Tag Archives: Forschung

Christian Schulteisz – Wense

Wenn man sich öfter in Bibliotheken aufhält, dann kennt man diesen Typus Menschen. Vergraben hinter Bücherbergen sind sie in die Lektüre der Bücher vertieft. Die Stapel um sie herum wachsen, immer wieder schleppen sie neue Bücherberge an den Tisch heran, sodass man sich unweigerlich fragt, was sie da um Himmels Willen erforschen. Abends sind sie die letzten, die die Bibliothek verlassen, um am nächsten Morgen wiederzukehren. Tag um Tag geht das so, manche dieser Privatforscher sieht man gar jahrelang in den Bücherhallen. Da möchte man schon gerne einmal wissen, an was sie arbeiten oder was sie umtreibt.

Dementsprechend glaubhaft ist auch folgendes Gespräch, das zwei Bibliothekare hier kurz vor Dienstschluss führen:

„Haben Sie mitbekommen, wann der Wense gegangen ist?“

„Nein, warum?“

„Der ist einfach verschwunden. War noch enttäuscht, dass er ein Buch nicht mehr ausleihen kann, und plötzlich – weg. Hat alles liegen gelassen, Astronomie, Geologie, auch wieder aus der Altaistik.“

„Moment, mein Hut fehlt noch!“

„Was ist dieser Wense überhaupt?“

„Wenn man das wüsste.“

„Haben Sie ihn nie gefragt?“

„Doch. Antwort war, er übersetze. Und eine Stunde später wollte er den gynäkologischen Nachlass von Osiander sehen.“

„Kurios.“

Schulteisz, Christian: Wense, S. 115

Ja, wer oder was ist dieser Wense? Eine Frage, die Christian Schulteisz‘ Debütroman Wense zugrundeliegt. Dabei versucht er, der facettenreichen und widersprüchlichen Figur des Hans Jürgen von der Wense nahezukommen. Ein Vorhaben, das Schulteisz glückt.

Wer ist Wense?

Es gibt Biografien, die eigentlich besser als jeder Roman sind. Der Wikipedia-Eintrag von Hans Jürgen von der Wense ist das beste Beispiel dafür. Die Zusammenfassung seines Lebens liest sich spannender als so manch erdachter Roman. Seine Interessensgebiete, seine Wanderungen, seine gesamte Biographie – wer braucht da noch einen Roman?

Christian Schulteisz - Wense (Cover)

Wir alle, wie ich nach der Lektüre von Schulteisz Debüt konstatieren möchten. Dass sich dieser dran gemacht hat, ein tatsächlich gelebtes Leben in Fiktion zu überführen, ist im Falle Hans Jürgen von der Wenses ein wirklicher Glücksfall. Denn ihm gelingt das Kunststück, in minimal verknappter Form und Sprache diesem außergewöhnlichen Menschen maximal nahe zu kommen.

Wer ist dieser Hans Jürgen von der Wense? Ein Mensch der tausend Facetten. Eremit, Mönch, Wanderer, Gelehrter, Zweifelnder, Scheiternder – in seiner Person findet scheinbar Widersprüchliches zusammen. Er übersetzte aus den entlegendsten Sprachen. Interessierte sich für Astrologie, fertigte in privatem Rahmen Horoskope für Göring, Hitler oder ganze Länder an. Sollte eigentlich zum Militärdienst im 2. Weltkrieg eingezogen werden. Entging durch seine Arbeit als Prüfer von Sonden dem Dienst an der Front. Komponierte Neue Musik, trat ihn Donaueschingen auf. Erwanderte halb Deutschland, interessierte sich für scheinbar banale Dinge, denen er seine Forschung widmen wollte, darunter etwa die Geschichte des Stabs. Veröffentlich hingegen hat er kaum etwas von seinen Forschungen. Zu Publikationen musste man ihn drängen. Ein Mensch, der, hätte man ihn in einer Bibliothek erblickt, wahrscheinlich kauzig und vergeistigt hinter seinen Bücherstapeln gehockt wäre.

Eine sprachmächtige Annäherung

Wandernder Wense
(Bildrechte Blauwerke-Verlag)

In Schulteisz Buch können wir nun in sein Inneres blicken. Die ewige Unruhe, die ihn umtrieb vermag der Autor genauso zu schildern wie sein Flanieren, Bummeln, Rennen, Taumeln und Wandern durch diese Welt. Wie ein Hungernder im Schlaraffenland verlagert sich seine Aufmerksamkeit immer wieder im Stundentakt zu den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen. Es ist eine nahezu faustische Unruhe, die in diesem Menschen wütet, wie Schulteisz zeigt. Zu sehen, was die Welt im Innersten zusammenhält und Erkenntnisse über alle gegraphischen und disziplinären Grenzen hinweg zu sammeln, das treibt Hans Jürgen von der Wense an.

Schulteisz Prosa ist dabei genauso wie Wense selbst. Unruhig, immer nach vorne drängend. Gerade einmal 125 Seiten umfasst dieses Buch, aufgeteilt in immerhin 13 Kapitel, die sich eher auf die Illustration des Wesens Hans Jürgen von der Wense denn auf eine wirkliche Handlung fokussieren.

Allen Kapiteln aber ist eine Sprache zueigen, die bildmächtig, präzise und geradezu überschäumend ist, und das bei aller Knappheit des Büchleins.

Hinterm Stadtwall wellen sich die Felder in der Dunkelheit, jeder Erdklumpen, jeder Hall ist ein Tropfen, ein Spritzer der wogenden Landmasse, und alles, was auf ihr liegt, scheinbar still liegt, eigentlich Treibgut, er selbst nur ein Schiffchen mittendrin, ein müder Kahn, der vorschriftsmäßig seinen Kurs halten muss zwischen anderen müden Kähnen.

Schulteisz, Christian: Wense, S. 40

Fazit

Dass Schulteisz‘ Roman nur ein kleiner Ausschnitt aus diesem außergewöhnlichen Leben von der Wenses zeigt und sich eher auf die Momente und Wahrnehmungen Wenses denn auf eine große biographische Einbettung seines Lebens fokussiert, ist eine weise Entscheidung. Gewiss – Wense bleibt fragmentarisch unvollendet – aber dieses Buch steht pars pro toto für den unvollendeten Wense, der der Nachwelt kaum etwas hinterließ. Umso schöner, dass Schulteisz ihn durch diese kluge Erzählung wieder hervorholt und diesen Universalgelehrten und Scheiternden in seiner ganzen Fülle zeigt. Eine begrüßenswerte Entscheidung des Berenberg-Verlags, mit Christian Schulteisz die erste Veröffentlichung eines Debüts zu wagen.

Eine weitere Besprechung von Schulteisz‘ Debüt gibt es beim Kulturjournal Fräulein Julia und auf der Seite des Bücherkaffee.


Ein großer Dank geht an Reiner Niehoff vom Blauwerke-Verlage in Berlin, der mir die Bildrechte für den Abdruck der Bilder Hans Jürgen von der Wenses erteilte. Blauwerke verlegt Originalschriften und Wensiana, die man über die Seite beziehen kann. Wer neugierig auf die Figur des Hans Jürgen von der Wense geworden ist, der findet hier vertiefende Einstiege in das Werk dieses Universalfragmentarikers.

Diesen Beitrag teilen

Das Humboldt-Double-Feature

Happy Birthday to you, Mr. Humboldt! In diesem Jahr würde der preußische Universalgelehrte seinen 250. Geburtstag feiern, hätte er neben Entdeckungen in Sachen Flora und Fauna auch noch das Geheimnis der Unsterblichkeit enthüllt. Das faszinierende Leben dieses Mannes wird in zwei Werken von Andrea Wulf nachgezeichnet, die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen sollen.


Höchstes Lob und gute Verkaufszahlen konnte Andrea Wulf mit ihrer Humboldt-Biografie Die Erfindung der Natur einheimsen, die im Herbst 2016 erschien. Für diese Biografie hatte sich Wulf selbst auf die Spuren des Entdeckers Humboldt begeben und unter anderem sogar dessen Expedition auf den Chimborazo in Ecuador nacherlebt. Das Ergebnis ist eine ebenso fundierte wie gut lesbare Biografie, die die Entdeckungen und Begegnungen Humboldts in den Mittelpunkt stellt.

Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur von Andrea Wulf

So zeigt Andrea Wulf nicht nur die Forschungsreisen und wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Humboldt auf seinen Reise nach Südamerika oder Russland sammelte, sondern stellt in vielen Kapiteln auch bewusst Humboldt in Relation zu anderen Personen der Zeitgeschichte. So widmet sie etwa den Beziehungen Humboldt und Goethe, Humboldt und Simon Bolivar oder Humboldt und Thomas Jefferson ganze Kapitel. Hier zeigt sich eindrücklich, wie der Preuße Humboldt mit seinen Forschungen und seinem Auftreten überall dort Menschen beeinflusste, wo er seinen Fuß hinsetzte. Der Bolivar’sche Befreiungskampf in Bolivien und anderen südamerikanischen Ländern wäre ohne Humboldt nicht in dieser Form möglich gewesen. Genauso wenig wie etwa die Forschungen Goethes, zu denen Humboldt den hessischen Dichterfürsten animierte oder die Evolutionstheorie Darwins, die auch durch den Preußen entscheidende Impulse erhielt.

Andrea Wulfs Buch gründet auf der These, dass es erstmalig Alexander von Humboldt war, der eine Beziehung zwischen allen Faktoren des Lebens sah und postulierte. Ihr gelingt es, diese These des Beziehungsnetzes auch auf ihr Buch selbst zu übertragen, das immer wieder überraschende Erkenntnisse und Querverweise bereithält. So zeigt sie, dass auch beispielsweise der Gedanke der Ökologie und des Umweltschutzes ohne den 1859 Gestorbenen nicht so umfassend greifbar geworden wäre. [Übersetzung aus dem Englischen von Hainer Kober].

Die Abenteuer des Alexander von Humboldt

Die Abenteuer des Alexander von Humboldt von Andrea Wulf

Ein interessanter Wechsel findet nun in Wulfs zweiter Humboldt-Annäherung statt, sowohl in Form als auch in Perspektive. Denn nun bekommen wir nichts mehr über Humboldt erzählt, sondern erleben seine Abenteuer gleich unmittelbar selbst. Denn in diesem Graphic Novel von Andrea Wulf und der Zeichnerin Lillian Melcher schildert der preußische Forschungsreisende die Abenteuer seiner Südamerika-Expedition gleich selbst. Aus anderer Perspektive erlebt man nun noch einmal die Entdeckungen, Gefahren und Erlebnisse von Humboldt und seinem Begleiter Aime Bonpland ganz unmittelbar.

Auch wenn mir persönlich der Zeichenstil von Lillian Melcher nicht zusagt, muss ich doch konstatieren, dass dieses Buch insgesamt wunderbar gelungen ist. In ihrem ersten großen Buch schöpft Melcher aus dem Vollen, um Humboldts Schilderungen zu illustrieren. Sie arbeitet mit Comicstrips, Collagen, arrangiert Text und Wörter um und nutzt sogar die Technik eines Centerfolds in der Mitte des Buchs. Das ist sowohl optisch als auch inhaltlich ein großer Genuss, der erfahrbar macht, welche Entdeckungen Humboldt inspirierten und was wir diesem Mann verdanken. [Deutsch von Garbriele Werbeck]

Die beiden Bücher ergänzen sich hervorragend und erschließen aufgrund ihrer unterschiedlichen Machart und Herangehensweise auch verschiedene Leserschichten. Zwar feierte ja eigentlich Humboldt in diesen Tagen seinen Geburtstag, beschenken kann man sich allerdings auch hervorragend selbst mit diesen beiden Titeln!

Diesen Beitrag teilen

Margaret Cavendish – Die gleißende Welt

Hinweis: Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der Reihe #WomeninSciFi des Blogs Binge-Reader

Was die Gleißende Welt im Innersten zusammenhält

Es gibt Geschichten, die sind eigentlich zu tolldreist, um sie zu glauben. Das Werk Die gleißende Welt und seine Erschafferin Margaret Cavendish sind genau solch ein Fall.

Margaret Cavendish wird 1623 in England geboren, zu einer Zeit also, in der der 30-jährige Krieg ganz Europa beherrscht. Im Schoß ihrer Familie wächst die junge Frau heran, während Oliver Cromwell gerade dazu ansetzt, die Monarchie unter dem englischen König Charles I. zu stürzen. Höchst turbulente Zeiten also, die von den Konflikten zwischen Krone und Parlament gekennzeichnet sind.

Margaret Cavendish (Quelle: Wikimedia)

Auch die Familie von Margaret Lucas (so der Mädchenname der Autorin) bleibt von diesen Turbulenzen nicht verschont. Der Familiensitz der Lucas‘ wird zweimal von anti-royalistisch gesinnten Bürgern angegriffen und schlussendlich sogar zerstört. Etwas Ruhe verheißt da der Antrag von William Cavendish, der um die Hand von Margaret anhält.

Cavendish, der Herzog von Newcastle-upon-Tyre ist frisch verwitwet und mit 50 Jahren ganze dreißig Jahre älter als Margaret. Er gilt als Unterstützer und Förderer von Geistesgrößen wie etwa Thomas Hobbes (und nebenbei auch als berüchtigter Frauenheld). Margaret willigt in die Ehe mit dem Herzog von Newcastle-upon-Tyre ein und wird folglich selbst zur Herzogin. Ihre neuen Freiheiten weiß sie geschickt zu nutzen. Obwohl sie kaum eine nennenswerte Schulbildung genossen hat, setzt sie dazu an, sich mit den Ideen der Philosophen und Forscher ihrer Zeit auseinanderzusetzen. Sie beginnt Briefe, Gedichte und Schriften zu veröffentlichen – zu der damaligen Zeit ein absolutes Unding. Das Verfassen von Schriften war den Männern vorbehalten und zudem eher für die interne Verbreitung in den privaten Zirkeln vorgesehen. Mit diesen Traditionen bricht Margaret Cavendish und beginnt ihr schriftstellerisches Ouevre zu veröffentlichen. Unterstützung erfährt sie dabei auch von ihrem Mann, der den Werken gerne ein selbst verfasstes Gedicht voranstellte, um zu zeigen, dass seine Frau seinen Rückhalt genoß.

Margaret Cavendish – eine Feministin?

Äußerst standesbewusst weiß sie sich zu inszenieren. Gerne trägt sich auch Männerkleidung und besucht Experimente der Royal Society. Sie mischt sich in Debatten ein und setzt sich mit den Forschungen ihrer Zeit auseinander und legt dabei ein großes disziplin-übergreifendes Interesse an den Tag. Margaret Cavendish aufgrund ihrer Unangepasstheit und ihrem Kampf um einen Platz in der Gesellschaft für Frauen als frühe Feministin zu bezeichnen, wäre allerdings falsch. Ihre eigene Position und persönliche Freiheiten galten der Herzogin von Newcastle weitaus mehr als sich mit anderen Frauen niederer Stände zu solidarisieren.

Mit ihrer Haltung und ihrem Gestaltungsdrang eckte die exzentrische Dame natürlich auch an. Mit ihren Briefen und ihrer Prosa zog sie viel Häme und Kritik ihrer ZeitgenossInnen auf sich. Beispielhaft sei hier eine Bemerkung von Dorothy Osborne genannt, einer Zeitzeugin, deren Urteil über Margaret Cavendish wie folgt ausfiel:

Bestimmt ist die arme Frau ein wenig verwirrt, sie könnte sich sonst nie so lächerlich machen, sich zu erlauben Bücher zu schreiben und noch dazu in Versen. Wenn ich vierzehn Tage nicht schlafen würfe, sollt es nicht so weit mit mir kommen. (Briefe von Dorothy Osborne an William Temple, Hg. vom G. C. Moore Smith. Oxford, 1928)

Nach ihrem Tod 1673 fiel Margaret Cavendish und ihr literarisches Ouevre alsbald dem Vergessen anheim. Die zumeist vernichtende Kritik sorgte für ein schnelles Ende ihres Nachruhms. Erst Virginia Woolf setzte Anfang des 20. Jahrhunderts wieder dafür, dass das Erbe von Margaret Cavendish nicht ganz vergessen wurde, wobei Woolfs Urteil über Margaret Cavendish recht ambivalent ausfiel. Erst im Zuge der aufkommenden Frauen-Forschung der 80er Jahre wurde Margaret Cavendish und ihr literarisches Schaffen wieder neu entdeckt. Und nun bekommt sie auch einen Platz in der Reihe #WomeninSciFi. Ein Platz, der der Engländerin als einer der Urmütter der Science Fiction fraglos mehr als zusteht.

Frontispiz von The Blazing World

Denn Margaret Cavendish verbindet als eine der ersten die Positionen Science und Fiction. Während London 1666 beim Großen Brand in weiten Teilen zerstört wird, erschafft die Herzogin von Newcastle in diesem Jahr ebenfalls ein gleißendes Ereignis – die Rede ist von ihrem Werk The Description of a New World Called the Blazing World. Diese Fiktion erscheint in Verbindung mit ihrer Schrift Observations upon Experimental Philosophy, beide Schriften stehen in enger Verbindung – hier die philosophischen Betrachtungen, auf der anderen Seite ihre Phantasie einer Welt, in der die Philosophie eine tragende Rolle spielt. Science und Fiction at it’s best quasi.

Die Autorin selbst bemerkt dazu im Vorwort ihres Buchs:

Es ist die Beschreibung einer Neuen Welt, nicht wie die bei Lukian oder die Welt im Mond des Franzosen (Cyrano de Bergeracs , Anmerkung meinerseits), sondern eine Welt, die ich selbst geschaffen habe und die ich die Gleißende Welt nenne. Der erste Teil ist romanzenhaft, der zweite philosophisch und der dritte bloße Laune oder (wie ich es nennen würde) phantastisch. Wenn dich dies erfreut, werde ich mich als glückliche Schöpferin betrachten ; wenn nicht, muß ich mit einem melancholischen Leben in meiner eigenen Welt Vorlieb nehmen. (Cavendish, Margaret: Die Gleißende Welt, S. 9)

Hier schlägt dem Leser schon der selbstbewusste Ton der Herzogin entgegen, die sich selbst als Hauptfigur in ihre Erzählung verpflanzt. Ein Kniff, den auch etwa ihr Landsmann Thomas Morus in Utopia anwendet (beide Bücher weisen nicht von ungefähr zahlreiche Berührungspunkte auf). Die Grundgeschichte ist ihrer Erzählung ist dabei schnell umrissen:

Eine Reise an den Nordpol

Ein Kaufmann möchte eine junge Dame in einem fremden Land erobern und raubt sie kurzerhand. Doch das Boot wird abgetrieben und gerät an den Nordpol. Nur die junge Frau überlebt an Bord und gelangt vom Nordpol durch einen Übergang in eine fremdartige Welt. Dort trifft sie auf Bären- Fuchs- und Vogelmenschen, sowie dergleichen mehr. Die Dame wird von den verschiedenen Bewohnern dieser Gleißenden Welt bewundert, sodass sie sogar zur Kaiserin des Reichs aufsteigt. Mit den verschiedenen Gattungen ihrer Welt tritt sie in den Dialog und lässt sich von ihnen die Welt erklären und führt unzählige wissenschaftliche Dispute. So gibt es Gespräche über die Philosophie, Syllogismus oder naturwissenschaftliche Themen (die auch immer Cavendish‘ zahlreiche Interesse widerspiegeln). Hier liest man eine Autorin und Heldin, die wirklich wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Der Ton ihrer Erzählung ist dabei manchmal märchenhaft, dann aber auch wieder forschend und nachbohrend wie der Wissensdurst eines kleinen Kindes. Die royalistische Grundhaltung lässt sich ebenso klar aus dem Text ablesen wie ihre Verachtung für manche Philosophen, die nicht von ungefähr etwa als Wurmmenschen auftreten lässt. Auch enthält ihre Erzählung weitere Themen wie etwa den Krieg (sogar zu einer Schlacht kommt es in ihrem Roman) oder die Suche nach der idealen Staatsform. Die von ihr kreierte Welt ist eine Utopie, bei der alle verschiedenen Rassen und Gattungen friedlich miteinander leben, geeint durch eine Religion und ein Staatsoberhaupt.

Diese ganzen Ansätze und Ideen machen eine Lektüre von Die gleißende Welt auch heute noch interessant, auch wenn die Lektüre manchmal etwas zäh gerät, besonders in den vielen wissenschaftlichen Diskussionen. Das Durchkämpfen durch diese Passagen lohnt sich aber, besonders wenn man sich für einen weiblichen Blick auf die damaligen Machtverhältnisse und Schreiben als Abbild oder Eskapismus der Wirklichkeit interessiert. Weitere Einblicke in das Leben und Wirken Margaret Cavendishs liefert zudem das Nachwort der Übersetzerin Virginia Richter, die zahlreiche Informationen über diese besondere Autorin zusammengetragen hat.

Ein außergewöhnliches Buch, eine noch außergewöhnlichere Autorin!

(Cavendish, Margaret: Die Gleißende Welt. Scaneg-Verlag, Reihe punctum, Bd. 15. Erscheinungsjahr 2001. ISBN 3-89235-115-5. Preis: 15,00 €)

Diesen Beitrag teilen

Christoph Poschenrieder – Das Sandkorn

Eine Ménage-à-trois

Christoph Poschenrieders Talent für Sprache ist bewundernswert. Nach seinem tollen Erstling Die Welt ist im Kopf und dem nicht minder geschickt konstruierten Der Spiegelkasten legt er nun mit Das Sandkorn ein Werk vor, das sich mit den beiden vorhergehenden Monographien mindestens messen lassen kann.

In seinem neuesten Roman erzählt der Münchner Autor von Jacob Tolmeyn, der in Berlin verhaftet wird, als er Sand in den Straßen der Stadt ausstreut. Im Verhör, das als Rahmenhandlung fungiert, erzählt Tolmeyn seine Geschichte, die zurück nach Italien führt. Dort sollte er nämlich zusammen mit seinem Schweizer Kollegen Beat Imboden die Werke der Staufer dokumentieren und kartografieren. Doch der Auftrag wird durch das Auftauchen der Italienerin Letizia, die die beiden Männer vor Ort unterstützen soll, mehr als verkompliziert. Denn ehe sie sich versehen finden sich die drei Charaktere in einem Geflecht aus Anziehung, Begehren und Tabus verfangen. Allmählich entspinnt sich im Verhör das ganze Ausmaß der Beziehungen zwischen den drei Menschen. Die Rollen, die sie im Drama spielen, werden klarer.

Poschenrieder ist ein großartiger Autor, dessen fein ziselierte Sprache wirklich Hochachtung verdient. Er schafft ein eindrückliches Porträt eines jungen Mannes, für den die Liebe grobe Fallstricke bereithält, das er in eine tolle sprachliche Form gießt.

Mit Das Sandkorn ist Christoph Poschenrieder ein in formaler und stilistischer Hinsicht wirklich großartiger Roman gelungen. Eine mediterran-lockere Atmosphäre durchzieht das Buch, welche die Gerüche und Geräusche so kurz vor dem großen europäischen Weltenbrand 1914 vortrefflich einfängt.

Fazit

Ein Leckerbissen für jeden Liebhaber guter Geschichten, die im Gedächtnis bleiben. Und für Liebhaber von ästhetisch ansprechenden Sprache natürlich ebenso!

Diesen Beitrag teilen