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Ryan Gattis – Das System

Es ist wirklich zum Haareraufen. Der größte kriminalliterarische Schund verkauft sich wie geschnitten Brot, literarische Stümpereien wie die sadistischen bis gewaltpornographischen Werke Sebastian Fitzeks erklimmen Jahr um Jahr Spitzenpositionen auf dem Buchmarkt. Und die wirklichen Könner*innen dümpeln unter ferner liefen auf dem Buchmarkt dahin. So ergeht es beispielsweise Dennis Lehane (mehr zu ihm hier in einigen Tagen) oder Simone Buchholz, die auf derartigen Listen sträflich unterrepräsentiert sind. Dagegen feiert als das Abgenutzte, dutzendfach Erzählte Erfolge um Erfolge und klettert in den Bestsellerlisten weit nach oben.

Ryan Gattis - Das System (Cover)

Zwar mache ich mir über den Einfluss meines kleinen Blogs hier keine Illusionen, dennoch möchte ich einmal mehr die Chance nutzen. Die Chance, auf einen außergewöhnlichen Thriller hinzuweisen, einen, der verschiedene Themen, literarische Spielarten und gesellschaftliche Analysen in sich vereint. Ein Buch, das die Zustände des amerikanischen Justizwesens und Gefängnissystem beleuchtet, eine Inneneinsicht in Rechtssprechung und Bandenwesen liefert, eines, das keine einfachen Antworten gibt. Geschrieben hat jenes Buch der Amerikaner Ryan Gattis und es trägt den Titel Das System. Die Übersetzung ins Deutsche besorgten Ingo Herzke und Michael Kellner.

Ein außergewöhnlicher Erzähler

Mit Das System liegt das dritte auf Deutsch übersetzte Buch von Ryan Gattis vor. 2016 erschien zunächst das Aufstandspanorama In den Straßen die Wut. Darin erzählte Gattis von sechs Tagen Ausnahmezustand, die in Los Angeles 1992 in Folge der Rodney King-Aufstände herrschten. Er entwarf darin das Panorama ein Gesellschaft, deren Widersprüche, Falschheit und Ungerechtigkeit zu einer Eruption führten, die der der Black Lives Matter-Proteste dieser Tage glich.

In seinem zweiten Buch Safe erzählte er die Geschichte eines Safeknackers, der nichts mehr zu verlieren hat und so gegen das organisierte Verbrechen für eine letzte Mission antritt. Sprach Die Presse vom „wohl herzzerreißendste Krimi des Jahres“, so unterschrieb ich dieses Urteil nac der Lektüre sofort. Ein außergewöhnliches Buch, das leider in der öffentlichen Wahrnehmung etwas unterging.

Bereits mit diesen beiden Werken ist es Gattis gelungen, einen eigenen, unverkennbaren Stil zu kreieren. Einen Stil, der nun auch in Das System Anwendung findet und der entscheidend ist für die Qualität dieses Buchs. Denn statt das Geschehen aus nur einer oder zwei Perspektiven zu beleuchten, wählt Gattis auch hier wieder ein ganzes Dutzend an Personen, die mit eigener Perspektive das Geschehen in der Ich-Perspektive schildern.

So erzählt Gattis von einem Strafverteidigerin, einer Staatsanwältin, Gangmitgliedern, Ermittlern und Bewohnern der Stadt Lynwood im County Los Angeles. Den Mittelpunkt des Geschehens aber bilden der Gangster Omar Tavira alias „Wizard“ und der Samoaner Jacob Safulu alias „Dreamer“. Letzterer bekommt von einem rassistischen Bewährungshelfer die Waffe eines Mordanschlags untergeschoben. In der Folge kommt es zur Verhaftung der beiden Männer, die in einem Prozess mündet.

Der Prozess – und seine Folgen

Diesen exerziert Ryan Gattis durch alle Stufen der Entwicklung. Als Leser*innen sind wir Zeuge, wie das Komplott seinen Anfang nimmt und wie sich die Dynamiken entwickeln. Die Verhaftung und die Untersuchungshaft, die Suche nach der Wahrheit über das Geschehen in der Nacht des Mordanschlags, es dominiert die Handlung des Buchs. Gattis liefert dabei Inneneinsichten in die Welt der Clans und der Strafjustiz. Auch wenn das Geschehen in Das System im Jahr 1993 kurz nach den Rodney King-Unruhen angesiedelt ist – Berichte aus den USA zeigen, dass sich das Strafsystem seither nicht merklich gebessert hat – im Gegenteil.

Das System ist formal konsequent gestaltet, in seiner Vielstimmigkeit überzeugend und gerade in seinem Verzicht auf einfache Antworten wirklich stark. Auch gelingt es Gattis eindrucksvoll zu zeigen, dass das System nur Verlierer kennt. Wer einmal in die Räder des Systems geraten ist, der findet kaum mehr heraus. Man mag so viel ungeschönten Realismus schwierig zu ertragen finden – das Buch überzeugt aber gerade durch diesen realistischen Blick und seine Schonungslosigkeit. In Form eines Justiz- und Gefängnisdramas gelingt hier Ryan Gattis ein Buch, das zeigt, was gute Kriminalliteratur kann. Und das dadurch dem üblichen Bestseller-Krimischund um Welten voraus ist.


  • Ryan Gattis – Das System
  • Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Michael Kellner
  • ISBN 978-3-498-02538-0 (Rowohlt)
  • 544 Seiten. Preis: 22,00 €
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Candice Fox – Dark

Candice Fox hat es schon wieder getan. Mit einer beachtenswerten Konstanz erscheint jedes Jahr ein neuer Krimi der australischen Autorin. Mit Dark liegt ein Band vor, der erneut eine Reihe begründen könnte. Und obschon ich bei einer derartigen Publikationsfrequenz stets skeptisch bin: auch hier enttäuscht Fox nicht und liefert gelungene Kriminalliteratur.


Auch nach einer Trilogie rund um den „Herren der Unterwelt“ Hades Archer und die Crimson Lake-Reihe (hier zuletzt Missing Boy) gehen Candice Fox die Ideen nicht aus. Mit Dark beginnt sie eine neue Reihe, die nun nicht mehr auf Fox‘ Heimatinsel Australien, sondern in Los Angeles angesiedelt ist.

Hier versieht die Hispanic Jessica Sanchez ihren Dienst auf dem lokalen Polizeirevier. Bei den Kolleg*innen ist sie nicht wohlgelitten. Der Grund: sie hat einen Cold Case durch Beharrlichkeit nach vielen Jahren zu einem erfolgreichen Ende geführt. Der Vater des Mordopfers hat ihr aus Dankbarkeit für ihre Aufopferung ein millionenschweres Haus vermacht. Das alarmiert nicht nur die internen Kontrollorgane der Polizeibehörde. Auch die Kolleg*innen neiden Jessica die Immobilie und schneiden sie, wo sie können.

Die zweite Hauptfigur in Candice Fox‘ neuester Kreation ist Blair. Die Ich-Erzählerin war früher eine erfolgreiche Chirurgin. Doch nach einer Anklage wegen Totschlags und dem anschließenden Gefängnisaufenthalt, hat sie ihren sozialen Status verloren. Auch ihr Kind musste sie gleich nach der Geburt im Gefängnis in die Obhut einer Pflegefamilie geben.

Eingedenk dieses Hintergrundes ist Blair höchst alert, als ihre ehemalige Mitinsassin Sneak sie um ihre Hilfe bittet. Sneaks Tochter Dayly ist verschwunden. Kurz zuvor hat diese die Tankstelle überfallen, an der Blair nach ihrer Haftenlassung jobbt, um sich durchzuschlagen. Die beiden Frauen beschließen, sich zusammenzutun, um die spärlichen Spuren von Sneaks Tochter zu verfolgen.

Vier Frauen auf der Suche nach Dayly

Hilfe bekommen sie dabei von zwei gegensätzlichen Seiten. In ihrer Not wenden sich die beiden Frauen an Ada, die sie als gefürchtete Bandenchefin noch aus dem Gefängnis kennen. Die vierte im Bunde ist keine Kriminelle, sondern Kriminalerin. Jessica Sanchez unterstützt die Suche ebenfalls. Sie treibt primär nicht die Suche nach Sneaks Tochter sondern das Gefühl einer Verpflichtung Blairs gegenüber. Die Ahnung aus , im Falle der Verurteilung Blairs einige entscheidende Details übersehen zu haben, sie lässt Jessica nicht los. Und so beteiligt sich an der Suche nach Dayly.

Candice Fox - Dark

So suchen die vier Frauen aus ganz unterschiedlichen Motiven nach Dayly, deren Spuren ins Hinterland von Los Angeles führen. Dort im Niemandsland verlieren sich die Spuren.

Konkreter allerdings werden die Spuren im Falle von Blair. Jessica vertraut, unbeirrt vom Mobbing ihrer Kolleg*innen, ihren Instinkten, und geht den alten Spuren nach. Immer stärker wird ihre Ahnung, damals im Fall der Verurteilung etwas Entscheidendes übersehen zu haben. Und so entwickeln sich in Dark zwei Spurensuchen. Die nach dem Verbleib Daylys und die nach den Hintergründen von Blairs Tat.

Dabei kommen dem regelmäßigen Leser der Werke Candice Fox‘ einige Motive sehr bekannt vor. Dass jemand für eine Tat verurteilt wurde, dessen Unschuld beziehungsweise der korrekte Tathergang im Laufe des Buchs offenbar wird, das war schon in ihrer Crimson Lake-Reihe ein zentrales Motiv. Auch andere Elemente kennt man, wenn man schon Bücher der Australierin gelesen hat. Das Mobbing durch Polizeiangehörige oder ungewöhnliche Haustiere, zu denen die Protagonist*innen eine Bindung entwickeln, all das sind Fox’sche Versatzstücke, die auch schon in anderen Büchern Verwendung fanden.

So fällt das Buch, im Gesamtkontext von Candice Fox‘ Schaffen betrachtet, nicht unbedingt durch Innovation auf. Vielmehr wirkt Dark stellenweise wie ein Remix aus früheren Erfolgstiteln der Australierin.

Candice Fox‘ knappe Figuren und Dialoge

Auch lässt die Figurenzeichnung und die manchmal fast comicartige Dialogregie zu wünschen übrig.

Dann: „Willst du mich verarschen?“

„Was? Liege ich etwa falsch?“

„Aber so was von, Bitch! Ich bin doch keine ersiffte Taube, die man vom Highway retten muss! Ich bin ein Raubvogel. Solche Opfer kill ich. Eiskalt!“

Mir erstarrt das Grinsen im Gesicht

„Wenn du jemandem diese Scheiße erzählst, tätowiere ich deine Fersse mit dem Taschenmesser!“

„Mach ich nicht“ stammelte ich, aber sie hatte schon aufgelegt.

Fox, Candice: Dark, S. 120

Für sich genommen liest sich das stellenweise schon arg dünn und klischiert. Aber wie es Candice Fox gelingt, die Perspektiven der vier Frauen auszubalancieren, die Handlung voranzutreiben und dann einen multiperspektivischen Showdown über zwei Erzählstränge anzulegen – das ist gut gemacht und zeigt ihr schriftstellerisches Können. Das Tempo ist bestechend hoch und so etwas wie Langeweile kommt auf den Seiten von Dark eh nie auf. Da nimmt man auch den ein oder anderen misslungen Dialog in Kauf.

Gekonnt beschreibt sie die ihren Schauplatz Los Angeles, weckt Sympathien der Leser*innen und unterhält auf einem wirklich tollen Niveau, sieht man über manche Dialoge und allzu grobe Pinseleien hinweg. Mit ihren vier Frauen renoviert sie das männderdominierte Genre des Krimis ordentlich. Davon gerne noch mehr!


  • Candice Fox – Dark
  • Übersetzt von Andrea O’Brian
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47101-2 (Suhrkamp)
  • 394 Seiten. Preis: 15,95 €
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Tales from Teheran

Ava Farmehri – Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen

Sheyda Porroya sitzt in Teheran im Gefängnis und wartet auf ihre Hinrichtung. Wir schreiben das Jahr 1999. Die islamische Revolution ist schon lang vorüber – die Nachwirkungen sind aber immer noch zu spüren. Dort im Gefängnis beichtet uns Sheyda ihre Lebensgeschichte. Es ist eine dunkle Schehezerade, die von einer schwierigen Heldin erzählt und die auflöst, warum sie im Gefängnis auf ihre Hinrichtung wartet. Im düstern Wald werden unsre Leiber von der kanadischen Autorin Ava Farmehri (übersetzt von Sonja Finck).


Ich kam in Gefangenschaft zur Welt.

Ich wurde am 1. April 1979 in Teheran geboren, am selben Tag wie die Islamische Republik.

Monate vor meiner Geburt wurde ein Schah von seinem Volk verraten und auf den Mattscheiben weltweit als Verräter dargestellt. Zusammen mit seiner Kaiserin wurde er Exil und dann in einen Tod geschickt, der seinen größten Schmerz und seine schlimmsten Albträume übertraf. […]

Ein Hubschrauber hob ab, und Iran stand unter Belagerung.

Farmehri, Ava: Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen, S. 14 f.

Es gibt wahrlich zugänglichere Heldinnen als diese Sheyda Porroya, die uns in diesem Buch ihre Lebensgeschichte anvertraut. Schon als Kind hintertreibt sie die Erziehungspläne ihrer Eltern, stiftet Ärger, ist aufmüpfig – kurzum: eine echte Querulantin. Ein Psychiater betreut sie von Kindesbeinen an. Ihre Unbeugsamkeit prägt sich im fortschreitenden Lebensalter aus. Sie verrät Geheimnisse, missachtet die Erziehungsversuche der Eltern und ist in ihrem Heimatviertel in Teheran berühmt-berüchtigt.

Sie macht sich der Gotteslästerung schuldig, was man ihr des jungen Alters wegen noch verzeiht. Aber kompromisslos geht sie ihren eigenen Weg, was sie nicht nur mit den Obrigkeiten in einem Staat wie dem Iran kurz nach der Islamischen Revolution in Bedrängnis bringt. Zudem kann man Sheyda nicht wirklich trauen, die sie sich in Anlehnung an Dante ein Alter Ego namens Beatrice zugelegt hat. Was ist wahr, was erzählerisches Märchengarn?

Eine widerborstige Heldin

Ava Farmheri macht es den Leser*innen in ihrem Buch nicht wirklich leicht. Der Begriff „Heldin“ für Sheyda mag nicht so wirklich greifen. Zu widerborstig ist sie, als das man große Sympathien für sie empfinden könnte. Widerständig und teilweise schon fast masochistisch strapaziert sie die Nerven ihrer Umwelt und die der Leser*innen. Darauf muss man sich einlassen. Aber darauf stimmt ja schon auch der Titel dieses Buchs ein.

Ava Farmehri - Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen (Cover)

Wenn man es tut, wird man mit einem Buch belohnt, das Einblick in eine Lebenswelt gibt, die in unserer westlich geprägten Literaturszene wenig stattfindet. Die Beschreibung Irans, des Lebens in den Stadtviertel (die mich von der Beschreibungs- und Lebensintensität an Elena Ferrantes Sizilien erinnerte) und die Schilderung die Repressionen dort, das ist gut gemacht. Farmehri gelingt es, das Leben durch die Augen ihrer Ich-Erzählerin plastisch einzufangen und zu vermitteln.

Und dann ist da auch vom Inhalt abgesehen die literarische Ebene, die in diesem Buch überzeugt. So findet sie kluge Leitmotive, wie etwa die Dichtung Dantes, die dem Buch den Titel und Sheyda ihr Alter Ego liefert. Auch die Vögel bilden eines dieser Leitmotive, derer sich Ava Farmehri beident. Beständig folgen sie Sheyda und tauchen immer wieder an zentralen Stellen im Buch auf.

Fazit

Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen hat ein erzählerisches Konzept, das in der orientalischen Tradition verhaftet ist, aber doch durch die Spannung und die gesetzten Erzählschritte zu unseren westlichen Lesegewohnheiten passt. Ava Farmehri gelingt es, Einblicke in den Iran der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu liefern. Und nicht zuletzt ist hier eine gekonnte Beschreibung einer widerspenstigen Frau zu erleben, die über das eindrucksvolle Ende des Buchs hinaus bei mir blieb. Ein beachtliches Debüt und eine dunkle Märchenstunde.


  • Ava Farmehri – Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen
  • Aus dem Englischen von Sonja Finck
  • ISBN 978-3-96054-234-6 (Nautilus)
  • 288 Seiten. Preis: 22,00 €
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Maxim Biller – Sechs Koffer

Wenn man in die Printlandschaft und die Bloggospäre rund um den Deutschen Buchpreis 2018 schaut, dann scheinen sich fast alle einig: Maxim Billers Sechs Koffer ist ein Meisterwerk, ein preiswürdiger Kandidat für die Shortlist und sogar für höhere Weihen. Nach der Lektüre frage ich mich – haben all die Rezensent*innen ein anderes Buch als ich gelesen?

Die Ausgangslage zu Billers Miniaturdrama (nicht einmal 200 Seiten weist die Erzählung auf) ist sehr vielversprechend. Die Mitglieder der Familie Biller leben alle mit einer Ungewissheit. Ihr Vater bzw. Großvater, tschechisch der Tate, wurde nach einem Verrat hingerichtet. Er schmuggelte Uhren und Dollars in den Westen – bis ihn ein Tipp auffliegen ließ. Doch wer ist der Verräter, wer hat den Taten auf dem Gewissen? Niemand weiß es, und so beginnt der Enkel des Taten mit seinen Nachforschungen.

Wer spricht die Wahrheit? Wer ist der Verräter? Und welche Blicke eröffnen uns sechs unterschiedliche Perspektiven? Eigentlich ein hochspannender Ansatz, aus dem Biller allerdings leider überhaupt nichts erzeugen kann. Weder schafft er es, die unterschiedlichen Charaktere sauber herauszuarbeiten und klar zu machen, wer gerade erzählt, noch gelingt ihm, eine saubere Exposition zu kreieren, die in die Erzählung hineinträgt.

Mehrmals musste ich ansetzen, um in Sechs Koffer hineinzufinden. Wer ist nun wer, welcher Konflikt liegt dem Ganzen zugrunde, wer erzählt hier gerade? All das erschloss sich mir erst nach mehrmaligem Loslesen von Billers Geschichte. Neben einer sauberen Ausarbeitung und einem erzählerischen Plan fehlt diesem Buch Rhythmus und ein innerer logischer Fluß, der den Leser durch die Geschichte geleitet.

Zu kurz und skizzenhaft

Meist vertrete ich ja die Auffassung, dass viele Bücher stärker werden, wenn man sie kürzt, reduziert, eher auf ihren Kern fokussiert. Dass manchmal auch das Gegenteil der Fall ist, sieht man an Sechs Koffer. Billers Prosa ist gehetzt, vollgestopft wie ein muffiges und zu kleines Zimmer voller Nippes. Mit 50 oder 100 mehr Seiten hätte er in meinen Augen ruhiger ausarbeiten können, worum es ihm geht und seinen Charakteren mehr Spielzeit gönnen können. So bleibt keine Figur im Gedächtnis, alles verharrt angerissen und skizziert.

Dass man am Ende der Geschichte genauso schlau wie vorher ist, das ist da schon geschenkt.

Dafür, dass Maxim Biller in die Richtung anderer Autor*innen immer hart austeilt, ihnen Duckmäusertum, Bräsigkeit und „Schwanzlosigkeit“ vorwirft, da sie noch nichts erlebt hätten – dafür liefert er selber sehr schwach ab. Auch seine Sprache weiß leider nicht zu begeistern. Eine besondere Kreativität ist hier nicht erkennbar, störend für mich hingegen war so manches Mal ein Zuviel an (widersprüchlichen und) ungenauen Adjektiven. Ein Beispiel sei hier auf Seite 12 genannt:

Sollte Dima über seine fünf Jahre in Pankrác lachen? Sollten sie beide über den Tod ihres armen Vaters lachen, ihres geliebten, strengen und meistens viel zu großzügigen Taten?

(Biller, Maxim: Sechs Koffer, S. 12)

Für mich leider im Gegensatz zum Gros der Kritiker durch die Bank weg enttäuschend. Eine Zuerkennung des Deutschen Buchpreises 2018 für Sechs Koffer könnte ich leider nicht nachvollziehen.

Eine ebenfalls kritische Analyse und Einschätzung hat abseits von allen lobenden Bewertungen noch Marina Büttner von Literaturleuchtet geschrieben.

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Margaret Atwood – Hexensaat

Welch schönes Projekt: als Verneigung vor dem vor 400 Jahren verstorbenen Barden und ikonischen Dichter William Shakespeare schrieben beziehungsweise schreiben 8 Bestseller-Autoren unter dem Titel Shakespeare-Projekt Neuinterpretationen der Werke Shakespeares. Das Ganze erscheint bei uns nach und nach in schöner Ausstattung im Knaus-Verlag. Zu dem Autorenkreis zählen Größen wie Tracy Chevalier, Gillian Flynn, Howard Jacobson oder auch Jo Nesbø.

Als viertes Werk erschien nun das Werk Hexensaat der kanadischen Großmeisterin Margaret Atwood, das von Brigitte Heinrich ins Deutsche übertragen wurde. Grundlage ist Shakespeares Stück Der Sturm, der im Buch zum Prüfstein für den Regisseur Felix wird. Jener plante eigentlich eine furiose Inszenierung des Stücks, die ihn zum Gesprächsthema in der Theaterwelt machen und sein persönlicher Triumphzug werden sollte. Doch eine Intrige seines engsten Mitarbeiters verhinderte das. Gebrochen, durch den Tod seiner Frau und Tochter zerstört und von der Welt vergessen zieht er sich in eine bruchfällige Hütte zurück. Aufgeben will Felix dennoch nicht und sinnt auf Rache. Der Schlüssel hierfür ist eine Theatertruppe im Gefängnis, mit der er ebenjenen – wie könnte es anders sein – Sturm einstudiert, um sich an seinen Feinden zu rächen.

Folglich inszeniert Margaret Atwood eine Neuinterpretation jenes vielgespielten Werkes des Barden aus Stratford-upon-Avon, die auf drei Ebenen funktioniert. Da ist zunächst der klassische  Sturm mit seinen Motiven: der Insel, auf der Caliban, Prospero, Miranda und der Geist Ariel leben, der Schiffbruch, der neue Gestrandete bringt und all die Intrigen, die klassisch im Werk Shakespeares sind. Auch wenn man mit dem Opus des Barden nicht vertraut ist – durch einen raffinierten Kniff löst Margaret Atwood dieses Problem. Denn für seine Neuinszenierung muss Felix den Gefängnisinsassen jenes Werk auch erst einmal mit vielen – manchmal sogar etwas zu vielen – didaktischen Kniffen näherbringen. Neben dieser aktuellen Ebene ist da auch noch Felix selbst, der von der Welt vergessen gestrandet ist und nun seinen eigenen Sturm durchlebt und ein wahrer Prospero ist.

Margaret Atwood strukturiert ihre Neuinterpretation Hexensaat durch die klassischen fünf Akte nebst einem Epilog, der die Inhalt des Original-Sturms zusammenfasst und damit auch einen genauen Vergleich zwischen Interpretation und Originalquelle erlaubt. Insgesamt ein sehr gelungenes Remake (wenngleich Atwoods Gefängnisinsassen schon wirkliche Pappkameraden sind) – und ein frischer Zugang zu Shakespeares Werk, das den Staub von 500 Jahren locker wegpustet und vielleicht auch Atwood-Fans zu Shakespeare-Fans machen könnte und umgekehrt.

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