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Charlotte Gneuß – Gittersee

Darf sie das? Um den Debütroman der 1992 geborenen Autorin Charlotte Gneuß ist ein kleines Debattenstrohfeuer entbrannt, das nun schon wieder in sich zusammengefallen ist. Darf eine westdeutsche Autorin über die DDR schreiben, die sie nur aus Erzählungen kennt? Natürlich, schließlich erlaubt die Literatur zuvorderst alles. Statt also Phantomdebatten über vermeintliche Echtheit und die Lizenz zur Fiktion zu fechten, sollte man lieber über die Qualitäten ihres Textes Gittersee sprechen.


Mit ihrem Roman Gittersee bedient sich die junge Autorin Gneuß eines erzählerischen Rahmens, wie ihn beispielsweise in diesem Frühjahr auch Caroline Wahl für ihr Debüt 22 Bahnen verwendet hat. Eine junge Frau, die sich wegen Defiziten im familiären Verbund um ihre kleine Schwester kümmern muss, gerät durch die Liebe zu einem Mann in Wirrnisse. Wo Caroline Wahl ihre Heldin an der Kasse arbeiten und in der übrigen Zeit neben dem Studium ihre kleine Schwester betreuen ließ, ist bei Charlotte Gneuß die Setzung aber eine andere. Sie verlegt diese Rahmenerzählung um die junge Ich-Erzählerin Karin in die Zeit der Deutschen Demokratischen Republik.

Dort lebt die Sechzehnjährige im Dresdner Vorort Gittersee und kümmert sich neben ihrer sozialistischen Ausbildung in der Schule um „Die Kleine“. Karin übernimmt hauptsächlich die Betreuung ihrer jüngeren Schwester und verbringt die übrige Zeit am liebsten mit Paul, ihrem Freund. Dieser begeistert sich ebenso wie ihr gemeinsamer Bekannter Rühle fürs Klettern, gemeinsam haben sie auch schon die sogenannte „Lokomotive“, eines Felsformation in der Nähe der Elbe erklommen.

Zwischen Schule und Stasi

Doch nun ist Paul verschwunden, einfach so. „Republikflucht“ sagt Rühle – und Karin kann es nicht glauben. Warum ist ihre Liebe von einem Tag auf den anderen verschwunden, wie geht es ihm und was ihn zu seinem Schritt motiviert? Das sind Fragen, die nicht nur Karin, sondern auch die Staatssicherheit interessieren. In Form des Ministeriumsmitarbeiters Wickwalz tritt diese auf und versucht, aus Karin Informationen herauszuholen und diese zu einer Informantin über andere anti-sozialistische Umtriebe in ihrem Umfeld zu formen.

Den inneren Zwiespalt zwischen Sorge und Nicht-Verständnis für den abrupten Schritt Pauls, ihre Suche nach Antworten und den gleichzeitigen Druck der Stasi, der sich durch das immer wieder unvermutete Auftauchen des Stasi-Rekrutierers Wickwalz entwickelt, fängt Charlotte Gneuß durch die kluge Wahl der Ich-Erzählperspektive treffend ein. Während in der Schule die Schüler*innen mit den richtigen Weltsichten auf den guten Sozialismus und Kommunismus indoktriniert werden, versucht Karin eigene Antworten und Wege zu finden, was durch die Umwelt und die eigenen Gefühle alles andere als leicht ist.

Coming of Age in der DDR

Im Gewand eines Coming-of-Ages-Romans erzählt Charlotte Gneuß vom Innenleben Karins und dem eines Staates, der seinen eigenen Bürger*innen misstraute und selbst vor der perfiden Nötigung Minderjähriger nicht zurückschreckte.

Charlotte Gneuß - Gittersee (Cover)

Dabei setzt Charlotte Gneuß auf ein kleines Ensemble von Figuren, das sich im Lauf der Zeit noch weiter durch Flucht verringert. Statt ein großes Panorama des Lebens junger Schüler*innen in der DDR zu erzählen, geht Gneuß den umgekehrten Weg und setzt auf Reduktion. So wird die Stasi beispielsweise hauptsächlich durch die ambivalente Figur Wickwalz personifiziert, außer Marie und Rühle treten kaum Mitschüler*innen hervor. Auch die Familie Köhler selbst bleibt reduziert, Oma, Vater, Mutter, Karin und ihre kleine Schwester. Viel mehr tragende Figuren gibt es kaum – und diese werden auch allesamt eher flüchtig skizziert, denn wirklich aussagekräftigen Zuschreibungen und Gestaltungen zu erhalten.

Sie stehen damit ganz in der übrigen Erzähltradition dieses Romans, der eher das Hingetupfte und Flüchtige denn breit Auserzählte bevorzugt. Viele Realia gibt es nicht in dem Roman, der auf eine genauere Verhaftung von Zeit und Raum verzichtet. Vielmehr legt es Charlotte Gneuß (zumindest in meiner Lesart) auf ein übergreifendes Thema an, nämlich die Jugend in der DDR, die hier nicht alleine nur auf ein detailliertes Einzelschicksal festgemacht werden soll.

Die Debatte geht fehl

Damit läuft auch die Debatte, die nur nach einem Artikel der FAZ und etwas Widerhall in den Feuilletons schnell erlahmte, ins Leere. Hintergrund war eine Liste mit Begrifflichkeiten und Unstimmigkeiten, die der ostdeutsche Schriftstellerkollegin Ingo Schulze für den gemeinsamen Verlag S. Fischer anfertigte und die dann zur Jury des Deutschen Buchpreises durchgestochen wurde. Jene Jury, die kurz zuvor Gittersee auf ihre Longlist gesetzt hatte.

Über das im Artikel angebotene Debattenstöckchen – ob Gneuß überhaupt authentisch von Dingen erzählen könne, die sie nicht aus eigener Anschauung und somit nur aus zweiter Hand kenne – wollte kaum einer springen. Schließlich darf und soll ja Literatur erst einmal alles und man darf ja über alles schreiben (wer könnte mit solch einer Auslegung da überhaupt noch historische Romane schreiben?). Einzig und allein die Qualität des Erzählten, die Stimmigkeit der entworfenen Welt und die literarische Tiefe sollten ja stehts im Mittelpunkt stehen. Und so zielen solcherlei Quisquilien auch breit am eigenen Kern der Sache vorbei. Denn Charlotte Gneuß will in Gittersee ja erkennbar keine – Plastik hin, Plaste her – fotorealistische Dokumentation des DDR-Lebens von Schülerinnen vorlegen.

Ein stimmiges Erzählkonzept

Vielmehr zieht ihr Erzählen zielt auf etwas anderes ab. Auf Gefühlswelten einer jungen Schülerin in einem übergriffigen und indoktrinierenden Staat, die Erschütterung des eigenen Koordinatensystems nach dem Verschwinden ihres Freundes und die Instabilität eines Systems, die sich der Heranwachsenden mehr und mehr zeigt.

Das gelingt Charlotte Gneuß ausnehmen gut, auch deswegen, weil sie neben der passenden Perspektive auch einen stimmigen Erzählton für das Erleben und Hinterfragen ihrer jungen Protagonistin findet.

Magst du keine Rumkugeln, fragte sie. Ich öffnete den Mund und spürte, wie Marie die Kugel hineinplumpsen ließ und wie ihr Fingernagel meine Lippen berührte. Du bist eingeschlafen, und dann hast du gequietscht, sagte Marie. Sie verdrehte den Kopf und machte zuckende Bewegungen. So, sagte sie, weißt du, so, Sie wiederholte das Ganze. Dann sah sie mich nachdenklich an und fragte, warum ich gestern nicht in der Schule gewesen sei.

Musste auf die Kleine aufpassen, die war krank.

Deine Mutter ist eine Krähe, stellte Marie fest. Ist doch ihr Kind, nicht deins. Und überhaupt darf sie das gar nicht. Wenn das rauskommt, dass du wegen deiner kleinen Schwestern nicht zur Schule gehst, sagte Marie. Schulpflicht und so.

Ich behauptete, dass ich gern auf die Kleine aufpassen würde, dass das gestern nur eine Ausnahme gewesen sie. Und außerdem, fiel mir ein, ist es auch Vatis Kind.

Charlotte Gneuß – Gittersee, S. 41

Fazit

Charlotte Gneuß gelingt ein Debüt mit einem stimmigen Erzählkonzept, das sich in meinen Augen mit der leicht kargen Erzählinstrumentierung an DDR-Schriftstellerinnen wie Brigitte Reimann oder Christine Wolter orientiert. Trotz meines Überdrusses der Gattung Coming of Age-Roman habe ich Charlotte Gneuß‘ Debütaufgrund der frischen historischen DDR-Setzung des Ganzen sehr gerne gelesen. Die Nominierung für den Deutschen Buchpreis ist mehr als gerechtfertigt, die alberne Debatte um „authentisches“ Schreiben über die DDR aber nicht.


  • Charlotte Gneuß – Gittersee
  • ISBN 978-3-10-397088-3 (S. Fischer)
  • 240 Seiten. Preis: 22,00 €
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Philipp Oehmke – Schönwald

Alle glücklichen Familien gleichen einander – aber jede unglückliche – na ja, man kennt es. Lew Tolstoi hat es in seinem Jahrhundertwerk Anna Karenina einst vorgemacht – und vor allem die amerikanischen Autoren von Jonathan Franzen bis zu Richard Ford tun es ihm bis heute nach – große Familienromane zu schreiben. Familienromane, die über die familiäre Introspektive hinausweisen und zugleich Zeitgeistvermessung und Gesellschaftsanalyse sind. Nur hierzulande tun wir uns schwer mit dem Genre, eifern in Ansätzen dem Ganzen nach – aber so richtig eine literarische Antwort auf die Great Novels haben wir hierzulande noch nicht gefunden. Philipp Oehmke will das (mit entsprechend fokussiertem Marketing seines Verlags Piper) nun ändern und schickt sich an, mit Schönwald einen deutsche Antwort auf Die Korrekturen und Co. zu verfassen. Gelingt ihm das?


Es ist auf Twitter und anderen Plattformen ein beliebtes Muster. Man nimmt einen oder bekannten Prominenten oder ein Popprodukt meist amerikanischer Prägung – und das Ganze dann mit dem Verweis „Deutsche …“ ein lokales (meist völlig überzogenes) Äquivalent gegenüber. Herausgestellt werden soll neben der Fallhöhe der Vergleiche auch die Lächerlichkeit und die Piefigkeit deutscher Personen und Themen, die gerade im Vergleich mit dem amerikanischen Vorbild besonders ärmlich wirken. Siehe Beispiel unten.

Aus solchen Vergleichen spricht auch neben allen humorproduktiven Umtrieben der Neid, so etwas Ikonisches oder auch nur „Cooles“ hierzulande nicht zu haben.

Auch der Familienroman ist so etwas, bei dem man hierzulande den Vergleich mit den amerikanischen Größen nicht anzutreten braucht. Der „Deutsche Korrekturen“-Roman ist bislang ausgeblieben. Der Buchmarkt wirft lieber dutzende und dutzende Familiensagas als Variation des Immergleichen auf den Markt – die von qualitativen Abstufungen von Peter Prange oder Daniel Speck bis ganz nach unten reichen. Ein stilistisch überzeugender und ambitionierter Roman, der literarisch dem Vergleich mit den Werken Franzens, Eugenides, Morrison und Co. statthält, ist bislang ausgeblieben.

Philipp Oehmke als deutscher Jonathan Franzen?

Auch im Piper-Verlag hat man diese Lücke erkannt, weshalb man nun prononciert Philipp Oehmke zu einer Art „Deutscher Jonathan Franzen“ aufbauen möchte und seinen Roman bereits im Vorfeld als „Großer Familien-Roman in der Tradition amerikanischer Literatur“ bewarb. Reichlich große Fußstapfen also, in die der 1974 geborene Reporter mit seinem als Spitzentitel ausgerufenen Debüt nun treten soll.

Philipp Oehmke - Schönwald (Cover)

Die in seinem Roman im Mittelpunkt stehende Familie hört auf den Namen Schönwald. Vater Hans-Harald und Mutter Ruth, beide inzwischen schon über Siebzig, leben in Köln. Er pensionierter Staatsanwalt, sie Hausfrau, Mutter und verhinderte Germanistik-Professorin. Drei Kinder haben sie, die sich alle anlässlich der Eröffnung eines queeren Buchladens namens They/Them in Berlin eingefunden haben. Eröffnen möchte diesen die einzige Tochter der Schönwalds, Karolin. Neben ihr gibt es noch den Nachzügler Benni und den Ältesten der drei Geschwister, Chris. Er ist extra aus den USA nach Deutschland geflogen, besitzt – oder besser gesagt: besaß – eine Professur dort. Nun verdingt er sich allerdings als intellektueller Einpeitscher der MAGA-Bewegung rund um Donald Trump, wovon niemand in Deutschland etwas mitbekommen soll.

Der unter dem Motto „Never explain. Never complain“ zusammengehaltene Familienverbund ist schon recht bröckelig, wenn er denn überhaupt jemals fest gefugt war. Die abendliche Intervention einer jungen Aktivistengruppe, die die Eröffnung des Buchladens mit dem Vorwurf von Nazi-Geld als Finanzierungsgrundlage des Buchladens stört, bringt das instabile Familiengefüge noch mehr ins Wanken.

Ein bröckelnder Familienverbund

Denn wie Oehmke in diesem überwiegend aus Rückblenden bestehenden Roman zeigt, hat jede der Figuren eigene Geheimnisse oder Probleme, die sie mit viel Tünche und Selbstverleugnung zu wahren versucht. Doch durch die Geschehnisse rund um den Buchladen und das Aufeinandertreffen aller fünf Schönwalds kommen viele dieser sorgsam gehüteten Geheimnisse ans Tageslicht. Da gerät der Vorwurf des Nazigeldes und die Befassung mit der eigenen Familiengeschichte fast ins Hintertreffen.

Philipp Oehmke hat einen Roman geschrieben, der tatsächlich von seiner Erzählweise und dem schichtweisen Freilegen der Erzählfiguren und ihrer Biografien in der Tradition amerikanischer Romane steht (nicht umsonst wird auf den ersten Seiten schon Jonathan Franzen erwähnt, dessen Leserin Ruth Schönwald ist). Dabei setzt Oehmke allerdings auf ein Erzählkonzept, das seine Figur Ruth an einer späten Stelle im Roman selbst mit folgenden Worten kritisiert:

Sie hatten über Der Zauberer gesprochen, eine neue Biografie über Thomas Mann, und Harry hatte den Damen dabei zugehört, wie sie darüber diskutierten, dass der Autor das Buch als Roman deklarierte und sich damit die Freiheit verschaffte, basierend auf Briefen und Tagebucheinträgen Szenen und Dialoge auszuschmücken und zu erfinden. Ruth hatte dieser Hybridform kritisch gegenübergestanden, Fiktives und Faktisches ließe sich nicht mischen, es sei unfair Mann und seiner Familie gegenüber und im Übrigen ein Betrug am Leser. Sie würde es ja auch nicht wollen, dass jemand ihr Leben nähme und einfach ein paar Sachen dazuerfinde.

Philipp Oehmke – Schönwald

Faktisches und Fiktives

Tatsächlich setzt auch Schönwald auf eine Vermengung von Realien und Fiktion. Denn die initiale Attacke auf die queere Buchhandlung aus einer „woken“ Aktivistengruppe mit dem Vorwurf des Nazi-Geldes als Startkapital erinnert an den fast deckungsgleichen Fall der Berliner Buchhandlung She Said. Damals wurde die Gründerin Emilia von Senger vor allem in den sozialen Netzwerken stark für die Gründung des queeren Buchladens angegriffen. Der damalige Vorwurf: Finanzierung des Geschäfts durch Geld aus einem Nazi-Erbe, schließlich war von Sengers Vorfahre Panzergeneral im Zweiten Weltkrieg.

Nicht nur diese im Buch verhandelte Causa weist verblüffende Kongruenz mit den damaligen Geschehnissen auf, auch die auftretenden Aktivisten und ihr Sprech von „Menschen mit Nazihintergrund“ erinnert stark an das vielbeachtete Gespräch, das die Künstler*innen Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah im Nachgang im Zuge der Debatte um She Said führten.

Hier kommt es zu einer Verschmelzung des Faktischen und Fiktiven, wie es Ruth Schönwald nicht gefallen hätte – und auch für das Buch selbst geht diese literarische Übermalung nicht ganz auf.

So gleicht die Moshtari Hilal abgeschaute Aktivistin Malala einem Fremdkörper, dessen Einbindung in den engsten Familienverbund nach den Vorfällen um die Attacke auf den Buchladen nicht wirklich plausibel erscheint. Auch andere Nebenfiguren bleiben im Gegensatz zu den Schönwalds selbst unkonturiert. So wirkt Chris‘ Freundin und Trump-Flüsterin Kimberley Conway ein jüngeres Abziehbild von Kellyanne Conway. Es scheint, als müssten sich alle Figuren, die nicht zur Kernfamilie zählen, mit einem unscharfen Standort am Rande des Familienporträts begnügen.

Noch nicht wirklich ausbalanciert

Ob in Bezug auf die Figuren oder den Plot selbst, vieles ist hier noch nicht wirklich hundertprozentig ausbalanciert. Die erzählte Gegenwart verliert gegen die Rückblenden haushoch, das Ende ist in seiner Seelenstriptease-Stimmung etwas zu überhastet und zu kitschig. Das Faktische rund um den Buchladen verhält sich zum Fiktiven nicht ganz rund und ganz generell gesprochen: der Versuch der Gleichstellung Philipp Oehmke mit Jonathan Franzen tut diesem Debüt nicht wirklich gut, provoziert es doch immer den direkten Vergleich mit den „Originalen“. und weckt zu hohe Erwartungen.

Für sich genommen ist Schönwald ein mehr als solides Debüt, das gutes Erzählhandwerk zeigt und eine Familie in der Innensicht schildert, die vielleicht nicht auf ihre eigene Art traurig ist, aber doch genug Probleme mitbringt, auf dass sich viele Leser*innen mit diesen so unterschiedlichen Charakteren identifizieren oder einfühlen können. Mag Philipp Oehmke auch (noch) nicht der „Deutsche Jonathan Franzen“ sein, so ist er doch ein Autor, der gut unterhält. Er liefert einen gelungenen Familienroman ab, der zumindest im nationalen Vergleich weit oben anzusiedeln ist.


  • Philipp Oehmke – Schönwald
  • ISBN 978-3-492-07190-1 (Piper)
  • 544 Seiten. Preis: 26,00 €
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R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer

Eine mittelständische englische Familie fährt in den Urlaub ans Meer. Aus dieser einfachen Ausgangslage macht R. C. Sherriff einen berührenden Roman, der vom Glück des unbeschwerten Sommerurlaubs erzählt, der zugleich aber auch vom Wissen um die Vergänglichkeit des Urlaubs im Kleinen und die des Lebens im Großen kündet. Große Literatur – und eine echte Wiederentdeckung!


Mit dem Sommerurlaub ist es ja so eine Sache. Liegt er noch vor einem, scheint der Sommer unendlich lang, die Tage glutheiß, das Jahr auf seinem Höhepunkt und der Herbst noch ganz weit weg. Kehrt man dann Ende August oder im September wieder in den normalen Alltagstrott zurück, so mehren sich die Zeichen, dass die schönsten warmen Tage des Jahres hinter einem liegen.

Es wird abends wieder früher dunkel, die Sonne hat ihre Kraft verloren und an manchen Orten zeigen sich schon wieder die ersten Nebelfelder, die die Gedanken an die kommenden kalten Tage ins Bewusstsein rufen. Der Sommerurlaub, er trägt neben aller scheinbaren Ewigkeit eben auch das Wissen um die Endlichkeit der Sommeridylle in sich.

Auch R. C. Sherriff weiß um die Vergänglichkeit, die allem Sommern eingeschrieben ist. Bei ihm ist es die mittelständische Familie Stevens, die einen unbeschwerten Sommer an der Südküste Englands erleben möchte. Dabei ist aber auch sie trotz aller Sehnsucht nach Idylle und dem Bemühen um die Bewahrung derselben auch vor Enttäuschungen und dem Vergehen der Zeit nicht gefeit.

Noch einmal gemeinsam auf nach Bognor

R. C. Sherriff - Zwei Wochen am Meer (Cover)

So sind die beiden älteren Kinder eigentlich schon zu alt für einen gemeinsamen Familienurlaub am Meer und haben andere Prioritäten, als so wie all die Jahre zuvor wieder mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder die Ferien an der Südküste in Bognor zu verbringen. Und doch soll es nun im September noch einmal wie früher sein, so wünschen es sich die Eltern. Man teilt sich in einer angestammten Pension Zimmer, kennt seine Vermieterin ebenso wie den Strand in- und auswendig und hat in jahrelanger Verfeinerung eine Art To Do-Liste erarbeitet, die die Familie nun am Vortag des Urlaubs Stück für Stück abarbeitet. Von der Nahrung für die Katze bis zur Übergabe des Schlüssels ihres Vorstadthäuschens will alles bedacht sein.

Mit einem Kofferträger geht es zur U-Bahn, man steigt in Clapham Junction ein, versucht sich mit Tricks ein familieneigenes Bahnabteil zu besorgen und schon setzt sich die Bahn in Richtung Bognor in Bewegung.

Es sind Ferien, die in krassem Widerspruch zur heutigen Spaß- und Eventkultur an Badestränden stehen, die R. C. Sherriff hier beschreibt. Bekocht von der Vermieterin wird die Frage der Anmietung eines eigenen Strandhäuschens zum fast überlebensgroßen Thema, das die Familie Stevens beschäftigt. Man badet, besucht ein Konzert der Kurkapelle und erlebt entschleunigte Tage am Meer, über denen eine starke Ahnung der Vergänglichkeit liegt.

Die Vergänglichkeit der Sommeridylle

Bei allem Staunen hatte sie jedoch tief drinnen gewusst, dass etwas passieren würde. Seit ihrer Abreise aus Dulwich wusste sie, dass noch vor Ferienende etwas Gewaltiges geschehen würde. Sie wusste es, als sie alle zusammen auf den Zug in Clapham Junction gewartet hatten, sie wusste es, als sie hinter Horsham ihre Sandwiches gegessen hatten, sie wusste es, als sie durch die Straßen von Bognor zum „Seaview“ gelaufen waren. Jedes Mal hatte sie gespürt, dass es zum letzten Mal war und dass sie das nie wieder zusammen mit ihrem Vater und ihrer Mutter tun würde und auch nicht mit Dick und Ernie. Es hatte sich so traurig angefühlt, dass sie sich all das sofort wieder zurückwünschte. Jetzt aber wusste sie erst, was das alles zu bedeuten hatte. Es war immer schön gewesen in Bognor, und trotzdem hätte es nicht ewig so weitergehen können. Sie hätten nicht weiterhin Jahr für Jahr mühsam versuchen können, den verglimmenden Funken der Kindheit neu zu entfachen. Was inhen aber immer bleiben würde, waren die Erinnerungen – auch daran, wie wundervoll alles zu Ende ging.

R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer, S. 287

Immer wieder tauchen im Buch Themen und Motive des Abschieds auf, die den Urlaub begleiten. Stevens senior laboriert noch immer an seinem unsanften Ausscheiden aus dem von ihm mitbegründeten Fußballverein, der einen Generationenwechsel einleiten sollte. Der Mann der Vermieterin ist gestorben und die Pension verschleißt Stück für Stück. Es mehren sich die Indizien, dass der Urlaub der Familie in dieser Form der letzte sein wird, den die Stevens gemeinsam verleben. Die beiden älteren Kinder treiben verstärkt Fragen wie ihr berufliches Glück oder Freundschaften um.

Und auch wenn es Vater Stevens gelingt, der Urlaubsidylle noch einen zusätzlichen Tag abzugewinnen, so schwingt doch in den Tagen eine Ahnung mit, dass ein solch sparsamer und selbstgenügsamer Urlaub lange noch vor der Phase des Massentourismus schon bald Geschichte sein wird, ebenso wie es darüber hinaus für die im Buch repräsentierte Epoche des Kleinbürgertums gilt.

Eine feinsinnige Wiederentdeckung

Wie feinsinnig, gut beobachtet und meisterhaft introspektiv R. C. Sherriff dies schildert, das ist wirklich große Kunst. Und auch wenn Sherriff normalerweise eher Drehbücher schrieb und in Hollywood sein Glück suchte, so erfuhr er in seinem Leben doch ähnliche Sehnsucht nach Nostalgie und Vertrautheit, wie er sie in Zwei Wochen am Meer schildert.

Davon erzählt der Autor und Übersetzer Karl-Heinz Ott in seinem Nachwort, in dem er auch die Geschichte des Romans erzählt, der eine wirkliche Wiederentdeckung ist. So gab der Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro auf eine Umfrage des britischen Guardian, die nach literarischen Entdeckung von Schriftsteller*innen während der Coronazeit fragte, die Entdeckung dieses Romans aus dem Jahr 1931 zu Protokoll. Dies sorgte für eine Renaissance des Buchs, das Ishiguro für die Kunst lobte, „die wunderbare, im täglichen Leben anzutreffende Würde feinfühlig[..] auf einer völlig undramatischen Ebene“ einzufangen.

Die Parallelen zwischen Ishiguros Schreiben und Zwei Wochen am Meer arbeitet Ott sehr schön heraus und analysiert Werk und Wirken Sherriffs in seinem Nachwort sorgfältig.

Kleine Mängel in der Übersetzung

Noch schöner wäre es dabei allerdings gewesen, wenn Ott und das Lektorat die gleiche Sorgfalt auch auf den übersetzten Text angewendet hätten. Denn die Übersetzungsleistung weist ein paar Defizite auf und mengt dem rundum positiven Eindruck des Romans so selbst einen Hauch der Kritik bei.

Denn Ott trifft mitunter eigenwillige übersetzerische Entscheidungen, indem er beispielsweise den im Zuge der Weltausstellung in London erbauten Crystal Palace als Kristallpalast übersetzt, um nach zweimaliger Erwähnungen desselbigen dann umzuschwenken und diesen doch als Crystal Palace zu titulieren. Kann man im Deutschen mit dem Begriff der Landlady wenig anfangen, wäre doch hier der übersetzerische Griff zur Vermieterin idiomatischer gewesen, ebenso wie im Deutschen der Begriff der Sperrstunde wohl deutlich geläufiger sein dürfte als die von Ott gewählte „Polizeistunde“, die etwas seltsam für sich steht.

Es mögen nur Marginalien sein, im Text fallen sie in ihrer Häufigkeit dennoch auf und mindern den ansonsten fabelhaften Eindruck dieses Buchs und der vom Unionsverlag herausgegebenen Ausgabe um einen kleinen Hauch.

Fazit

Ein fabelhafter Roman und eine echte Wiederentdeckung. Wie zart und genau beobachtend R. C. Sherriff in Zwei Wochen am Meer über seine Figuren schreibt, einen Familienurlaub vor Bettenburgen und Eventfixierung beschreibt und wie er es schafft, dass über allem der Hauch der Vergänglichkeit liegt, das ist ganz große literarische Kunst! Und auch wenn die Übersetzung ein wenig sorgfältiger hätte ausfallen dürfen, so mindert das den Gesamteindruck dieses großartigen Sommerurlaubs nur marginal. Für mich ganz klar ein literarischer Sommerhit!


  • R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer
  • Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Karl-Heinz Ott
  • ISBN 978-3-293-00604-1 (Unionsverlag)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €
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Antonia Baum – Siegfried

Wenn einen die eigene Familie in die Psychiatrie bringt. Antonia Baum in ihrem neuen Roman Siegfried über drei Generationen einer Familie, die alle mit eigenen Dämonen kämpfen und doch nicht von der Stelle kommen.


Transgenerationale Traumata und Probleme sind ein Thema, mit denen sich die deutsche Literatur in zunehmenden Maße befasst. Welche Probleme einer Generation werden in der nächsten fortgeführt und wodurch bedingt sich diese Weitergabe von Problemen und Verhaltensmustern? Ulrike Draesner beschäftigte sich jüngst in ihrem Werk Die Verwandelten literarisch mit diesem Thema und auch Antonia Baums neuem Roman Siegfried liegt diese Fragestellung zugrunde. Sie blickt ausgehend von der jüngsten Generation auf Mutter, Vater und Großmutter und untersucht im eigenen Erinnern die erlernten Verhaltensmuster und Konfliktstrategien.

Ein Wartezimmer in der Psychiatrie

Es beginnt alles mit einer namenlosen Frau, der Ich-Erzählerin. Sie lässt in einem Gefühl der Überforderung ihren Mann und ihre Tochter zuhause zurück, um sich in eine Psychiatrie zu begeben. Geldprobleme, Beziehungsprobleme, Abgabedruck eines Buchs, dessen Vorschuss zwar schon aufgebraucht, aber noch keine einzige Zeile zu Papier gebracht ist. Viele nagende Sorgen, die in einer morgendlichen Fahrt zur Psychiatrie resultieren.

Auf der Rückbank des Taxis trug ich keine Schuhe, aber dafür einen Trenchcoat. Ich hatte nicht wie sonst die Nylonhandtasche meiner Mutter dabei, ich hielt meinen Rechner mit beiden Händen auf dem Schoß fest. Ich hätte nicht sagen können, was seit der Situation im Badezimmer passiert war. Es beunruhigte mich aber nicht sehr, ich fand meine Idee, in die Psychiatrie zu fahren, sehr gut. Jemand würde mir sagen, was mit mir los war, dieser Arzt würde mir helfen, die Dinge zu sortieren, ich hatte mir sogar seinen Namen notiert. Ich würde dort sitzen und für Reihenfolgen nicht zuständig sein. Es würde eine Diagnose geben. Ich bildete mir die Dinge nicht ein, ich war keine Simulantin, ich war nicht überempfindlich. Ich war auch nicht verrückt, es gab Gründe.

Antonia Baum – Siegfried, S. 18 f.

Als sie nun im Warteraum der Psychiatrie sitzt, fängt das Erinnern der Erzählerin an. Sie entsinnt sich ihrer Kindheit, die sie teilweise bei ihrer Großmutter Hilde verbrachte, in deren Hause Strenge und merkwürdige Regeln herrschten. Keine Spiegel, Schwimmen nach Stoppuhr, aufgetakelte Treffen in der Öffentlichkeit mit alten Freunden und wenig Lebensfreude. All das bedeutete die Zeit im Haus der Großmutter, die die Erzählerin dort als Kind verbrachte.

Blick auf die eigenen Eltern und Großeltern

Antonia Baum - Siegfried (Cover)

Aber auch auf die Erinnerung an ihre eigenen Eltern blickt sie, als sie darauf wartet, im Wartezimmer aufgerufen zu werden. Der prägende Vater Siegfried, die Mutter, die stets von Hilde, Siegfrieds Mutter, mit Argusaugen beobachtet wurde. Die Affären des Vaters, die Begleitung der Mutter auf Siegfrieds Dienstreisen und damit verbunden weitere Aufenthalte im kalten Haus Hildes. Dazu die Erinnerung an Episoden, wie die des Einsperrens der Mutter im eigenen Zuhause, die dann schlussendlich in der Trennung der eigenen Eltern mündete.

Die Lieblosigkeit der elterlichen Generationen, das strenge Regiment der Großmutter, das Nicht-Funktionieren von Beziehungskonzepten, all das betrachtet die Erzählerin noch einmal in der Rückschau, während sie sich dort in der Psychiatrie Heilung erhofft, diese aber schon selbst durch die Rückschau und das Betasten der eigenen seelischen Narben erbringt.

Die Rückschau fördert nicht sonderlich scharf konturierten Figuren zutage, die die Familie rund um Siegfried bevölkern. Diese Figuren stehen aber auch als eine Art Stellvertreter für viele nachkriegsdeutsche Familiengefüge, wie sie viele Leserinnen und Leser auch aus der eigenen Familie her kennen dürften.

Figuren als Stellvertreter für transgenerationale Verhaltensmuster

Unausgesprochene und unerforschte Altlasten aus der Zeit des Nationalsozialismus, Härte in der Erziehung der eigenen Kinder, das Aufrechterhalten der bürgerlichen Fassade – davon erzählt Siegfried, in dessen Name ja auch schon etwas der (vermeintlichen) Härte und Stärke aufscheint, die Antonia Baum im Folgenden dekonstruiert. Sie leuchtet die familiären Verhältnisse aus und zeigt eine Frau, deren Bindungsschwierigkeiten und schwierige Beziehung zumindest ein Stück weit auch als Ergebnis der vorgelebten Unfähigkeit zu lieben der familiären Anti-Beziehungsvorbilder zu lesen ist.

Das macht aus Siegfried zwar keinen leichten Familienroman á la Joachim Meyerhoff, aber dennoch lohnt sich die Lektüre, lassen sich die aufblitzenden Muster und Figuren doch in den meisten Familien finden und stellen einen guten Beitrag zur Behandlung des Themenkomplexes der transgenerationalen Traumata dar, auch wenn ich mir noch etwas schärfere Figuren – allen voran die Erzählerin gewünscht hätte.


  • Antonia Baum – Siegfried
  • ISBN 978-3-546-10027-4 (Claassen)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €
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Aurora Venturini – Die Cousinen

Den Weg von einer „Schule für Minderbemittelte“ bis zur ausstellenden Künstlerin, ihn zeichnet Aurora Venturini in ihrem außergewöhnlichen und mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung ausgezeichneten Roman Die Cousinen nach, der nun postum in der Übertragung von Johanna Schwering und mit einem Nachwort von Mariana Enriquez zu entdecken ist.


Es war reichlich spät, genauer gesagt im Jahr 2007, als die argentinische Schriftstellerin Aurora Venturini im Alter von 85 entdeckt wurde und ihr der literarische Durchbruch in der Heimat gelang. Vorausgegangen war dem Ganzen eine Einsendung beim Literaturwettbewerb Premio Nueva Novela, den Aurora Venturini unter Pseudonym eingereicht hatte.

Venturinis Landsfrau Mariana Enriquez bemerkt in ihrem Nachwort, dass die Einsendung schon aufgrund der äußeren Form eines Typoskripts aus der Reihe fiel. Und auch der dargebotene Inhalt verweigerte sich jeder einfachen Kategorisierung oder Form. Mehr als außergewöhnlich war es, das die Autorin auf den maschinengetippten und korrigierten Seiten darbot. Exzentrik und Risikobereitschaft sprachen aus den Seiten des Textes, der von der Jury um Mariana Enriquez dann tatsächlich ausgezeichnet wurde und der das Interesse auf eine Dame lenkte, deren Leben selbst zum Roman taugen würde.

So zählte Aurora Venturini einst zum Unterstützerkreis der argentinischen Präsidenten Peron und war mit dessen Frau Eva befreundet. Sie ging ins Exil nach Frankreich, pflegte eine Freundschaft mit Jorge Luis Borges und arbeite fleißig am eigenen Mythos. Erst mit 85 Jahren sollte dann aber nach der Zuerkennung des Preises das literarische Interesse an Aurora Venturini geweckt werden. 2015 verstorbenen erschien nun im vergangenen Jahr eine erste Übersetzung dieser Autorin ins Deutsche, die Johanna Schwering besorgte. Zu entdecken ist ein origineller Text, der auf sprachlicher Ebene den alles andere als gefälligen Inhalt sinnreich umspielt und ergänzt und der eine Bildungsgeschichte erzählt.

Rettung durch die Kunst

Erzählerin ist Yuna López, die zusammen mit ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Betina eine „Schule für Minderbemittelte“ besucht.

Meine Schwester verließ die Schule in der dritten Klasse. Es hatte keinen Sinn mehr. Eigentlich hattes es bei uns beiden nicht viel Sinn und ich ging nach der sechsten Klasse ab. Aber ich lernte Lesen und Schreiben wenn auch letzteres mit vielen Rechtschreibfehlern, das stumme H schrieb ich zum Beispiel nie, wozu auch, wenn man es nicht hört?

Aurora Venturini – Die Cousinen, S. 14 f.
Aurora Venturini - Die Cousinen (Cover)

Ihre Schwester Betina ist schwer behindert und sitzt im Rollstuhl. Der Vater hat die Familie verlassen und die Mutter behilft sich in Erziehungsfragen mit dem Einsatz eines Rohrstocks, mit dem sie die Kinder ausgiebig züchtigt. Es ist ein armes und deprimierendes Umfeld, in dem Yuna aufwächst.

Doch es gibt einen Weg, mit dem Yuna diesem prekären Milieu in Adrogué, eine Vorort Buenos Aires, entfliehen kann. Dieser Weg ist die Kunst. Denn Yuna erweist sich als originelle Malerin mit einem ganz eigenen Ausdruck, die auch die Aufmerksamkeit ihres Professors weckt. Dieser ermutigt Yuna zum Malen und organisiert bald eine erste Ausstellung ihrer Werke, der bald weitere Schauen folgen werden. Allmählich emanzipiert sich Yuna und schafft es sowohl zu künstlerischer als auch finanzieller Eigenständigkeit, der später eine gemeinsame Wohnung mit ihrer Cousine, der kleinwüchsigen Petra, folgen wird.

Ein Bericht einer Bildung

Von ihrem Werdegang berichtet sie in Form eines Berichts, das den Charakter und den Bildungsweg seiner Verfasserin abbildet.

Mein Bild wurde fertig, diesmal Öl auf Leinwand und es war so schön geworden, dass es mir leidtat es zu verkaufen aber ich lebte voller Stolz von meinem Werk und zahlte Miete im Haus meiner Familie das mir Tag für Tag und ich weiß gar nicht warum immer fremder erschien, mehr ihrs als meins denn ich war eine blasse Ombrage (ebd.) die von Zeit zu Zeit Flure und Gefilde durchstrolchte (ebd.); ebd. bedeutet übrigens Wörterbuch aber es kommt mir zupass weil es eine Abbreviatur ist und weil ich mich niemals mit fremden Federn schmücke, erläutere ich, dass auch der Begriff Abbreviatur meinen Wörterbuchkulturforschungen entstammt die mir helfen meiner geerbten Minderbemittelung zu entkommen.

Aurora Venturini – Die Cousinen, S. 105

Immer wieder wendet sich Yuna an die Lesenden, erklärt ihre Gefühle, Erlebnisse und fasst wie in einem mündlichen Bericht noch einmal Erlebtes oder Verwandtschaftsverhältnisse zusammen, um danach mit ihrem Bericht fortzufahren. Dabei bildet der Text den Bildungsweg der jungen Frau nach, die sich ihre Bildung selbst aneignet. Immer wieder flicht sie in Wörterbüchern gefundene Wörter ein und erklärt diese Funde. Das Bemühen um eine verständliche Schilderung trotz aller Schwierigkeiten mit der schriftlichen Darstellung spricht aus allen Zeilen.

Eine preisgekrönte Übersetzung

Orthographische Feinheiten wie Kommasetzung oder ähnliche Finessen kennt Yuna dabei nicht. Stattdessen orientiert sie sich stark an der Mündlichkeit und erfindet Wortspielereien wie den Rollstuhl ihrer Schwester, der immer wieder rummrumst. Gelungen schafft es Johanna Schwering, diese Charakterisierung durch Sprache und Schreiben aus dem argentinischen Spanisch ins Deutsche hinüberzuretten. Sie erzeugt auch in der deutschen Variante dieses Textes neben der eigentlichen Schilderung auch indirekt über die Sprache einen bleibenden Eindruck seiner Erzählerin. Die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse lobte das Ganze wie folgt:

Ihre Worte schaffen Atmosphären und lassen uns den Geruch der Großstadt, das Ozon und die Orangenblüte aus den Buchseiten herausriechen. Schwerings Übersetzung nimmt die Unverschämtheiten des Originals mutig auf und folgt den eigentümlichen Grammatikregeln des Originals sowie seiner besonderen Härte und seinem sprühenden Witz. Ihr ist es mitzuverdanken, dass mit diesem fabelhaften Künstlerinnenroman erstmalig ein Buch der Argentinierin Aurora Venturini auf Deutsch vorliegt. Es mögen hoffentlich viele weitere, natürlich in der Übersetzung von Johanna Schwering, folgen.

(Aus der Begründung der Jury zur Preisvergabe an Johanna Schwering)

Die Welt, von der Yuna so erzählt, ist eine düstere und wenig Hoffnungsvolle, in der besonders Männer schlecht wegkommen. Der Vater ist verschwunden, der Kunstprofessor, der später zum Vormund Yunas wird, hegt auch nicht nur hehre Motive. Sexuelle Gewalt, Scham und Ausgrenzung sind Marker dieser Welt, von der Yuna berichtet. Frauen sterben hier nach Abtreibungen, werden missbraucht und müssen ganz eigene Strategien entwickeln, um in dieser Welt zu überleben, allen voran die findige Cousine Petra, die sich als Prostituierte durchschlägt, die sich um die Aufklärung von Yuna kümmert und die ihr auch die Spielregeln der Gesellschaft der 40er Jahre in Argentinien näherbringt.

Die Cousinen ist ein Familienroman aus einem dumpfen, gewaltgesättigten Milieu, der trotz aller Schwere und Hoffnungslosigkeit eben auch von der Kunst als Rettungsanker erzählt, mithilfe dessen sich Yuna von ihrem Umfeld emanzipieren kann. Auch in der Sprache und der Form des Berichts findet die junge Frau ein Ausdrucksmittel, das in seinem ganzen Facettenreichtum aufgrund der herausragenden Übersetzung durch Johanna Schwering auch im Deutschen erlebbar wird.

Fazit

Mit diesen Buch erweist sich Aurora Venturini als eine Wegbereiterin jüngerer argentinischer Autorinnen wie etwa Claudia Piñeiro, mit der sie das scharfe Auge für gesellschaftliche Missstände, Kritik an der Bigotterie und nicht zuletzt auch den Handlungsort Adrogué teilt, in dem auch Piñeiro ihren anklagenden Roman Kathedralen spielen lässt.

Schön, dass die so spät entdeckte Argentinierin Venturini nun auch hierzulande lesbar ist. Noch schöner, dass die Übersetzerin Johanna Schwering und der herausgebende dtv-Verlag den Wunsch der Leipziger Jury nach weiteren Übersetzungen schon so schnell erfüllen. In wenigen Monaten gibt es mit Wir, die Familie Caserta schon ein weiteres Werk aus dem Schaffen von Aurora Venturini zu entdecken!


  • Aurora Venturini – Die Cousinen
  • Aus dem argentinischen Spanisch von Johanna Schwering
  • Mit einem Nachwort von Mariana Enriquez
  • ISBN 978-3-423-29031-9 (dtv)
  • 192 Seiten. Preis: 23,00 €
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