Tag Archives: Flucht

Richard Flanagan – Die Unbekannte Terroristin

In den Fängen der Lügenpresse

In Zeiten, in denen das Wort der Lügenpresse aus dem öffentlichen Diskurs kaum mehr wegzudenken ist, Wahlschlachten eher über Gefühle denn über Fakten entschieden werden und die Manipulation ein probates Mittel zur Skandalisierung und Zuspitzung geworden ist, gießt dieser Roman des tasmanischen Schriftstellers Richard Flanagan Öl ins Feuer.

flanaganEr erzählt in Die unbekannte Terroristin von vier Tagen im Leben von Gina Davies, nach denen nichts mehr so ist wie es war. Davies – genannt die Puppe – verdingt sich in einem Striplokal in Sydney als Tänzerin. Inmitten der schmieriger Kunden und des heruntergekommenen Ambientes gilt ihr Augenmerk eigentlich nur dem Geld, das sie mehrt und mehrt. Doch dann macht sie die Bekanntschaft mit Tariq und beschließt aus einem Affekt heraus, die Nacht mit ihm zu verbringen, ohne zu ahnen, dass damit ihr ganzes Leben aus den Fugen geraten wird. Continue reading

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Tommy Wieringa – Dies sind die Namen

Man könnte meinen, Tommy Wieringa würde prophetische Gaben besitzen. Schon bevor im letzten Jahr die große Flüchtlingsströme schließlich über die Balkanroute auch bis nach Deutschland gelangten, legte er im Jahr 2012 den Roman Dies sind die Namen vor, der sich um die Fragen von Flucht und Identität dreht.

Der niederländische Autor erzählt darin in zwei Stränge aufgeteilt von einer Flüchtlingsgruppe, die sich durch ein verlassenes Nirgendwo schlägt, auf der Suche nach einem neuen Leben, und von Pontus Beg. Dieser versieht desillusioniert in der heruntergekommenen Stadt Michailopol seinen Dienst als Polizeibeamter. Dort hät er genauso wie seine Kollegen die Hand auf und verlebt seine Zeit, ohne dass wirklich etwas Aufregendes geschieht. Doch plötzlich stehen die abgekämpften Flüchtlinge vor ihm und bringen das ganze Leben in Michailopol durcheinander.

Geschickt verschränkt Wieringa die beiden Erzählstränge miteinander und verwebt Themen wie die Suche nach Identität und einem neuen Leben  in seine Erzählung. Während sich die Flüchtlinge vom Tod bedroht durch öde Steppen quälen und schier wahnsinnig werden, lässt Beg die Frage nach seiner eigenen Herkunft nicht mehr los. Kann es sein, dass seine Mutter Jüdin war und seine eigene Existenz damit in ganz neuem Licht erscheint? Wie Wieringa hier mit diesen Themen spielt, dies ist sehr gut gemacht!

Dem Autor von Bestsellern wie Joe Speedboat – Keine Zeit für Helden ist ein Buch gelungen, das mit seiner Aktualität und seiner schriftstellerischen Klasse zu überzeugen weiß. Nicht zuletzt da die Niederlande als diesjähriger Partner der Frankfurter Buchmesse fungieren, hoffe ich, dass diesem Buch große Aufmerksamkeit zuteil wird!

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Matthew F. Jones – Ein einziger Schuss

John Moon ist eine vom Leben mehr als gebeutelte Gestalt: seine Frau ist samt Kind ausgezogen, seine Farm ist ihm genommen worden und Perspektiven gibt es in seinem Leben eh schon lange nicht mehr. Über Wasser hält sich Moon mit der Wilderei, der er im amerikanischen Hinterland verbotenerweise nachgeht. Und genau diese Wilderei wird ihm nun eines Tages zu seinem Verhängnis:

Matthew F. Jones - Ein einziger Schuss (Cover)

Als er einen kapitalen Hirsch erlegen will, gelingt ihm kein tödlicher Treffer. Angezählt schleppt sich der Hirsch durch die Wälder, um schließlich von John in einem alten Steinbruch gestellt zu werden.

Doch neben dem Hirsch erwartet ihn dort eine weitere Überraschung. Im Steinbruch liegt die Leiche eines jungen Mädchens und eine Tasche voller Geld. Moon begeht den Fehler, in Panik die Leiche verschwinden zu lassen und das Geld an sich zu nehmen. Damit schlittert er in einen tödlichen Strudel, denn die Mörder des Mädchens haben nicht die Absicht, über den Verlust des Geldes gnädig hinwegzusehen …

Ein neuer Vertreter des Country Noir

Mit Matthew F. Jones hat der unabhängige Polar-Verlag einen amerikanischen Autor aufgetan, der dem Genre des Country Noir neue Facetten abringt und der nebenbei wie ein Doppelgänger von Chuck Norris aussieht. Ähnlich kantig ist auch die Prosa, die der Autor schreibt. Seinen Protagonisten John Moon lässt er unbarmherzig auf den Abgrund zutaumeln, den er in seinen diversen Rauschzuständen so kaum wahrnimmt. Brutal ist die Welt in Ein einziger Schuss, in die John Moon unversehens geschleudert wird. Morde sind an der Tagesordnung. Doch inmitten dieser Todesszenarien findet der Autor auch immer wieder Platz für wunderbare Naturbeschreibungen oder Hoffnungsschimmer. Dass sie zwar aufscheinen, dann aber ungenutzt verstreichen, das steht ja in guter alter Noir-Tradition.

Matthew F. Jones hat einen intensives Buch aus dem amerikanischen Hinterland über einen Loser geschrieben, der in einer Tretmühle aus Gewalt, Suff und Malochen gefangen ist. Ganz besonders das heftige Ende weiß zu überzeugen (wie auch die Übersetzung durch Robert Brack). Gerne mehr von diesem Autor!

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Astrid Sozio – Das einzige Paradies

„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann“ (Jean Paul)

Dieses Motto hat Astrid Sozio für ihre Heldin Frieda Troost konsequent umgesetzt, die dem Leser im Debüt der 36-jährigen Hamburgerin begegnet. Denn mehr als Erinnerungen hat die Dame eigentlich nicht mehr. Sie arbeitete einst im Hotel „Zum Löwen“ irgendwo im Ruhrgebiet. Doch der Charme des Hotels ist genauso verblasst wie die Erinnerungen der hochbetagten Frieda Troost. Doch sie schleppt sich jeden Tag noch von Zimmer zu Zimmer und putzt – beziehungsweise  könnte man es eher den Versuch nennen, eine Form von Normalität und Routine aufrecht zu erhalten.

Sozio

Eigentlich ist das Hotel nur noch eine Ruine, der Strom wurde schon lange abgestellt, Schimmelpilze wuchern genauso wie die wilden Erinnerungen der Dame. Denn je weiter man im Text voranschreitet, umso klarer wird, dass Frieda Troost schwer dement ist und in ihrem ganz eigenen Paradies der Erinnerung lebt. Viele der Erinnerungen hat sie auch hinter die Türen des Hotels gebannt und will ihnen nicht mehr begegnen. Doch da steht plötzlich eines Tages die junge Nasefe vor der Tür, ein Flüchtlingsmädchen. Und das ausgerechnet bei Frieda, für die alle Fremden und Flüchtlinge Kroppzeug oder Ölaugen sind. Denn Frieda ist nicht nur dement, sondern auch eine Fremdenfeindin, mit der nicht gut Kirschen essen ist. Doch plötzlich wird der Löwe von zwei völlig konträren Gestalten bevölkert, die doch auch einiges verbindet.

Grund für Kritik, aber nicht für einen Verris

Das Einzige Paradies hat unbestreitbar Schwächen. Es scheint nicht ganz einleuchtend, warum Frieda Troost auf Pidgin-Englisch mit Nasefe kommunizieren kann bzw. des Englischen in Grundzügen mächtig ist. Für eine Dame ihren Alters und mit ihrem Hintergrund schien mir dies etwas konstruiert zu sein. Mag auch mancher Flüchtlingsbezug von der Autorin etwas aufdringlich in die Geschichte eingewebt worden sein, die Grundidee dahinter verfängt dann doch.

Für ihr beim Bachmannpreis vorgetragenes Stück Prosa aus dem Buch musste die Autorin viel Kritik einstecken. Diese heftige Kritik kann ich nach der abschließenden Lektüre des Buchs nicht teilen. Die Idee der dementen und rassistischen Erzählerin, deren Geschichte erst Stück für Stück offenbar wird – trägt das Buch sehr gut. Auch findet Sozio einen ganz eigenen ältlichen Ton für ihre Ich-Erzählerin, der dem Buch Rhythmus und Struktur gibt. Mit ihrer Protagonistin geht sie über die ganze Distanz und schafft auch ein konsequentes Finale. Abseits der breit in den Medien geführten Flüchtlingsdebatte wirkt das Buch stark und bietet einige Impulse.

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Anthony Doerr – Winklers Traum vom Wasser

Kann man seinem Schicksal entfliehen?

Um diese Frage kreist der Roman Winklers Traum vom Wasser von Anthony Doerr und findet für die Beantwortung sehr poetische Bilder. Ausgangslage ist die Fähigkeit David Winklers zu sehr ausufernden Träumen, die sich eigentlich immer bewahrheiten. Er träumt von Todesfällen genauso wie von seiner sprichwörtlichen Traumfrau, die er im Supermarkt kennen lernen wird. Alles trifft so ein, wie es sich Winkler erträumte und er wird glücklich und Vater. Doch dann lässt ihn ein Traum seine Frau und sein Kind Grace verlassen. Er sah nämlich in einem Traum sein Haus überflutet und seine Tochter tot in seinen Armen. Als sich die Vorzeichen für diese Katastrophe mehren, doch nicht einmal seine Frau Winkler glauben schenkt, flieht er Hals über Kopf.

Winkler

Fünfundzwanzig Jahre in der Ferne wird Winkler verbringen, während ihn die Unklarheit über das Schicksal seiner Frau und Tochter umtreiben. Auf der Antilleninsel St. Vincent beginnt er ein neues Leben, verdingt sich als Hausmeister eines Hotels und sucht auch hier nach Erkenntnis und Linderung. Doch nach 25 Jahren beschließt er, auf die Suche nach Grace Winkler in den USA zu gehen. Hat seine Tochter die Flut überlebt? Lebt seine Frau noch? Was ist aus ihnen geworden? Ruhelos beginnt Winkler seine Suche und wird dabei die ganzen USA durchqueren. Und die Frage, die über allem kreist, stellt sich ihm immer wieder: kann man vor seinem Schicksal davonlaufen, alles hinter sich lassen und noch einmal den Reset-Knopf drücken?

Eine gelungene Neuauflage

Winklers Traum vom Wasser ist ein poetisches und unglaublich gut geschriebenes Buch. Bereits einmal lag das Buch von Anthony Doerr auf Deutsch vor, nun hat es der C.H. Beck-Verlag über zehn Jahre später in einer Sonderauflage ein weiteres Mal aufgelegt. Dies ist auch gut so, damit das Buch möglichst großen Absatz findet. Denn nach dem grandiosen Alles Licht, das wir nicht sehen und der tollen Novelle  Memory Wall beweist Doerr seine literarische Meisterschaft hierin zum dritten Male. Welche Formulierungen Doerr für Wolkenformationen, Landschaften und Leben findet, das muss man lesen. An dieser Stelle sollte auch die Übersetzerin Judith Schwaab gewürdigt werden, die die richtigen Worte und den richtigen Rhythmus für die Übertragung ins Deutsche gefunden hat. So ist und bleibt Winklers Traum vom Wasser ein Lesegenuss und rührt mit seinem Helden David Winkler und seiner Flucht vor dem Schicksal stark an.

Es ist wünschenswert, dass diese Neuauflage reißenden Absatz findet, denn die Geschichte, die der amerikanische Schriftsteller in seinem Buch erzählt, ist es mehr als wert, bekannter zu werden und sollte den Ruhm Anthony Doerrs mehren!

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