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Damiano Femfert – Rivenports Freund

Ein Arzt in einer Klinik im Nirgendwo mit einer Faszination für Schmetterlinge. Und ein gedächtnisloser Mann, der als Patient in das Krankenhaus jenes Arztes eingeliefert wird. Darum dreht sich das Debüt von Damiano Femfert. Eine moderne Adaption des Kaspar-Hauser-Mythos, die leider etwas blass und überraschungsfrei bleibt.


Es ist schon wieder fünfzehn Jahre her. Damals griff die Polizei nächtens in der Grafschaft Kent in England einen jungen Mann im Smoking auf. Völlig vom Regen durchnässt war er durch die Gegend geirrt, bis die Polizei den mysteriösen Patienten in ein Krankenhaus brachte. Die Geschichte erregte weltweit großes Aufsehen. Denn der Mann sprach nicht und schien sein Gedächtnis verloren zu haben. Lediglich als man den Patienten an das Klavier der Krankenhauskapelle setzte, spielte er einigen Zeitungsberichten nach plötzlich ein klassisches Konzert.

Das ist der Stoff, aus dem Legenden sind. Ein junger Mann ohne Erinnerung mit einer Inselbegabung. Ein großes Rätselraten um dessen Identiät und Spuren, die sich im Nichts verlieren. Dass sich die Geschichte am Ende als Fake herausstellte und es zu einigen Unstimmigkeiten in der Darstellung des Falls kam, tat der Faszination um diesen modernen Kaspar Hauser keinen Abbruch. Längst hatte der Fall um den von der Presse Piano Man getauften Mann eine eigene Dynamik bekommen.

Der Piano Man in S.

Auch Damiano Femfert scheint sich von der Geschichte des Piano Man und anderen Amnesiegeschichten Inspiration geholt zu haben. Denn die Geschichte, die er in Rivenports Freund erzählt, weist einige Parallelen zu dem aufsehenerregenden Fall in England auf. Allerdings spielt Femferts Geschichte nicht auf der britischen Insel, sondern 1952 im nördlichen Landstrich Argentiniens, direkt an der Grenze zu Chile. Dort liegt die Kleinstadt S..

In dieser nicht näher beschriebenen Kleinstadt versieht der verwitwete Arzt Rivenport seinen Dienst als Direktor des örtlichen Krankenhauses. Sein wahres Interesse gilt aber der Entomologie, genauer gesagt der Schmetterlingskunde. In der Klassifizierung und der Präparierung seiner gefangenen Exponate findet er die wahre Erfüllung. Sein großes Ziel ist die Einrichtung eines eigenen Schmetterlingsmuseums, für das er einen ehrgeizigen „Generalmarschplan“ verfolgt.

Aber auch im Norden Argentinien trifft Dürrenmatts Diktum zu, der einst bemerkte: „Je planvoller die Menschen vorgehen, desto wirksamer werden sie vom Zufall getroffen.“ Im Falle von Doktor Rivenport trägt der Zufall den Namen Kurt. Dieser Kurt wird nämlich in der argentinischen Wüste in der Nähe des Grenzübergangs nach Chile aufgefunden.

Kurt scheint das Gedächtnis verloren zu haben. Nackt hat man ihn in der aufgegriffen, Dokumente führte er keine mit sich. Auf Kontaktversuche reagiert er nicht, lediglich auf Deutsch angesprochen, äußert er den Namen Kurt. Ansonsten ist der erwachsene Mann wieder in das Stadium eines Kleinkindes zurückgefallen.

Obwohl zunächst völlig ablehnend, weckt der Fall des retardierten Patienten ohne Gedächtnis und Geschichte das Interesse von Rivenport. Denn als man den blonden Mann an die Orgel der kleinen Stadtkirche setzt, ereignet sich fast so etwas wie ein Wunder. Obwohl er sich kaum ausdrücken kann, spielt der Gedächtnislose plötzlich ein Konzert, das alle Anwesenden ins Staunen versetzt: Buxtehude, Pachelbel und Bach intoniert der Patient in einer Qualität, die so zuvor noch nie in S. zu hören war.

Wer ist Kurt?

In der Folge begeben sich Rivenport und wir Leser*innen mit ihm auf die Suche nach dem Geheimnis des Mannes. Woher kommt er? Was hat ihn in die Einöde Nordargentiniens verschlagen? Nachdem die Polizei sehr passiv bleibt, ergreift Rivenport selbst die Initiative und betätigt sich als Schmalspur-Ermittler.

Leider gelingt es Damiano Femfert dabei nicht, mich als Leser mit dem Geheimnis von Kurt auf irgendeine Art und Weise zu überraschen – [Achtung, wer das Buch noch nicht gelesen hat – es folgt ein Spoiler!]. Ein blonder, blauäugiger und deutsch sprechender Mann 1952 in Argentinien, der vor irgendetwas geflohen ist. Schon bei der Lektür des Klappentextes weckte das bei mir Assoziation zu der in Südamerika endenden Rattenlinie im Zweiten Weltkrieg. Ebenso kam mir unmittelbar das Buch Das Verschwinden des Josef Mengele von Olivier Guez in den Sinn. Und genauso, wie ich mir das schon vor Beginn des Buchs ausmalte, kommt es dann auch. Hier platzt keine Bombe, hier explodiert höchstens ein Knallbonbon.

Schade ist es auch, dass die Fragen und Erkenntnisse, die Rivenport aus dem Geheimnis Kurts ziehen könnte, auf ein paar wenigen Seiten abgearbeitet werden. Die Geschichte des retardierten Patienten hätte zu einer goßen Reflektion eingeladen: Wie gehen wir miteinander um eingedenk dessen, was oder was wir nicht übereinander wissen? Wann hat man Schuld verbüßt? Kann es überhaupt so etwas wie Sühne geben? Viele Fragen, die sich angeboten oder fast aufgedrängt hätten. Leider reizt Femfert dieses seiner Geschichte innewohnende Potenial überhaupt nicht aus.

Statt sich den Überlegungen zu stellen und verändert aus der erlebten Gschichten herauszugehen, kehrt Rivenport wieder zu seinen Schmetterlingen zurück. Der Generalmarschplan wartet ja schließlich nicht. Der Erkenntnisgewinn für den Doktor (und auch für mich) beläuft sich eher auf null.

Nicht genutzte Chancen

Damiano Femfert vergibt in Rivenports Freund die Chance, den Text mit stärkerer Bedeutung und philosophischer Tiefe anzureichern. Stattdessen begnügt sich Femfert damit, einfach seine Geschichte zu erzählen.

Das ist ja auch durchaus legitim, allerdings gibt es auch hier neben dem etwas zähen Tempo in der Mitte des Buchs auch andere leichte Schwächen, die für mich ins Gewicht fallen.

Das Personal, mit dem Femfert seinen Roman besetzt, bleibt recht eindimensional. Abgesehen von Rivenport und Kurt bekommt keine der Figuren Tiefe. Die Polizisten sind faul, die Nonnen Frömmlerinnen, die Zugehfrau ein Hausdrache, die Kollegen im Krankenhaus haben nicht viel mehr als Namen abbekommen. Nach einem Bordellbesuch winselt und heult Rivenports verheirateter Kollege beispielsweise und rennt die ganze Zeit im Kreis (S. 207). Ein bisschen raffinierter dürfte die Charakterisierung der Figuren für meinen Geschmack da schon ausfallen.

Und auch die Sprache Femferts wirkt stellenweise etwas abgegriffen. So macht man sich im Buch gegenseitig die Hölle heiß, Menschen taumeln wie Motten in das Licht, der Blondschopf gibt dem Doktor Rätsel auf, man erlebt verflixte Morgen, im Verhör nimmt Rivenport Kurt hart ran. Das kann man alles so schreiben. Für mich, der ich eine gehobene Sprache, frische Formulierungen und kreative Sprachbilder schätze, war das Buch in dieser Hinsicht leider etwas enttäuschend.

Hätte Femferts Buch die Fragen nach Schuld und Sühne vertieft behandelt oder das Thema der Metamorphose im Buch weiterverfolgt (Schmetterlinge als Leitmotive, Menschen, die sich als etwas entpuppen und Entwicklungen durchmachen, etc.), dann wäre sein Debüt für mich überzeugender ausgefallen, als es jetzt der Fall ist. Nichtsdestotrotz stellt sich mit Damiano Femfert hier ein Autor vor, der als Erstling einen soliden Unterhaltungsroman und eine moderne Kaspar-Hauser-Adaption vorgelegt hat und der sicher noch von sich reden macht.

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Katerina Poladjan – Hier sind Löwen

Von der Suche nach den eigenen Wurzeln, dem Völkermord an den Armeniern und der hohen Kunst der Restauration erzählt Katerina Poladjan in ihrem Roman Hier sind Löwen. Ein widerspenstiges Buch mit einer ebenso widerspenstigen Protagonistin.


Triumphierend ließ sich Ano wieder auf die Matratze fallen. „Du widersprichst dir.“

„Ja.“

Ich widersprach mir. Auch Danil sagte oft zu mir, du widersprichst dir, du hast gleichzeitig mehrere Gedanken, die nicht zusammenpassen.

Poladjan, Katerina: Hier sind Löwen, S. 218

Helen Mazavian ist in der Tat eine widersprüchliche Heldin. Ein Restaurationsauftrag bringt sie nach Jerewan, die Hauptstadt Armeniens. Dort will sie ein Heilevangeliar restaurarieren und die besondere Kunst der lokalen Buchmacherei erlernen.

Doch es ist nicht nur das Evangeliar, das sie reparieren will. Auch die eigenen Familiengeschichte will sie erforschen, Leerstellen auffüllen und die eigenen biographischen Bruchstellen kitten. Denn neben Russland und Deutschland hat ihre Familie auch in Armenien Wurzeln, über die Helen und ihre Mutter Sara nur wenig wissen. Die Buchrestauratorin will den Aufenthalt im kleinen Land als auch zu einer Art Provenienzforschung in eigener Sache nutzen. Work & Research in Armenien.

Doch die komplizierte und so kunstvolle Arbeit am Evangeliar tritt immer weiter hinter Helens Familienforschung zurück. Fremd im Land lässt sie sich treiben, beginnt eine Affäre, wird auf Familienfeiern eingeladen und sucht doch nur nach ihren Wurzeln. Dabei lernt sie ein Land kennen, das in seiner Zerrissenheit der Seelenlandschaft Helens ähnelt.

Ich weiß, dass viele viele [Armenier] ausgewandert sind, nach Frankreich, nach Amerika, in den Libanon, nach Russland. Es gibt ein armenisches Paradox. Jeder Armenier in der Welt könnte nach Armenien zurückkehren, aber sie denken nicht daran, es zu tun. Sie schicken Geld und sehen aus der Ferne zu, wie das Land vor die Hunde geht.

Poladjan, Katerina: Hier sind Löwen, S. 152

Zwei Kinder auf der Flucht

In diese Geschichte hinein schneidet Katerina Poladjan eine weitere Geschichte, die mit dem von Helen zu restaurierenden Heilevangeliar zusammenhängt. Denn dieses befand sich einst im Besitz einer armenischen Familie, die bis auf zwei Kinder dem Völkermord an den Armeniern zum Opfer fiel. Aus Sicht der beiden Kinder erzählt Poladjan von diesem Genozid, dem zwischen 300.000 und 1.500.000 Menschen zum Opfer fielen, und der bis heute von der Türkei nicht anerkannt wird.

Die Flucht der beiden und der Kampf um das Überleben wird von ihr in kleinen Sequenzen geschildert, die manchmal fast einen bukolischen Ton aufweisen, etwa dann, wenn die beiden kleinen Kinder unter einem Strauch Zuflucht suchen. Was es bedeutet, Familie und die Heimat hinter sich zu lassen, das vermittelt die Autorin eindrücklich.

Das Heilevangeliar, das die beiden mit sich durch die karge und menschenleere Landschaft Armeniens schleppen, wird dabei für die Kinder auch zu einem Überlebensinstrument. Egal ob Entscheidungshilfe oder Kinoersatz – die gebundenen vier Evangelien begleiten die Kinder und finden schlussendlich auch zu Helen.

Ähnlich wie es Nino Haratischwili im Falle Georgiens gelingt, holt auch Katerina Poladjan hier ein uns fernes Land und seine Geschichte mithilfe der Literatur in unser Bewusstsein. Wer könnte schon vor der Lektüre von Hier sind Löwen zweifelsfrei sagen, wie die Hauptstadt Armeniens heißt oder wo das Land überhaupt liegt? Mit ihrer Prosa ruft uns Poladjan dieses in der Vergangenheit so gematerte Land und seine wechselvolle Geschichte wieder in Erinnerung. Und sie setzt nicht zuletzt der Kunst des Büchermachens und Bücherrestaurierens ein Denkmal.


Eine weitere Besprechung dieses Titels findet sich auf dem famosen Blog Kulturgeschwätz von Katharina Herrmann. Sie hat sich hier mit dem Buch und seinen Struktur im Besonderen und den vielen Bedeutungsebenen und Bezügen auseinandergesetzt.

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Ocean Vuong – Auf Erden sind wir kurz grandios

Einen Brief schreibt man ja eigentlich, damit er gelesen wird. Der Sender hat eine Botschaft, die er dem Empfänger mitteilen möchte. So simpel ist zunächst einmal das grundlegende Kommunikationsmodell. Doch was ist, wenn ein Sender einen Brief schreibt mit dem Wissen, dass ihn der Empfänger gar nicht lesen kann oder wird? Dann entsteht eine Unwucht im Kommunikationsmodell – oder im Fall von Ocean Vuong erstaunliche Literatur. Denn das lyrische Ich in Vuongs Debüt beschließt, einen Brief an die eigene Mutter zu verfassen, die er im Lauf dieses Brief-Romans immer mit „Du“ adressiert. Doch die vietnamesische Mutter ist des Englischen nicht mächtig, weshalb sie den Brief nicht lesen wird. Im Wissen um diese Nichtkommunikation entsteht so ein Dokument, das ich als Akt der Befreiung und als radikale Selbstentblößung las.


Es ist eine allseits beliebte Frage, die beim Reden über Bücher zumeist als erstes gestellt wird: Worum geht es in dem Buch? Auf Erden sind wir kurz grandios macht es den Leser*innen da alles andere als einfach. Denn die Themen in Vuongs Buch sind ebenso vielfältig wie kaum kategorisierbar.

Da ist zum einen das Grundgerüst eines Briefs an die eigene Mutter, der sich zu einem Familiengemälde über drei Generationen entwickelt. Denn die Großmutter Lan und die Mutter des Erzählers lebten in Vietnam, ehe sie die Flucht in die USA antraten. Dort wächst dann der Erzähler heran, der mit der amerikanischen Kultur und Sprache sozialisiert wird. Wurzeln schlägt er dort aber keine, ist vielmehr das Opfer von Ausgrenzung und Schikane.

Blick auf die USA – und auf Vietnam

Dann ist das Buch aber auch ein eindringliches Portrait der USA im 21. Jahrhundert mit einem genauen Blick auf diese Menschen, die abseits der Ballungszentren leben und oftmals vergessen werden (man denke nur an Hillbilly Elegie von J. D. Vance). Die massenhafte Opioidkrise, die Millionen Tote forderte ist genauso ein Thema wie die Frage, wer in der weißen Mehrheitsgesellschaft der USA Repräsentation genießt.

Sein Buch ist eine präzise Auslotung des amerikanisch-vietnamesischen Verhältnisses, das so manches Mal erstaunliche Parallelen hervorbringt.

1997: Tiger Woods [der wie der Erzähler über vietnamesische Wurzeln verfügt] gewinnt das US-Masters, seinen ersten großen Titel im professionellen Golf.

1998: Vietnam eröffnet seinen ersten professionellen Golfplatz, angelegt auf einem ehemals von der U.S. Air Force zerbombten Reisfeld. Eines der Grüns entstand durch die Aufschüttung eines Bombenkraters.

Vuong, Ocean: Auf Erden sind wir kurz grandios, S. 74

Denn allmählich setzt in der amerikanischen Literatur eine spannende Entwicklung ein. Migrantische Stimmen werden lauter, die die Beziehung Vietnams zu Amerika nun auch aus der Sicht des damaligen Kriegsgegners beleuchten. So schaffen sie eine dringend nötige Gegenperspektive zu einer Erzählung, die bislang rein amerikazentriert stattfand. Vor allem Viet Thanh Nguyen und seine Bücher (Der Sympathisant bzw. Die Geflüchteten) wäre in dieser Reihe zu nennen, in der nun auch Ocean Vuong steht.

Dokument einer Selbstermächtigung

Doch nicht nur ein Blick auf die vietnamesische und amerikanische Gesellschaft ist der Roman von Ocean Vuong. Der Brief ist auch ein eindringliches Dokument einer Selbstermächtigung.

Denn Vuong hat nicht nur mit seiner migrantischen Identität zu kämpfen. Auch ist er homosexuell und berichtet von seinem Coming Out bzw. seiner sexuellen Initiation. Einmal bezeichnet sich der Erzähler auch als „queere, gelbe Tunte“ (S. 177), also ein doppelt ausgestoßener Mann, der auch an dieser Front um seine Selbstbestimmung kämpfen muss.

Umso erstaunlicher, wie souverän das lyrische Ich die unsichtbaren Fesseln abgelegt hat und sich radikal selbst entblößt. Die Tatsache, dass seine Mutter den Brief nie wird lesen können, ist in dem Falle eine große Befreiung. Immer wieder unterbrechen Reflexionen sein Schreiben, das sich auch klar erkennbar auf Denker*innen wie Roland Barthes oder Simone Weil beruft. Gerade Roland Barthes Tagebuch der Trauer, verfasst nach dem Tod von dessen Mutter, wird zum Auslöser, den Brief zu verfassen.

Ich weiß nicht, ob du glücklich bist, Ma. Ich habe nie gefragt.

Vuong, Ocean: Auf Erden sind wir kurz grandios, S. 43

Hier stellt sich ein Erzähler den Wunden der eigenen Vergangenheit und beschäftigt sich mit diesem akuten Thema Herkunft.

Die Frage der Identität

Apropos Herkunft: dass gerade Saša Stanišić , Verfasser eben jenes Werks, auf der Rückseite des Buchs mit einem Blurb vertreten ist, ist kein Wunder. Denn beiden Autoren ist viel gemein. Zum einen die migrantische Identität, die für ihre Prosa entscheidend ist. Und zum anderen auch die Herangehensweise an das Thema, das man kaum linear und chronologisch bezwingen kann. Wer bin ich, wo komm ich her, was macht mich aus? Diese Frage ist in der Literatur dies- und jenseits des Atlantiks von immer größerer Brisanz, je mehr das Thema Migration an Bedeutung gewinnt.

Zudem spielt in meinen Augen auch eine Rolle, dass sich junge Migrant*innen langsam auch mehr Repräsentanz in der Literatur erkämpfen. Früher marginalisierte Gruppen bekommen eine Stimme, bringen sich in die Diskurse ein und bereichern so die Literatur. Wenn man der These folgt, dass Literatur immer auch Gedächtnis sei, so erweitern wir unseren Wissensspeicher gerade durch solche Stimmen wie Stanišić oder Vuong immens. Eine Entwicklung, die mehr als notwendig ist.

Fazit

Bleibt nur noch die eingangs gestellte Frage, die ich auch nach der vollendeten Lektüre von Auf Erden sind wir kurz grandios nicht beantworten kann. Vuongs Buch ist eine wilde Mischung aus Memoir, Briefroman, Familiengeschichte, Coming Out, Gesellschaftsbetrachtung, Totengesang und dergleichen mehr (toll übersetzt durch Anne-Kristin Mittag).

Ocean Vuongs prall geschnürtes Bündel mit der etwas schwammigen Genrebezeichnung Roman wird durch einen Faden zusammengehalten, der um alle Themen geschlungen ist. Und dieser Faden heißt Identität. Alle Passagen sind von Wunsch nach Erinnerung und der Frage der Herkunft durchdrungen. Das macht dieses Buch so aktuell und notwendig, mag es auch manchmal sperrig oder widerborstig erscheinen. Aber hier erhebt einer seine Stimme, dem man unbedingt zuhören sollte, möchte man die Probleme junger Migranten in den USA verstehen.


Weitere Rezensionen zu dem Titel gibt es unter anderem bei Poesierausch, auf Zeit Online sowie Literaturleuchtet und Lesen in vollen Zügen.

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Auf anderen Wegen

Jackie Thomae – Brüder

Ist es Schicksal oder sind nur wir allein für unser Leben verantwortlich? Wie prägen uns unsere Wurzeln? Was beeinflusst unser Leben? Was macht uns zu den Menschen, die wir sind? Die Fragen stellt sich wohl jeder Mensch an bestimmten Scheidepunkten seines Lebens. Die Antworten, die daraus erwachsen, reichen von banalen Feststellungen bis hin zu tiefgehenden philosophischen Gedankengängen, die man sich machen kann.

Auch Jackie Thomae hat sich diesen Fragen gestellt und liefert in Brüder den Versuch einer Antwort, die einen guten Mittelweg zwischen den beiden obigen Polen findet. Vor allem der Aufbau ihrer Versuchsantwort ist spannend.

Zwei Brüder, zwei Leben, zwei Welten

Wie wäre es, wenn man einen Bruder hat, von dem man gar nichts ahnt? Woraus der durchschnittliche ARD-Degeto/ZDF-Fernsehredakteur eine Schmonzette gestrickt hätte, die gerne in fotogener skandinavischer oder alpiner Welt abgedreht worden wäre, so wählt Jackie Thomae einen anderen Weg. Sie erzählt zunächst von Michael, genannt Mick, der mit seiner Mutter in Ost- und dann Westberlin aufwächst. Beginnend 1985 schaut Jackie Thomae auf Micks Leben, der sich in Slacker-Manier durch sein Leben schummelt. Mal schmuggelt er als Muli Drogen nach Berlin, dann betreibt er mit Freunden eine Bar/Disco/Club, die ordentlich Profit abwirft. Aber einen wirklichen Plan für sein Leben, den hat Mick nicht.

Ganz anders da Gabriel, den wir im zweiten Teil des Buchs kennenlernen. Er arbeitet als Architekt, entwirft sowohl für arme Slum-Bewohner als auch für reiche Autokratien Gebäude und Wohnstätten. Zusammen mit seiner Frau Fleur lebt er in London eigentlich ein Bilderbuchleben. Kind, Villa, Erfolg – alles da. Doch auch Gabriels Leben ist nicht so glatt wie das nach außen gepflegte Bild. Glatt und reibungslos, das sind allenfalls die Baupläne, die er entwirft.

Von ihrer Verwandtschaft ahnen beide Männer lange Zeit gar nichts. Der eine versucht sich in London zu assimilieren, der andere taumelt durch ein schmutziges Berlin, ohne viel zuwege zu bringen. Ihren Vater Idris, gemeinsamer familiärer Nenner der beiden, lernen wir als Leser*innen dann im Mittelteil des Buchs kennen. Dieser kam als junger Student aus dem Senegal in die DDR. In Leipzig durfte er mit anderen Afrikanern ein Studium absolvieren, der sozialistische Bruderstaat wollte sich von seiner besten Seite zeigen. Aus seiner Studienzeit in der Deutschen Demokratischen Republik gingen zwei Kinder mit zwei Frauen hervor. Ebenjener Gabriel und Mick, zu denen er dann aber in der der Folge keinen Kontakt mehr pflegte, sondern zurück nach Afrika ging.

Ein Triptychon

Wie gestaltet Jackie Thomae ihre Geschichte nun aus? Sie wählt als Bauplan ihrer Erzählung die Form eines klassischen Triptychons. Zunächst erzählt Thomae im Kapitel Der Mitreisende von Mick, ehe sie sich im Mittelteil Intermezzo Idris zuwendet. Im Anschluss bildet Gabriel im Teil Der Fremde den letzten Teil der Familienaufstellung, ehe ein Epilog im Jahr 2017 Brüder vollendet.

Auch wenn die Form eines Triptychons eine große Achsensymmetrie und Harmonie in der Erzählung naheliegt – abgesehen von der Seitenaufteilung ist diese Harmonie nicht gegeben. Im Falle von Mick erzählt sich Jackie Thomae in personaler Erzählperspektive grob chronologisch durch dessen Leben.

Bei Gabriel hingegen wählt sie eine völlig andere Erzählweise. Immer abwechselnd berichten Gabriel und seine Frau Fleur aus Ich-Perspektive aus ihrem (Ehe)Leben und machen so gegenläufige Betrachtungsweisen offenbar. Das ist in meinen Augen deutlich besser gelungen und besitzt mehr Tiefenschärfe, was aber zugleich eine gewisse Unwucht ins Buch hineinbringt. Gegen den starken Gabriel-Teil fällt der Mick-Teil doch ab (was auch damit zu tun haben könnte, dass ich Gabriel mit der gewählten Erzähltechnik deutlich näher komme).

Abgesehen von dieser gestalterischen Unwucht ist Brüder ein Roman, der jene eingangs erwähnten Fragen elegant und en passant abhandelt. Immer bleibt Jackie Thomaes Buch gut lesbar und treibt die Handlung voran. Auch die Fragen von schwarzer Identität behandelt Brüder, ohne groß aus dem erzählerischen Tritt zu kommen (was auch kongenial auf dem Cover wieder aufgegriffen wird). Alles fügt sich gut ein. Die Entscheidung, das Buch für den Deutschen Buchpreis 2019 zu nominieren, ist durchaus nachvollziehbar.

Mit Brüder gelingt Jackie Thomae ein wirklich unterhaltsamer, phasenweise wirklich einsichtsreicher und bestechender Familienroman der etwas anderen Sorte. Das Buch ist nicht unbedingt die Antwort, aber eine lesenswerte Ergänzung zu Paul Austers Lebensstudie 4,3,2,1.


Andere Meinungen und Eindrücke zu Jackie Thomae gibt es unter anderem auch hier bei Gérard von Sounds&Books, bei Deutschlandfunk Kultur und bei SWR 2 Kultur.

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Zinzi Clemmons – Was verloren geht

Was bleibt von einem Leben? Wie umgehen mit Trauer, Verlust und Leid? Wie definiert man sich als eine Frau zwischen den Ausprägungen Schwarz und Weiß in einer Gesellschaft? Fragen, mit denen sich Zinzi Clemmons in ihrem Roman Was verloren geht beschäftigt.


Unsere Welt basiert stark auf Dichotomien. Gut oder Böse, Jung oder Alt, Lesenswert oder Nichtlesenswert, Schalke oder Dortmund, Schwarz oder Weiß. Klare Abgrenzungen hin zu einer von beiden Richtungen erleichtern uns die Einordnung, machen alles übersichtlicher und vermeintlich einfacher. Doch wie lebt es sich in den Zwischenräumen, in denen man Dinge nicht so einfach zuordnen kann? Das erfährt Thandi, die Protagonistin in Zinzi Clemmons Buch, am eigenen Leib. Bei ihr führt die Aussage einer Mitschülerin, Thandi sei ja gar keine „richtige“ Schwarze, zu einer Identitätskrise.

Ein Leben dazwischen

So stammt Thandis Mutter aus Johannesburg in Südafrika, ihr Vater hingegen ist New Yorker. Sie wächst zwischen zwei Kontinenten und zwischen zwei Identitäten auf, was zur Folge hat, dass sie sich nirgends zugehörig fühlt.

Aber wenn ich mich selbst als schwarz bezeichnete, schauten meine Cousins mich komisch an. Sie sind das, was man in Südafrika Coloured nennt – gemischter Abstammung – und mein Vater ist ein hellhäutiger Schwarzer. Ich sah wie meine Verwandten aus, aber dass ich mich selbst als Schwarze bezeichnete, fanden sie anstößig. Amerikanische Schwarze waren cool, südafrikanische Schwarze waren gewöhnlich, aber gefährlich. Gerade das wollten sie nicht sein.

Die amerikanischen Schwarzen waren mein prekäres Homeland – weil ich so hellhäutig war und Wurzeln in einem fremden Land hatte, gehörte ich in keiner Community so richtig dazu. Außerdem hatte meine Familie Geld und alle schwarzen Jugendlichen in meiner Stadt kamen aus ärmeren Gegenden. Ich war mit den Jugendlichen befreundet, die in meiner Straße lebten und in meinen Leistungskursen waren – allesamt weiß. Ich saß zwischen allen Stühlen.

Clemmons, Zinzi: Was verloren geht, S. 34 f.

Wie definiere ich mich und wo will ich dazugehören? Diese Fragen, die sich spätestens in der Pubertät viele junge Menschen stellen – bei Thandi ist alles noch ein wenig komplizierter, was im Buch nachvollziehbar dargestellt wird.

So arbeitet sich der Roman an den Fragen von gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen, Rassismus und der Gegenüberstellung von afrikanischen und amerikanischen Reaktionen auf dieses Leben zwischen Schwarz und Weiß ab. Zudem ist Was verloren geht auch ein eindrückliches Dokument der Trauer und des Verlustes. Denn auch die Erfahrungen des Todes von Mutter und Vater und deren nunmehriger Abwesenheit im eigenen Leben sorgen für weitere Identitätskrisen.

Dass der Roman bei aller Problemzentrierung und negativer Themensetzung nicht zu schwer wird, das liegt auch an der gewählten Erzählweise. Denn Zinzi Clemmons erzählt in Fetzen.

Eine Erzählung in Fetzen

Trotz der knapp 240 Seiten kann man Clemmons Buch unglaublich schnell lesen (was man nicht tun sollte, es entgingen einem viele nachdenkenswerte Gedanken, aber es ist möglich). Viele Seiten sind gerade einmal zu einem Drittel bedruckt. Dies liegt daran, dass Zinzi Clemmons schreibt, wie im Pointillismus gemalt wurde. Immer wieder kleine Tupfer, Skizzen, Erlebnisse und Eindrücke, die sich zu einem großen Ganzen verbinden. Dabei ist es nicht nur Prosa, die in den Text einfließt. Auch Blogbeiträge, Fotos, mathematische Darstellungen und Tabellen finden sich im Buch und ergänzen und spiegeln Thandis Gefühlswelt und ihr Erleben.

Diese „Remix“-Technik oder fetzionale Erzählweise (für diesen Neologismus möchte ich fast Markenschutzrechte beantragen) macht aus der ansonsten etwas unspektakulären und nicht besonders kunstfertigen Prosa (Übersetzung durch Clara Drechsler und Harald Hellmann) dann wieder etwas Besonderes.

Auch kann die Lektüre von Was verloren geht etwas sensibilisieren und Hintergrunderständnis für viele gesellschaftliche Probleme und Spannungen in den USA liefern. Und nicht zuletzt bietet Clemmons Buch auch Erklärungsansätze oder Muster für Fälle wie den von Rachel Dolezal. Diese hatte sich jahrelang als Schwarze ausgegeben und für Bürgerrechte von People of Colour gekämpft. Erst nach Jahren flog der Schwindel um ihre Identität auf. Eine kuriose Geschichte, die sich nach Clemmons Buch gar nicht mehr so kurios liest.

Der Fall Rachel Dolezal. Screenshot NZZ

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