern wie ein Wespenschwarm, die Brauen schoben sich in ungehemmten Wachstum über ihre Stirn wie Raupen. Am Kinn hatte sie sogar zwei schwarze Bosten entdeckt, und im entsprechenden Licht – ehrlich gesagt, in jedem Licht – schimmerte dort auf ihrer Oberlippe, wo die Haare nach der letzten Laserbehandlung nachwuchsen, ein Bartschatten. Waren ihre Unterarme immer schon so buschig gewesen? Hatte der Haaransatz immer schon bis an ihren Kiefer gereicht? Und waren dunkle Büschel auf den Zehen eigentlich normal?

Rachel Yoder – Nightbitch, S. 10

Von einer Mutter zur Hündin

Von ihrem Mann belächelt nimmt die nur als „Die Mutter“ bezeichnete Frau immer mehr Veränderungen an sich wahr. Die Zähne werden spitzer und länger, es wächst ihr plötzlich Fell – nur ihr Mann will es nicht wahrhaben. Er tut sämtliche Veränderungen ab und pflegt weiterhin seine Haltung der Ignoranz, die er gegenüber seiner Frau und ihrer Rolle als Mutter an den Tag einnimmt.

Rachel Yoder - Nightbitch (Cover)

Obwohl er zusammen mit der Protagonistin einen jungen Sohn hat, glänzt er tagelang mit Abwesenheit und überlässt sämtliche Erziehungsaufgaben und Care-Arbeit seiner Frau. Verständnis für seine Partnerin gibt es bei ihm nicht, weder für ihre Erschöpfung noch für die Schwierigkeiten, die das Hineinfinden in die neue Rolle als Mutter bedeutet.

Derweil droht die junge Mutter zunehmend an ihrer neuen Rolle als Mutter zu verzweifeln. Eine Karriere als Künstlerin hat sie trotz vielversprechender Ansätze aufgegeben, stattdessen bestimmen nun Muttermilch und eintönige Tage zuhause das Leben der jungen Frau. Durch Zufall besucht sie in der lokalen Stadtbücherei die Gruppe der Bücherbabys – mit den anderen Müttern dort aber fremdelt die Künstlerin sehr. Sie sucht sich einen anderen Weg aus der neuen Isolation, die das Dasein als Mutter für sie bedeutet. Nightbitch heißt ihr Alter Ego, das sie sich erschafft – und das sich bald auf haarige Weise verselbstständigt.

Mein hündisches Herz

Ähnlich wie bei einem Werwolf wird auch in der Mutter der animalische Trieb immer stärker. So übt das rot glänzende Fleisch in der Kühltheke plötzlich einen immer stärker werdenden Reiz auf die junge Frau aus. Gierig schleppt sie es kiloweise nach Hause. Vor der Haustür tauchen nächtens Hunde aus der Nachbarschaft auf. Sie selbst verwandelt sich auch in Tier, reißt plötzlich Kaninchen und übt mit ihrem Sohn den Gang auf allen vieren und lässt diesen dann schon mal in einer Hundehütte übernachten.

Nightbitch erzählt von der Verwandlung in eine Hündin und vom Animalischen, das wir in unserem Alltag zu unterdrücken versuchen. Rachel Yoder erzählt plakativ, manchmal geradezu grell, von überforderten Müttern, Selbsthilfekursen und diesem unersättlichen Verlangen nach Fleisch und Tod. Das klingt in seiner theoretischen Anlage zunächst reichlich plump, entwickelt dann aber einen Sog, der auch viele Einsichten über Mutterschaft und Überforderung beschert.

Fazit

Mit Nightbitch sortiert sich die Autorin irgendwo zwischen Sarah MossSchlaflos, Mareike Fallwickls Die Wut, die bleibt und Doireann Ní Ghríofas Ein Geist in der Kehle ein. Yoder gelingt ein Roman, der von den Schwierigkeiten erzählt, die es bedeutet, Mutter zu werden und seine eigenen Bedürfnisse unterzuordnen. Partnerschaftliches Unverständnis, überhandnehmende Anforderungen und die Potentiale, die plötzlich in einer tierischen Metamorphose lauern.

Das beleuchtet ihr Buch auf unterhaltsame Art und Weise, das sich von der Komik bis zum Horror unterschiedlichster Stilelemente bedient, die Yoder tatsächlich zu einem überzeugenden Ganzen zusammenführt.


  • Rachel Yoder – Nightbitch
  • Aus dem Englischen von Eva Bonné
  • ISBN 978-3-608-98687-7 (Klett-Cotta)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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